2007-11-22 

Mona Bricke/ Alexis Passadakis: Die lästige Basis

Deutsche NGOs befinden sich in einer tief greifenden Krise, denn sie
suchen den Kontakt zu lokalen Gruppen und Bewegungen nicht mehr. Also:
radikal umstrukturieren!

In Deutschland befinden sich Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in einer
tief greifenden politischen Krise. Eine Ursache dafür ist ihre mangelnde
Fähigkeit, viele Menschen zu mobilisieren.

Zwei Szenen aus der jüngsten Vergangenheit illustrieren das Problem: So
mäanderten im Juni diesen Jahres entschlossene Menschenmengen durch
blühende Felder vorbei an überforderten Polizisten auf die Zufahrtsstraßen
zum Tagungsort Heiligendamm, um dort gegen die als globale Ungerechtigkeit
wahrgenommene Politik der G-8-Regierungen zu protestieren. Bei den
Demonstranten handelte es sich vor allem um Mitglieder von mehr oder minder
radikalen Basisbewegungen, Parteijugendorganisationen ebenso wie es auch
viele kaum organisierte Einzelpersonen gab. Vertreter von NGOs fanden sich
kaum unter ihnen.

Bild: Daniel Rosenthal

Wenige Wochen zuvor, nämlich im April dieses Jahres, ging am ehemaligen
Regierungssitz in Bonn der sogenannte G-8-Dialog mit der Zivilgesellschaft
über die Bühne – weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit. Bei dieser
Konferenz, die von der NGO-Plattform “Forum Umwelt & Entwicklung” gemeinsam
mit der Bundesregierung ausgerichtet worden war, trafen die
G-8-Verhandlungsführer (auch Sherpas genannt) auf ausgewählte Vertreter
internationaler NGOs.

Während der Sitzung, in der NGO-Vertreter ihre Anliegen vorbrachten, gab
es nur einen einzigen Zwischenruf aus dem handverlesenen Publikum. Als der
russische Sherpa ankündigte, Russland werde zum Wohle des Klimas 26 neue
Atomkraftwerke bauen lassen, rief ein russischer Aktivist: “Erinnert euch
an Tschernobyl!” Ansonsten gab es lediglich kritische Mahnungen von
NGO-Seite am G-8-Programm, und am Ende ging man zufrieden auseinander.

Angesichts von Klimakatastrophe und der neuen Dynamik sozialer Spannungen
im Kontext des Aufstiegs der Schwellenländer, bleibt unklar wie NGOs eine
soziale und ökologische Transformation tatsächlich politisch durchsetzen
wollen. Denn derzeit klaffen Analyse und politische Praxis weit
auseinander: Während die Gäste aus dem Süden beim Alternativgipfel in
Rostock betonten, dass dies nur mit Druck von Basisbewegungen machbar sei,
verließen sich die hiesigen NGOs im Wesentlichen darauf, mit der G 8 und
der Bundesregierung ins Gespräch zu kommen oder zu bleiben.

Keine Frage: Die Vermittlung von alternativer Expertise in die politischen
Institutionen ist wichtig. Aber diese Arbeit ist nur gesellschaftlich
wirksam, sofern NGOs imstande sind, ein politisches Kraftfeld aufzubauen.
Ohne eine breite Basis von Aktiven ist dies jedoch kaum denkbar. Trotzdem
sehen viele NGOs Bewegungen und lokale Gruppen häufig nur als Quelle für
Spenden an, also als so notwendiges wie lästiges Übel. Für die wenigstens
sind sie Inspirationsquelle oder gar zentraler Rückhalt.

Nicht zuletzt aus diesem Grund befinden sich die deutschen NGOs in einer
Situation des strategischen Stillstands, und das obwohl sie einen relativ
jungen Organisationstyp darstellen.

Während der ersten Hälfte der 90er-Jahre – insbesondere katalysiert durch
die Debatten um den großen Umweltgipfel der Vereinten Nationen in Rio -
mauserten sich in der Wahrnehmung vieler die zunehmend professionalisierten
NGOs zu den Hoffnungsträgern einer gesellschaftlichen Transformation. Neue
NGOs wurden gegründet und Netzwerke geknüpft – auf nationaler und
internationaler Ebene. Seitdem gab es durchaus punktuelle Erfolge.

Dennoch bestimmte ab 1999 mit “The People of Seattle” ein anderer
Akteurstypus die öffentlichen Debatten um globale Gerechtigkeit. Die
Weltsozialforen entstanden, Globalisierungskritik wurde zum “talk of the
town”. Zwar sind weder die von Porto Alegre ausgehenden Zusammenkünfte noch
die Kritik an der neoliberalen Globalisierung ohne die Mitwirkung und
Finanzierung von NGOs zu denken, dennoch wird ihr Pulsschlag von
Akteursnetzwerken bestimmt, die eher Bewegungscharakter haben.

Verstärkt wird diese defensive Situation der NGOs dadurch, dass kaum eine
Reflexion über die reale politische Entwicklung und den schlussendlichen
Wegfall des rot-grünen Projekts stattgefunden hat.

Einige NGOs setzen daher auf die Bundeskanzlerin als weiße Ritterin im
Kampf gegen den Hauptklimasünder USA. Das hat beim G-8-Gipfel in
Heiligendamm dazu geführt, dass die inhaltlichen Debatten, etwa zum Thema
Klima, weitgehend von der Bundesregierung dominiert wurden. Die NGOs sahen
dabei ziemlich blass aus. Daran konnten auch einige
professionell-spektakuläre Schlauchbootaktionen nichts ändern.

Um die Lücke zwischen Problemwahrnehmung und derzeitigen
Einflussmöglichkeiten zu schließen, müssen NGOs die Fähigkeit erlangen,
nennenswerte gesellschaftliche Kräfte zu mobilisieren.

Ein Blick auf einen anderen sozialen Akteur, die Gewerkschaften ist hier
hilfreich. Seit einigen Jahren wird insbesondere bei Ver.di deshalb über
das von US-amerikanischen Kollegen importierte Konzept des “Organizing”
diskutiert. Punktuell wird es auch bereits eingesetzt.

Das “Organizing”-Modell ging als neues strategisches Konzept aus der
Gewerkschaftsreformbewegung der 80er- und 90er-Jahre in den USA hervor.
Dieses erschöpft sich nicht in simpler Mitgliederwerbung, sondern
repräsentiert einen grundsätzlichen neuen Weg gewerkschaftlicher Arbeit.
Zentral ist die Idee, dass die Beschäftigten im Zentrum der
Konfliktaustragung stehen – nicht der gewerkschaftliche Apparat.
“Organizing” meint das aktive Anwerben, Ausbilden und Empowerment von
Aktivisten und Aktivistinnen. Es zielt darauf ab, in Bereichen
organisatorisch Fuß zu fassen, die bisher nicht erreicht wurden.

Auch wenn die Herausforderungen, vor denen NGOs stehen, nur zum Teil mit
denen der Gewerkschaften vergleichbar sind, kann dieses Konzept Anregungen
dafür geben, wie eine aktivistische Basis mittelfristig aufgebaut werden
kann. Der bisher überragend wichtigen Figur des Experten würde ein
“Organizer” zumindest zur Seite gestellt, als Experte für soziale
Interaktion. Kampagnen dürften zudem nicht mehr nur zum Ziel haben, für
möglichst breite Bevölkerungsschichten anschlussfähig zu sein, sondern sich
auch die Konfliktfähigkeit zum Ziel setzen. Eine Gruppe von besonders
aktiven Mitgliedern muss motiviert werden können, in eine
Auseinandersetzung einzusteigen. Denn ohne die klare Zuspitzung und
Benennung von Gegnern geht dies nicht. Dass ein solcher Organisationswandel
nicht ohne Konflikte abläuft, ist klar. Schließlich wurden bei einigen
US-Gewerkschaften bis zu fünfzig Prozent der Ressourcen für das
“Organizing” umgewidmet. Am Ende dieser Umorientierung stand sogar eine
Abspaltung vom alten Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO. “Change to Win”
lautet der Name der neuen Koalition.

MONA BRICKE ALEXIS PASSADAKIS

[taz Nr. 8432 vom 17.11.2007]