2007-01-03 

Dabeisein ist nicht alles

Jungle World Nummer 01 vom 3. Januar 2007

Ohne radikale Kritik ist Praxis nichts als Aktivismus. von der gruppe top

Die deutsche radikale Linke scheint in ihrem Element: Aufrufe zu den Protesten gegen den G 8-Gipfel in Rostock/Heiligendamm stehen an. Konferenzen haben bereits stattgefunden, Flugblätter kursieren, und erste Plakate und Aufkleber hängen an den Häuserwänden. Verschiedene Bündnisse haben sich gebildet: interventionistische, revolutionäre, gewerkschaftliche und kirchliche Zusammenschlüsse, die den »Herrschenden« in diesem Jahr den Garaus machen wollen. Im Mittelpunkt der Debatten steht die Möglichkeit von Praxis, Protest. Dies ist nicht weiter verwunderlich. In Zeiten von auf »Events« bezogenem, erhöhtem Aktivismus neigt die radikale Linke seit jeher dazu, inhaltliche Brüche und Ungereimtheiten ihrer Mobilisierungsfähigkeit zuliebe hintanzustellen. Kritiker dieser zweckoptimistischen und vereinfachenden Weltsicht werden oft als Störenfriede angesehen, die Unruhe in die Szene bringen und diese lähmen würden.

Weil Protest an und für sich aber nicht automatisch emanzipatorisch ist, sondern sich eben auch zutiefst reaktionär artikulieren kann, ist eine radikale Linke zu mehr als bloßer »Intervention« verpflichtet. Denn es geht eben nicht ums »Dabeisein« ohne die kritische Bestimmung des eigenen Standpunktes. Wer nicht Islamisten, Neonazis, landlose Bauern, Hartz-IV-Protestler und Schwarzfahrer zu einer subversiven Masse verwursten will – und sie dadurch gleich macht, weil sie irgendwie alle etwas gegen den Neoliberalismus haben –, dessen Bilanz muss nüchtern ausfallen. Radikalität in die Auseinandersetzungen um die G 8 einzubringen, zielt auf mehr ab als auf die zum Ritual verkommende Geste des Protestes. Statt alles der Strategie unterzuordnen, geht es um die adäquate Erkenntnis gesellschaftlicher Herrschaft und um die Bestimmung ihrer vernünftigen Aufhebung.

Gegen die populäre Meinung innerhalb der globalisierungskritischen Bewegung, die Gipfel seien »illegitim« im Sinne von »undemokratisch«, gilt es mit Marx die Wirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft zur Kenntnis zu nehmen: Nicht einfach eine Bande von Raubrittern, sondern die Repräsentanten von Rechtsstaaten mit Verfassungen und anerkannten Legitimationsverfahren treffen dort zusammen. Als Personen im juristischen Sinne können Staaten als »Freie« und »Gleiche« sich – der Logik folgend – legitimerweise auch zu informellen Treffen verabreden oder als Vertragspartner begegnen. Statt alternative Demokratie- und Rechtsmodelle zu erfinden, sollte eine emanzipatorische Bewegung vielmehr erkennen, dass sich Herrschaft und Ausbeutung im Kapitalismus nicht primär gegen Recht und Demokratie, sondern innerhalb dieser Formen vollziehen.

Diese Einsicht hat für den Aufruf zum Protest gegen den G 8-Gipfel weit reichende Folgen. Zuallererst ist damit die klare Absage an ökonomistische und personalisierende (Staats-)Vorstellungen verbunden: Die eine will den Staat unmittelbar als reines Werkzeug der ökonomisch herrschenden Klasse entlarven – um im Zirkelschluss die »richtige« Anwendung dieses Instruments für das »Allgemeinwohl« zu fordern. Die andere begreift den Zustand der Welt primär als Ergebnis individuellen Fehlverhaltens einzelner Kapitalisten und Politiker, die aus Gier, Korruptheit oder fehlendem Verantwortungssinn handeln. Spielarten dieser ideologischen Formen reichen vom Antiamerikanismus bis zum antisemitischen Stereotyp.

Weniger reaktionär, aber ebenso problematisch verhält es sich mit der moralischen Verurteilung bestimmter Konzerne und »Multis«, deren Praktiken oft zu Recht als besonders widerlich gebrandmarkt werden. Dabei bleibt aber oft die Kritik an der »ganz normalen« Ausbeutung (die alle Kapitalisten betreiben) aus. Diese Auffassung verkennt zudem, dass selbst die Kapitalisten durch die Konkurrenz von der sachlichen Gewalt der Kapitalverwertung getrieben sind. Irrsinnig wäre es deshalb, etwa gegen die »Macht der Multis« den »fairen Wettbewerb« einzufordern oder nach dem Motto groß = böse und klein = gut das Kapital nach Sympathiewerten einzuteilen.

Angesichts der Existenz dieser gerade im Hinblick auf Events wie G 8 mit Vehemenz vorgetragenen falschen, verkürzten Kapitalismuskritik, die ja durch aus Schnittstellen zum Weltbild eines mo dernen Neonazis aufweist, halten wir es nach wie vor mit den Aussagen, die wir bereits als Gruppe »Kritik & Praxis Berlin« formuliert haben: »Anstelle das Verschwinden von Antisemitismus und Antiamerikanismus als a priori auszuweisen, bevor kommunistische Praxis überhaupt erst möglich sei, müsste sich gerade aus deren Existenz jede Notwendigkeit ableiten, die Kapitalismuskritik praktisch werden zu lassen. Dies setzt natürlich eine gewisse Ernsthaftigkeit voraus, mit dem Kapitalismus als einer unzeitgemäßen, primitiven Produktionsweise tatsächlich Schluss zu machen, welche die Menschheit permanent in Katastrophen stürzt.« (Phase 2 20/06)

Der »Sprung ins Reich der Freiheit« setzt den selbstreflexiven Bruch mit dem sozialdemokratischen Heilsversprechen ebenso voraus wie jenen mit dem Glauben an einen historischen Automatismus, demzufolge der Kapitalismus »aus sich selbst« heraus notwendig zusammenbrechen müsse. Es bleibt festzuhalten: Der Kapitalismus ist ein gesellschaftliches Verhältnis – von Menschen hervorgebracht und als solches auch von den Menschen überwindbar. Die Kritik an den kapitalistischen Produktionsverhältnissen muss insofern aber auch immer eine Kritik an den ideologischen Denkformen im pli zieren.

Wir, als frisch gegründetes Nachfolgeprojekt der aufgelösten Gruppe »Kritik & Praxis Berlin«, begreifen unseren Namen als Verpflichtung: »Theo rie. Or ga ni sa tion. Praxis (TOP)«. Deshalb sehen wir die Aufgabe einer antinationalen, emanzipatorischen Linken unter anderem auch darin, sich in diese Kämpfe hineinzubegeben, ohne dabei jedoch jeden Blödsinn mitzumachen. Wir begreifen den Aufruf zum Protest gegen den G 8-Gipfel als Möglichkeit, unsere Kritik an dem falschen Ganzen denjenigen nahe zu bringen, die für uns erreichbar sind.

So verständlich der Wunsch nach Abgrenzung und Rückzug angesichts mancher Standpunkte in der Antiglobalisierungsbewegung auch sein mag: Bei aller Kritik am Zustand der »Bewegung« findet sich dort doch zumindest ein Resonanzboden für unsere Überzeugungen. Wer nicht vor den Zuständen kapitalistischer Normalität kapitulieren will, ist zum Handeln verpflichtet. In diesem Sinne werden wir uns an den Protesten beteiligen.

Der Text fußt auf einem gemeinsamen Aufruf der Gruppen Antifa (F), Redical M und TOP Berlin