2002-07-01 

Straßburg als Experimentierfeld...

Über die Solidaritätsarbeit nach dem noborder-camp im Juli 2002

Strasbourg

Du hast bestimmt vom noborder-camp in Straßburg gehört, vielleicht warst du sogar dort... Aber weißt du auch, welche Folgen es hatte? Z.B. die juristischen Konsequenzen?

Dieser Text ist von Leuten geschrieben, die im il-legal team mitgearbeitet haben und Leuten, die sich an der Soliarbeit beteiligt haben. Wir sind ziemlich ausgelaugt und überrascht, dass wir so wenige sind die sich um die Folgen eines Camps kümmern, auf dem immerhin bis zu 3.000 Leute gewesen sind.

Um eine gemeinsame Diskussionsbasis zu haben aber erst mal einige Infos über juristischen Nachwirkungen des Camps:
Der erste französische Angeklagte war von August bis Oktober 2002 3 Monate im Knast, davon 1 Monat in Isolationshaft.
17 Personen aus Frankreich haben daraufhin ein Verwaltungsbüro des Justizministeriums in Straßburg besetzt, um gegen diese Maßnahme zu protestieren und ein Besuchsrecht durchzusetzen. Sie wurden von der Antiterroreinheit festgenommen und für einen Tag in einem Straßburger Knast inhaftiert. Sie wurden angeklagt wegen Freiheitsberaubung, wofür man in Frankreich bis zu 5 Jahre Knast riskiert. Nach zwei Prozessen konnte die Klage wegen Freiheitsberaubung zwar abgewendet werden. Am Ende wurden die 17 dennoch wegen Hausfriedensbruch zu 15 Tagen verurteilt. Die Strafe wurde auf Bewährung ausgesetzt (auf 5 Jahre, wie es in Frankreich fast immer der Fall ist).
3 Franzosen, die während der Besetzung vor dem Gebäude waren, haben am 15. Mai eine Verhandlung wegen "rébellion" (in Deutschland wie Widerstand gegen die Staatsgewalt).
2 Deutsche hatten am 25. Februar ihr Verfahren. Sie waren angeklagt wegen Diebstahl und Beschädigung von französischen und europäischen Fahnen. Sie bekamen einen Monat, ausgesetzt auf Bewährung. Am gleichen Tag wurde gegen einen Franzosen verhandelt, der angeklagt wurde wegen Waffentransports. Bei den beanstandeten "Waffen" handelte es sich um Werkzeug für das Camp.
Diese 3, gegen die am 25. Februar verhandelt wurde, haben Berufung eingelegt. Die Berufungsverhandlung wird nächstes Jahr stattfinden.
2 weitere Deutsche hatten ihren Prozess am 28. Februar, ebenfalls wegen "rébellion". Sie wurden zu 10 Tagen auf Bewährung plus einer Geldstrafe verurteilt. Ein Spanier, der wegen Waffenbesitz angeklagt war, bekam 2 Monate auf Bewährung.

Diese Auflistung klingt vielleicht langweilig und ermüdend.
Das ist sie aber vor allen Dingen, wenn man sich um die Fälle kümmern soll.
Die Leute vom il-legal team und die wenigen, die in Straßburg noch aktiv sind, sind abgegessen davon, diese Prozesse lediglich zu verwalten. Sie sind aber zu wenige, um aus dieser Verwaltungslogik herauszukommen.
In diesem Sinne waren die Gerichtsverhandlungen im Februar 2003 ein gutes Beispiel. Auf dem Freiburger Nachbereitungstreffen im November 2002 wurde entschieden, eine Aktionswoche zu planen die sich nicht nur auf Antrirepressionsarbeit beschränkt, sondern wieder auf die Campthemen bezieht: Soziale Kontrolle, SIS, Schengen etc. Plakate für die Aktionswoche wurden gedruckt, aber außer vom CAE (Comité Antiexpulsion Paris) und Leuten aus Straßburg gab es, so weit wir wissen, keine Beteiligung. Die meisten Betroffenen der Prozesse im Februar waren Deutsche, trotzdem gab es keine Initiative aus Deutschland.

Es waren also nur wenig Leute, die sich an der Solidaritätsarbeit beteiligt haben; zudem gab es sehr viele Prozesse zu begleiten. Dazu kommt, dass die Leute auch selbst von Repression betroffen sind: Der Staat kriminalisiert alles, was unter dem Etikett von no border organisiert wird (z.B. die 17 Leute, die aufgrund einer harmlosen Besetzung wegen Freiheitsberaubung angeklagt waren). Dabei sollte man nicht den französischen Kontext vergessen. Der Staat verfolgt eine Strategie der inneren Sicherheit: Soziale Bewegungen sollen vereinnahmt werden; diejenigen die nicht kompromissbereit sind werden mithilfe des neuen Gesetzes zur Inneren Sicherheit kriminalisiert. Die psychologische Spannung war durch die Repression sehr hoch, aber auch durch Isolation: Die lokale wie internationale Solidarität war nicht existent.

Die Kritik dieses Textes ist an die gerichtet, die nach Straßburg kamen um dort nur zu konsumieren. Aber auch gegen diejenigen, die zwar die Idee zu dem Camp hatten und es organisierten, aber sich nicht mit den Folgen beschäftigen: Die Angeklagten und die politischen Realitäten in Straßburg. Denn statt positiver Dynamik hat das Camp in Straßburg selbst ein negatives politisches Klima erzeugt.
Die Problematik der negativen Konsequenzen stellt sich vor allem, wenn sich bei zukünftigen Ereignissen auf Straßburg bezogen wird, wie z.B. beim G8-Gipfel in Évian.

Dieser Text will aber nicht dabei stehen bleiben, die Leute, die nach Straßburg kamen zu kritisieren. Er soll auch versuchen, die Gründe für die Auflösung der Mobilisierung zu beleuchten. Sie scheinen in der Struktur, oder besser "Nichtstruktur" des Camps angelegt zu sein.
Es scheint als wurden die Konsequenzen des Camps in der Vorbereitung nicht bedacht. In der Tat war es mehr Zufall, wer sich nach dem "Exodus" des Camps weiter mit der Solidaritätsarbeit beschäftigte: Wer in Straßburg wohnte oder irgendwie im il-legal team mitgearbeitet hat. Sich an der Soliarbeit zu beteiligen war eine individuelle Entscheidung; die Frage der Solidarität wurde nicht kollektiv gedacht oder organisiert.

Das Strukturproblem hat sich aber bereits während des Camps gestellt. Weil das il-legal team eine feste Instanz war, die immer funktioniert hat und sichtbar war, kamen viele TeilnehmerInnen des Camps mit Fragen und Anrufen, die über die juristische Arbeit hinausgehen; manche kamen um zu fragen, was sie auf dem Camp tun können.
Tatsächlich hat das il-legal team eine Lücke gefüllt, die sich durch den Misserfolg des barrio-Modells auftat. Und diese Rolle hat das il-legal team nach Auflösung des Camps weiter inne gehabt.

Wenn Straßburg als Experimentierfeld für eine nichtautoritäre Organisation betrachtet wird ist offensichtlich, dass es perfekter sein kann! Vor allem im Hinblick darauf, dass wenn es keine expliziten Strukturen gibt, sich implizite Machtstrukturen manifestieren, die alles ermöglichen außer eine nichtautoritäre, kollektive Organisation.
Wie explizite Strukturen aussehen können bleibt offen. Über diese Frage grundsätzlich zu diskutieren ist nicht Absicht dieses Textes. Aber eine Antwort ist sicherlich, dass einige Aufgaben, wie z.B. die Arbeit des il-legal team, nicht in einer Vollversammlung stattfinden können. Wir plädieren nicht für geschlossene Arbeitsgruppen von SpezialistInnen. Aber wir fragen uns, wie wir Arbeitsgruppen ins Leben rufen können, die für bestimmte Aufgaben verantwortlich sind und dabei trotzdem enge Verbindungen mit den TeilnehmerInnen des Camps haben: während und vor allem auch NACH dem Camp.
Offensichtlich müssen wir nicht nur über die Strukturen reflektieren, sondern vor allem über die Rückkopplung, Kommunikation und Abstimmung. Solche Fragen sollten auch bei der Vorbereitung berücksichtigt werden. Ein Vorschlag wäre, dass die vorbereitenden Gruppen sich auch bei den Konsequenzen eines Camps engagieren, vor allem den juristischen: Informationsweitergabe und Organisation von Solidaritätsaktionen. Dies bedeutet den Aufbau eines Informationsnetzwerks, das klarer und präziser als eine Camp-Mailingliste funktioniert; vielleicht durch die Bestimmung von Personen, die für jede Gruppe verantwortlich sind Informationen weiterzugeben und z.B. den Kontakt zum il-legal team zu haben.

Es ist sehr schade, dass das no border Camp in Straßburg nur noch wegen der Antirepressionsarbeit existiert. Sollen wir der Repression dafür etwa dankbar sein?
Besonders schade ist auch, dass das Camp eigentlich den Anspruch hatte auf europäischer Ebene eine Vernetzung um die Fragen der Migrationspolitik zu installieren. Aber wir sind nicht einmal in der Lage, ein Minimum, nämlich die Solidarität mit den Angeklagten zu gewährleisten. Es wäre möglich gewesen, die Gerichtsverhandlungen zu nutzen um das Anliegen des Camps wieder in die Diskussion zu bringen. Dafür wäre es nötig gewesen, die auf dem Nachbereitungstreffen getroffenen Entscheidungen zur Aktionswoche im Februar 2003 umzusetzen.

[Einige Leute aus der Solidaritätsarbeit zum no border Camp in Straßburg]

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