2007-11-08 

junge Welt: Geldstrafe für Mundschutz?

In Rostock beginnt Prozeßwelle gegen G-8-Gipfelstürmer von Heiligendamm. Absurde Vorwürfe gegen Demonstranten.

Der 19jährige Alexander S. aus Niedersachsen muß sich heute vor dem Amtsgericht in Rostock verantworten. Ihm wird »passive Bewaffnung« vorgeworfen, weil er im Juni während der Proteste rund um den G-8-Gipfel in Heiligendamm einen Zahnschutz im Rucksack hatte. Dafür soll der Student nun zehn Tagessätze, rund 160 Euro, bezahlen. Er sei nach Mecklenburg-Vorpommern gefahren, um sich an den friedlichen Blockaden gegen das Treffen der Regierungschefs zu beteiligen, berichtete S. am Donnerstag gegenüber junge Welt. Nach den Bildern von der Auftaktdemonstration am 2. Juni in Rostock und dem brutalen Polizeieinsatz habe er den Mundschutz eingepackt. »Ich wollte mir nicht die Zähne einschlagen lassen.« Zahlen will er für diese Präventionsmaßnahme nicht. Sollte es zur Verurteilung kommen, will S. in Revision gehen: »Man kann doch nicht zulassen, daß so etwas durchgeht und Jugendliche durch solche Urteile vom Widerstand abgehalten werden«.

Bild: Daniel Rosenthal

»Die Prozeßwelle gegen G-8-Gegnerinnen und -Gegner kommt langsam ins Rollen«, berichtete Dieter Rahmann von der Rostocker Antirepressionsgruppe im Gespräch mit jW. Von 1100 angekündigten Strafverfahren habe man bisher von etwa 60 Klagen Kenntnis. Die Dunkelziffer liege allerdings weit darüber. Die meisten Anklagen bezögen sich auf die Auftaktdemonstration der Gipfelproteste in Rostock, wobei verhältnismäßig viele Betroffene aus dem Ausland seien. Die Kriminalisierung wegen des Mundschutzes im Rucksack wird noch übertroffen durch Tatvorwürfe wie »Vermummen mit einer Regenhose« oder »Verstoß gegen das Versammlungsgesetz durch das Verlassen des Bürgersteigs«. »Es ist alles sehr chaotisch«, so Rahmann, »bis hin zu den Strafmaßen.« Vermummung, bisher der häufigste Tatvorwurf, werde mal als Ordnungswidrigkeit mit einer Geldstrafe von 50 Euro belegt, mal als Straftat mit 20 bis 40 Tagessätzen geahndet. »Die Behauptung, der Gipfelprotest sei eine Ansammlung von Kriminellen gewesen, soll, koste es, was es wolle, durch Verurteilungen belegt werden«, vermutet der Aktivist. Es gehe immer noch darum, den massiven Polizeieinsatz zu rechtfertigen.

In Rostock finden zur Zeit auch Berufungsverfahren gegen die Urteile aus den Schnellprozessen, die unmittelbar nach dem Gipfelprotest durchgezogen wurden, statt. Am Mittwoch gab es einen Teilerfolg für die G-8-Gegner. Ein Urteil gegen einen 20jährigen Spanier wegen schweren Landfriedensbruchs – acht Monate Haft ohne Bewährung – mußte wegen formaler Fehler aufgehoben werden. Statt vor einem Jugendrichter hatte sich der 20jährige fälschlicherweise vor einem Strafrichter wiedergefunden. Bei den Eilverfahren seien alle möglichen rechtlichen Standards unter die Räder gekommen, so Rahmann. Schon damals sei es nur darum gegangen, der Öffentlichkeit schnell irgendwelche Straftäter zu präsentieren. Ein weiteres Revisionsverfahren endete am Mittwoch hingegen mit der Bestätigung einer elfmonatigen Haftstrafe ohne Bewährung für eine deutsche Demonstrantin. Um möglichst viele von der Kriminalisierung Betroffene beraten und ihnen helfen zu können, bittet das Antirepressionsbündnis, sich im Falle von Vorladungen und Anklageerhebungen zu melden. Neben der Prozeßbegleitung organisiert es zur Zeit eine Veranstaltungsreihe unter dem Titel »Reise nach Absurdistan« mit Anwälten und für den 17. November eine Solidaritätsdemonstration in Rostock.

Weitere Informationen: antirep.blogsport.de, Kontakt: rostock@rote-hilfe.de oder G8-antirep@riseup.net

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