2007-07-06 

Alex Demirovic: ‚Reflektion zu G8’ sowie ‚Strategie nach G8’

Demokratisierungsforderungen und Partizipationsmöglichkeiten gesamtgesellschaftlich

Thesen für die Rats-Klausur vom 30.6.-1.7.2007 in Erfurt

1.] Demokratie kann auf vielfache Weise zum Gegenstand der Theorie gemacht werden.

a) Eine Möglichkeit besteht in einem realistischen Verständnis der demokratischen Institutionen, wie es in vielen liberalen Verfassungen festgeschrieben oder in institutionellen Ordnungen des kapitalistischen Staates organisiert ist: Die Volkssouveränität, die an parlamentarische Volksvertreter in freien, gleichen, allgemeinen Wahlen abgetreten wird; das Parlament als Legislative und Kontrollorgan der Exekutive; die Parteien als Organe der Willensbildung. Dem entspricht die rechtliche Gleichheit und Freiheit der BürgerInnen: jede Stimme zählt gleich, und sie müssen frei sein, sich über ihre Interessen zu verständigen. Für diese Art parlamentarisch-repräsentativer Demokratie ist entscheidend, dass sie an Entscheidungen in der auf Privateigentum basierenden kapitalistischen Ökonomie nicht und nur in einzelnen Hinsichten heranreicht: also das Investitionsverhalten der Unternehmen, die Entscheidungen über Orte, Produktionsprozesse, Produkte, Technologien, Marktverhalten. Manches kann durch Recht reguliert werden. Aber im Regelfall gelingt dies nur, wenn die Regelung formal und für alle gültig ist. Alles hängt in demokratische Gesellschaften davon ab, was als allgemeingültig definiert wird. Hier beweisen gesellschaftliche Interessen ihre Macht, indem sie festlegen, was als allgemein gilt. Das wird durch die Logik des kapitalistischen Marktes gestützt: Da im Fall von Unternehmen, die sich im nationalen und internationalen Wettbewerb bewegen, der nationale Gesetzgeber nur sehr allgemeine oder keine verbindliche Regelungen treffen kann, entscheiden am Ende Private, also Kapitaleigner, ob überhaupt produziert wird, was, in welchem Umfang, zu welcher Qualität, auf welche Weise.

Auch in anderer Hinsicht ist die parlamentarisch-repräsentative Demokratie unzulänglich. Es besteht die durchaus ideologische Vorstellung, das Parlament legt als Gesetzgeber die Programme fest, nach denen die Exekutive, also Regierung und Verwaltung, handelt. Demokratie meint: Gesetzesherrschaft. Doch müssen Gesetze auch umgesetzt werden. Das wird im Interesse von Unternehmen, privilegierten, herrschenden Gesellschaftsgruppen oftmals nicht getan. Die Politik gibt der Verwaltung keine Anweisung oder unterläuft sogar bewußt gesetzliche Regelungen, die Verwaltung verschleppt und verzögert, sie wird von oben behindert, ihr Personal wird bis zur Handlungsunfähigkeit abgebaut. Die u.a. von Attac bekämpfte Privatisierung öffentlicher Aufgaben ist in dieser Hinsicht auch demokratiepolitisch ein Desaster, weil viele Bereiche der Gesellschaft der öffentlichen Kontrolle, Bestimmung und Beteiligung entzogen werden.

Diese prinzipielle Bedingung der parlamentarischen Demokratie wird noch verstärkt durch eine weitere Veränderung des Verhältnisses von Staat und Demokratie. Politische Entscheidungen werden vielfach informeller. Zum einen verlagern sie sich in Governance-Mechanismen von Kommissionen, Beratungsfirmen, Rechtsanwaltskanzleien, privat-öffentliche Gremien. Zum zweiten werden Entscheidungen auf höhere oder niedrigere Ebenen des politischen Prozesses verschoben. Von besonderer Bedeutung sind suprastaatliche Entscheidungsmechanismen und internationale Organisationen und Entscheidungsfindung in Mehrebenengovernance, die Akteure verschiedener räumlicher Ebenen (Kommunen, Bundesländer, Zentralstaat, EU) und formellen Status einschließen (staatliche Stellen, Parteien, Verbände und Lobbyorganisationen, Nichtregierungsorganisationen).

b) Die zweite Möglichkeit, Demokratie zu verstehen, ist normativ. Demokratie kann als eine Norm der Partizipation verstanden werden. Freiheit und Gleichheit sollen verwirklicht werden. Das normative Modell nimmt allzuleicht den Charakter der Sonntagsrede an. Es geht um Begründungen von Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Partizipation. So heißt es dann als Beruhigungsformel, dass die Demokratie sicherlich unzulänglich verwirklicht ist, aber wenigstens ist sie doch normativ existent. Sie könne deswegen wenigstens eingeklagt und eingefordert werden. Eigentlich gilt die Demokratie + Markt als Ende der Geschichte.

c) Eine dritte Möglichkeit ist die, die Demokratie - ähnlich wie die kapitalistischen Produktionsverhältnisse als eine materielle Wirklichkeit des Kapitalismus selbst zu begreifen. Kapitalismus besteht nicht nur aus den ausbeuterischen und undemokratischen Produktionsverhältnissen, sondern eben auch - auf der Ebene der Politik - aus Formen der demokratischen Verfassung von Staat: Demokratie ist ein realer Prozeß. Manches Mal entstehen daraus Widersprüche und Krisen im Verhältnis zwischen Produktionsverhältnissen und demokratischer Politik - auch zu einer Beseitigung oder Unterhöhlung demokratischer Spielregeln. Aber im Durchschnitt kommt es zu Übereinstimmung. Dies gewährt gewisse und jeweils sich verändernde und veränderbare Spielräume und Einflußnahmen, die weder unterschätzt noch überschätzt werden sollten. Das läßt sich aber selbst wiederum nicht prinzipiell vorweg festlegen, da es sich eben um eine Art statistische Dynamik handelt: erst durch Streuung und Bewegung hindurch bildet sich der Durchschnitt.

2.] Da die Normen der Demokratie immer unzulänglich verwirklicht werden, da das Verständnis von Freiheit und Gleichheit sich historisch immer wieder ändert, da auch immer noch Interessen und Bedürfnisse entstehen, haben die Gesellschaftsmitglieder immer wieder von neuem das Recht, Freiheit und Gleichheit einzufordern, ein Mehr davon einzufordern und die Demokratie selbst unter den Druck weiterer Partizipation zu setzen. Das parlamentarisch-repräsentative Modell der Demokratie erweist sich in dieser Hinsicht als doppelt unzulänglich. Empirisch beschreibt es die Wirklichkeit der Demokratie nicht hinreichend. Normativ begrenzt es die Möglichkeit der Beteiligung und der dynamischen Selbstveränderung der Gesellschaft durch eine auf Dauer gestellte Form immer neuer Demokratisierung.

3.] Soziale Bewegungen und ihre Organisationen müssen um demokratische Beteiligung kämpfen. Sie bilden sich, weil unter kapitalistischen Bedingungen der Herrschaft das, was als allgemein gilt, niemals eindeutig festgelegt ist. Alle Interessen müssen sich als politisches Interesse bilden und darum kämpfen, selbst als allgemein zu gelten. Denn andernfalls wird als bloß partikularistisch zurückgewiesen. Kein Interesse, wenn es einmal den Status errungen hat, allgemein zu sein, kann sicher sein, auch dauerhaft als allge-mein zu gelten. Denn immer werden Interessen ausgegrenzt und verletzt, durch die permanente Selbstrevolutionierung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse entstehen auch immer wieder neue Interessen, die ihrerseits Berücksichtung und 'Anerkennung' finden wollen. Parlamentarische Demokratie ist die auf Dauer gestellte bürgerliche Revolution. Weil Parteien zu langsam sind, zu vieles unberücksichtigt lassen, haben sich seit langem immer wieder soziale Bewegungen gebildet, die mehr Dynamik in diesen Prozeß bringen. Das ist unerläßlich. Allerdings weist es den Bewegungen auch eine bestimmte Funktion zu. Diese entstehen selbst und vergehen. Und sie können zu einem guten Teil gar nicht anders, als auf den Staat einzuwirken, also auf die herrschende Allgemeinheit. Es geht allerdings darum, in diesem Prozeß jeweils auch Alternativen für eine andere Art der Vergesellschaftung zu entwickeln, so dass Kräfte entstehen, sich reproduzieren und erweitern, die die grundlegenden Machtverhältnisse in der Lage sind, in Frage zu stellen.

4.] Demokratische Kämpfe zielen in ihrer eigenen Logik und Dynamik sehr bald darauf, Demokratie selbst auszudehnen. Es gehört zu den liberalen Vorentscheidungen und Zwanghaftigkeiten, dass der Volkssouverän sich auf die Sphäre der Politik und der Gesetzgebung beschränken soll - im Grundgesetz heißt es deswegen: alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Doch der Volkssouverän, der sich nur an sich selbst bindet und durch nichts anderes gebunden werden kann, kann auch über die Lebensbedingungen selbst entscheiden, unter er und seine Mitglieder lebt. Indirekt räumen das das Grundgesetz und die Menschenrechtserklärung ein, wenn sie das Recht auf Eigentum garantieren. Es ist eben der Volkssouverän, der dies entscheidet und das Eigentum garantiert. In der Tat ist dies ein Fortschritt, der sich gegen Ausplünderung, Raub, Aneignung durch Private wendet. Doch dort, wo gerade dieses Recht des Eigentums von Privaten gegen den Volkssouverän gewendet wird, hat dieser das Recht, das privatisierte Eigentum wieder zurück anzueignen. Das alles will sagen, dass der Volkssouverän selbst derjenige ist, der darüber entscheidet, welche Bereiche er derart vor den jeweils sich verändernden politischen Mehrheiten schützen will. Die demokratische Diskussion und die Beteiligung kann zu der Einsicht führen, dass auch weitere Sphären des Privaten (also die Familie oder das Unternehmen) Gegenstand einer demokratischen Willensbildung werden müssen. Die sozialen Bewegungen und ihre Organisationen müssen deswegen heute die Frage nach dem Eigentum an den Produktionsmitteln und ihrer Vergesellschaftung stellen. Nach der Welle der Privatisierung in Deutschland und Europa sollte es eine Welle der Wiederaneignung und Vergesellschaftung geben. Es gehört freilich zum demokratischen Prozeß, dass dann Akteure darauf bestehen, dass die Partizipation nicht soweit ausgedehnt werden darf. Das ist eine Grenzlinie des politisch-demokratischen Konflikts: an welchem Punkt hört die demokratische Beteiligung auf. Oftmals ziehen sich Gegner der Ausdehnung der Partizipation auf gleichsam natürliche Umstände, auf bestehende Gesetze und Gewalt zurück. Sie beenden die demokratische Diskussion durch Willkür. Deswegen ist es notwendig, für eine demokratische Austragung dieses Konflikts selbst zu kämpfen, also Mehrheiten zu gewinnen, einen gesellschaftlichen Konsens für eine neue Verfassung des gesellschaftlichen Produktions- und Verteilungsapparats.

Meiner Meinung nach gehört es zu den zentralen Aufgaben von Attac, eine Ausdehnung der Demokratie auch auf die Wirtschaft zu fordern. Das betrifft nach wie vor in allererster Linie den Bereich der Produktion und verstärkt der Dienstleistung - und mit Blick darauf geht es darum, die Gewerkschaften zu kooperieren, sie in der Öffentlichkeit zu unterstützen und sie anzutreiben, sich für mehr Demokratie in der Wirtschaft einzusetzen und die Institutionen der Mitbestimmung auszubauen. Das betrifft auch die Finanzmärkte und ihre Akteure. Diese müssen nicht nur der Regulation, sondern vor allem auch einer demokratischen Regulation unterworfen werden. Institutionelle Anleger wie Banken, Versicherungen oder Pensionsfonds müssen mitbestimmt und öffentlich kontrolliert werden (um eine Vergesellschaftung der Risiken zu verhindern). Das Investitions- und Anlageverhalten muß reguliert werden, um das Ausschlachten und Überschulden von Unternehmen zu verhindern, der Zeithorizont der Renditeerwartung muß gedehnt, das Anlageverhalten auf qualitative Indikatoren ausgerichtet werden. Es bedarf der Einrichtung öffentlicher Ratingagenturen und öffentlicher Fonds. Gewerkschaftliche Fonds könnten gefördert und zu Anteilseignern der Unternehmen werden.

5.] Demokratische Kämpfe können schon seit längerem und heute erst recht nicht mehr allein auf nationalstaatlichem Terrain geführt werden. Die Veränderung von Eigentumsformen würde nicht nur innergesellschaftliche, sondern sofort auch internationale Spannungen hervorrufen. Das Bürgertum der führenden kapitalistischen Staaten würde alle Hebel in Bewegung setzen, solche Reformen zu bekämpfen, zu verhindern oder rückgängig zu machen. Solche Formen der »Heiligen Allianz« gibt es seit langem. Verstärkt wird dies sicherlich durch internationale Kapitalverflechtung, ausländische Direktinvestitionen, strategische Allianzen, die weitere Entwicklung einer globalen zivilgesellschaftlichen Vernetzung der Herrschenden durch Koordinationskreise, Diskussionszirkel, Ausbildung sowie schließlich die Verlagerung politischer Entscheidungen in transnationale Gremien.

Die sozialen Bewegungen haben auf diese Entwicklungen schon längst reagiert. Die Treffen in Davos werden von Kritikern beobachtet, auf internationalen Konferenzen sind NGOs anwesend, es gibt die globalen und regionalen Sozialforen, die Protestkampagnen gegen global operierende Unternehmen und die Demonstrationen gegen internationale Gipfeltreffen. Vieles bleibt kampagnenartig, die Aufmerksamkeiten sind ungleich verteilt und nicht immer sachangemessen. Erforderlich ist aber nicht nur, das alles zu verstetigen. Es bedarf auch der demokratiepolitischen Kämpfe, die dafür eintreten, diese internationalen Entscheidungsprozesse transparent zu machen und zu demokratisieren. Denn ansonsten laufen die Bewegungen den Entscheidungen immer hinterher. Es gehört eben zum Privileg der Herrschenden, dass sie für ihre Zwecke gesellschaftliche Ressourcen aneignen, sich schneller bewegen können, Prozesse auf Dauer stellen und Personal beschäftigen können. Dies läßt sich nur ändern, wenn Entscheidungen zeitlich, räumlich und sozial fixiert werden: also Zuständigkeiten, Gremien, Verfahren, Auswahl der Entscheidung treffenden Personen. Attac ist in diesem Zusammenhang eine wichtige Organisation, weil sie von ihren Gegenständen her auf diese Globalisierungsprozesse hin ausgerichtet ist, und sie operiert in gewisser Weise schon international. Es bedürfte hier weiterer Schritte, zu einer transnationalen Politik zu kommen.