2007-07-15 

Peter Wahl: Attac reloaded

9 Thesen zur Schwerpunktdiskussion in Attac

„Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles!

„Ach, wir Armen!“ (Margarete, Faust Erster Teil )

Der vorliegende Text ist keine fertige Konzeption für ein neues Schwerpunktthema von Attac, sondern soll die Diskussion darüber anregen. Es soll nichts präjudiziert werden, sondern eine kollektive Suchbewegung in Gang kommen. Wir sollten in den nächsten Monaten gründlich darüber nachdenken, wie Attac sein inhaltliches Profil weiter entwickeln kann. Eine Konzeption kann dann am Ende des Prozesses stehen.

1. Globalisierungskritik auf der Höhe der Zeit

Warum ist die Diskussion um das inhaltliche Profil von Attac notwendig? Bereits vor einiger Zeit haben wir festgestellt, dass eine kritische Haltung zur neoliberal dominierten Globalisierung hegemonial wird. Im Zuge des G8-Prozesses ist dies noch einmal sehr deutlich geworden. Das ist nicht allein das Verdienst von Attac, aber wir haben ordentlich dazu beigetragen.

Wenn wir auch zukünftig vorwärtstreibende Kraft im gesellschaftspolitischen Diskurs sein wollen, müssen wir Globalisierungskritik immer wieder auf der Höhe der Zeit formulieren.

2. Der Systemcharakter der neoliberalen Globalisierung

Hegemonie kritischer Positionen zur Globalisierung heißt nicht, dass überall nur klare Vorstellungen über Ursachen, Struktur und Dynamik des Prozesses bestünden. Meist handelt es sich um die Wahrnehmung von individuell spürbaren Symptomen, wie den Abbau der sozialen Sicherung, Einkommensverluste und Zukunftsangst. In dieser Diffusität liegt auch das Risiko politischer Kanalisierung und Instrumentalisierung – nicht zuletzt von rechts.

Deshalb ist es auf Dauer unumgänglich, den systemischen Charakter des Prozesses klar herauszuarbeiten. Dies nicht allein aus aufklärerischem Interesse, sondern weil damit auch unsere Strategie den Systemcharakter in den Blick nehmen können. Außerdem schützt das vor nationalistischen, rassistischen u.ä. Pervertierungen von Globalisierungskritik.

3. Eins, zwei, drei, viele Kapitalismen

Der Kapitalismus ist gut 500 Jahre alt. Begonnen hat er als Handels- und Finanzkapitalismus in Oberitalien. Dem verdanken wir noch die Grundbegriffe conto, cassa, banco, credito, giro.

Seine volle Entfaltung erreichte er in Wechselwirkung mit enormen technologischen Umbrüchen im Industriekapitalismus des Manchestertyps.

Der Industriekapitalismus hat seither mehrfach einen Gestaltwandel oder verschiedene Formationen durchlaufen. Die Imperia-lismustheorien haben versucht, diese Umbrüche zu erklären. Auch innerhalb einer jeweiligen Entwicklungsphase existieren nebeneinander unterschiedliche Ausprägungen kapitalistischer Entwicklung. Allerdings etabliert sich dabei immer ein besonders dynamischer und innovativer Sektor, der zur dominierenden Kraft wird.

In den 30 Jahren entstand mit dem sog. Fordismus ein neues Modell, das bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts auch in Westeuropa dominierte, heute aber seinen Standort nach China u.a. Schwellenländer verlegt.

Seit 25 Jahren bildet sich in den Industrieländern die Dominanz eines neuen Typs von Kapitalismus heraus. Wiederum im Wechselspiel mit technologischen Revolutionen – Digitalisierung, Kommunikation etc.- sprengt dieses neue Modell den Rahmen des Nationalstaats und wird zum transnationalen oder globalisierten System. Viele bezeichnen das als Globalisierung, manche sprechen von Turbokapitalismus, andere Shareholder Kapitalismus oder von Raubtierkapitalismus (Helmut Schmidt). Wie immer man das nennt, Tatsache ist, es handelt sich um eine Transformation von ähnlich historischer Tragweite wie die fordistische Revolution. Wie diese krempelt sie die ganze Gesellschaft um und verändert die alltägliche Lebenswelt der Menschen. Für die meisten zum Schlechteren.

4. Zur Anatomie der neoliberalen Globalisierung

Das fordistische Zeitalter war vom Industriekapital dominiert. Die Finanzmärkte und ihre Akteure - im wesentlichen Banken und Börsen – waren zwar bedeutend, aber sie folgten der produktivistischen Logik: der Reichtum wurde hauptsächlich über die Realwirtschaft akkumuliert. In den Industrieländern fiel davon auch etwas für die Lohnabhängigen ab, direkt über Löhne und Gehälter, indirekt über den Wohlfahrtsstaat.

Damit ist es vorbei. Ein neues Regime etabliert sich. Sein Wesen besteht darin, dass sich die Finanzmärkte von der Dominanz der Realwirtschaft gelöst haben und – ausgelöst durch die Liberalisierung und Deregulierung des Finanzsektors nach Ende des Bretton Woods System in den 70ern - selbst zur treibenden Kraft der Akkumulation des Reichtums wurden. Es kam zu einer unglaublichen Expansion – Verachthundertfachung zwischen 1970 und 2000 – und Mobilität der Kapitalströme.

Damit wurden völlig neue und überdurchschnittlich hohe Profitquellen erschlossen:

* durch Arbitrage und Spekulation wird der Handel mit Devisen zur eigenständigen Renditequelle. Der Wegfall von Ka-pitalverkehrskontrollen ermöglichte Zinsarbitrage überall auf der Welt und die globalisierte Spekulation mit Wertpapieren aller Art.
* Die Umschlagsgeschwindigkeit des Kapitals hat dramatisch zugenommen. Pro Börsentag werden gigantische 1,9 Billionen USD umgesetzt. Zugleich ist durch die Transnationalisierung die „Ansteckungsgefahr“ bei Krisen gestiegen.
* Mehr als 80% der Investitionen auf den Finanzmärkten sind kurzfristig, d.h. sie haben eine Laufzeit von maximal sieben Tagen. Auch dies führt zu erhöhter Instabilität und Krisenanfälligkeit.
* Ein weiterer grundlegend neuer Prozess ist die Verbriefung (Securitization) von Krediten. Bankkredite, bis dahin ein bilaterales Geschäft zwischen Gläubiger und Schuldner, werden jetzt in Wertpapiere verwandelt, die dann auf dem Markt gehandelt werden (Sekundärhandel). Dies hat vor allem für die Unternehmensfinanzierung Konsequenzen. Die großen Unternehmen finanzieren sich nicht mehr über ihre Bank, sondern auf den Finanzmärkten.
* Zugleich entstehen neue Finanzprodukte, die Derivate, die in ihrer Gesamtwirkung die systemische Instabilität erhöhen.
* Die Verbriefung erfasst inzwischen auch Bereiche, von denen man es nicht vermutet hätte. Der zertifizierte Emissionshandel u.a. „Marktmechanismen“ z.B. unterwirft einen Teil der Klimapolitik der Dynamik auf den Finanzmärkten.

5. Die Heuschrecke als Goldesel

Diese Dynamik hat neue Akteure hervorgebracht. Zentral ist hier der institutionelle Investor, also Banken, Versicherungen und Investmentfonds, die die Institutionalisierung und Professionalisierung der Eigentümerfunktion betreiben.

Das Interesse des institutionellen Investors ist ausschließlich das der maximalen Rendite für den Eigentümer (engl.: Shareholder). Die Shareholder Orientierung strukturiert zunehmend die Realwirtschaft. Zwar stand der Profit immer im Zentrum kapitalistischer Dynamik, aber daneben gab es auch andere Unternehmensziele, wie langfristige Wettbewerbsfähigkeit, Produktivitätssteigerung, Innovation. Diese werden jetzt von einer rabiaten Kurzfristorientierung, das schnelle Geld, verdrängt.

Die avanciertesten Akteure des neuen Modells sind Hedge Funds, Private Equity Funds und REITS - alles reine Geldmaschinen. Sie sind der dynamischste Bereich der Weltwirtschaft und damit Leitbild für den Rest.

7. Der Staat als Opfer?

Die meisten Regierungen verfolgen eine Politik, die den Interessen der Finanzmarktakteure entgegenkommt. Die Kombination aus Hegemonie des neoliberalen Diskurses, Lobby-Macht der Finanzindustrie, Vereinbarungen wie der sog. Stabilitätspakt der EU sowie der Wettbewerbsdruck, der sich aus der Transnationalisierung der Ökonomie ergibt, haben dazu geführt dass nationalstaatliche Politiken gegenüber den Finanzmärkten in hohem Maße gleichgerichtet sind.

Von besonderer Bedeutung ist dabei die Steuer- Geldmengen- und Zinspolitik. Hohe Zinsen sind gut für große Geldbesitzer, ebenso wie niedrige (direkte) Steuern. Krassestes Beispiel für eine an den Interessen der Finanzmärkten orientierte Politik ist die EZB.

Auf politischer Ebene sind eine wichtige Komponente die Offshore-Zentren (OFCs) und Steuerparadiese. Die OFCs sind keine Lappalie. Das dort angelegte Kapital Mittel wird auf 2,7 Billionen USD geschätzt. Das sind 20% des weltweit auf Bankkonten angelegten Kapitals. Das größte OFC ist die City of London.

8. Der Kuchen wächst, wir kriegen immer weniger

Dank des neuen Systems hat sich zwischen 1996 und 2005 das Kapital großer Kapitalvermögen verdoppelt, von 16,6 Billionen Dollar auf 33,3 Billionen. Um sich eine Vorstellung von diesen Dimensionen machen zu können: 2004 betrug das Brutto-Inlandseinkommen der gesamten Welt 40,9 Billionen, davon 31,6 Billionen der Industrieländer. Die HNWIs, etwa 0,12% der Weltbevölkerung, verfügen über ein Finanzvermögen das dreimal so hoch ist, wie das Brutto-Inlandseinkommen aller Entwicklungsländer zusammen. Eine Steuer von nur 0,7% auf diese Vermögen würde dreimal so viel bringen wie die gesamte Entwicklungshilfe.

Das neue finanzmarktgetriebene Regime stellt nicht nur verteilungspolitisch eine neue Qualität dar. Auch Kranken- und Altersversicherung stehen unter dem Druck der Finanzmärkte. Durch Privatisierung sollen sie den Kapitalverwertungsinteressen der institutionellen Investoren zugeführt werden. Gleiches gilt für Bildungseinrichtungen und andere öffentliche Infrastruktur (Eisenbahn, ÖPNV, Trinkwasser, Energieversorgung etc.).

9. Kampagnenfähig machen

So wie sich das alles liest, ist es zunächst natürlich nicht kampagnefähig. Das ist allenfalls was für Bildungsarbeit. Aber das ist ja auch schon mal was. Wichtig ist, die Aura der Finanzmärkte zu demontieren, das sei alles so besonders komplex und unverständlich. Wenn Ackermann es versteht, können wir es auch verstehen. Also: Bildungsbausteine, Vorträge, populäre Publikationen, die die graue Theorie anschaulich machen.

Aber auch die Andockmöglichkeiten an Themen wie Verteilung, arm-reich, Privatisierung, Soziales, Steuergerechtigkeit, Eigentum, Emissionshandel, Finanzmärkte und Demokratie u.a. eröffnen Perspektiven für politische Projekte zum Thema.

Auch Aktionen, die sich wichtige Finanzmarktakteure (EZB, Banken) zur Zielscheibe nehmen, können politisch produktiv sein. Im Grunde war Vodafon ein Vorläufer.

Auch bündnispolitisch wären die Möglichkeiten auszuloten. Die IG Metall ist aus eigener Betroffenheit – Übernahmen von Firmen durch Heuschrecken mit entsprechendem Arbeitsplatzabbau etc. - beispielsweise auf das Thema Private Equity eingestiegen. Der Mieterbund hat sich erfolgreich dagegen gewehrt, dass REITS Wohnungen übernehmen dürfen. Es gibt eine öffentliche Debatte um Heuschrecken.

Außerdem lassen sich am Thema spannende Grundfragen diskutieren. Beispiel:

* geht es uns um den Kapitalismus als solchen oder „nur“ um die neoliberale, finanzmarktgetriebene Variante?
* wie ist das Verhältnis zwischen beiden?
* welche Strategie ergibt sich daraus?
* kann man die Finanzmärkte überhaupt noch regulieren? Wenn ja, wie?
* wie sieht eine zeitgemäße Kritik der politischen Ökonomie der Globalisierung aus?
* wie kann sie so formuliert werden, dass sie Überzeugungskraft wiet in die Gesellschaft hinein entfaltet?

Und vieles andere mehr!

Biesdorf, 28.6.2007