2007-10-10 

junge Welt: »Staatsanwaltschaft erhebt absurde Vorwürfe«

Anti-G-8-Demonstranten steht offenbar größere Repressionswelle bevor. Betroffene sollen sich melden. Ein Gespräch mit Hanne Jobst

Hanne Jobst ist Pressesprecherin der Gipfelsoli-Infogruppe

Polizei und Amtsgerichte haben in den vergangenen Wochen verstärkt Vorladungen und Bußgeldbescheide an Globalisierungskritiker verschickt, die sich im Juli an den Protesten gegen den G-8-Gipfel beteiligt haben. Von wie vielen Bescheiden wissen Sie?

Wir kennen etwa 20 Betroffene, der Republikanische Anwaltsverein betreut mehrere Dutzend weitere. Wir gehen jedoch davon aus, daß wir nur von einem Bruchteil der Kostenbescheide oder Vorladungen erfahren. Nicht alle Betroffenen wenden sich zur Beratung an Antirepressionsgruppen oder Anwälte. Was die Kostenbescheide angeht, drängt sich der Eindruck auf, daß derzeit schwerpunktmäßig Aktivisten aus dem Ausland behelligt werden.

Bild: Button

Was wird den Gipfelgegnern vorgeworfen?

Wir sehen eigentlich das gesamte, im Rahmen von Demonstrationen übliche Spektrum an Vorhaltungen: Körperverletzung, Landfriedensbruch, Verstoß gegen das Versammlungsgesetz und so weiter. Zum Teil konstruiert die Staatsanwaltschaft absurde Vorwürfe. Ein Betroffener hatte beispielsweise einen Zahnschutz mitgeführt. Ein anderer Aktivist aus Lettland wurde wegen schwarzer Kleidung tagelang in Gewahrsam genommen. Polizei und Richter hatten ihn dort unter Druck gesetzt und falsch über seine Rechte aufgeklärt. Beiden Betroffenen wird nun »Verstoß gegen das Versammlungsgesetz« vorgeworfen. Anderen werden angebliche Steinwürfe zur Last gelegt. Weil sich dafür keine Beweise fanden, sollen sie nun wegen Vermummung verurteilt werden. Ein weiterer Demonstrant saß zwei Tage in Gewahrsam, weil er den Gehsteig nicht benutzte. Nun soll er fünf Euro Ordnungsgeld bezahlen.

Betrachtet man diese banal wirkenden Vorwürfe, erscheint das Vorgehen von Polizei und Justiz recht lächerlich. Welche Strategie verfolgen die Behörden damit?

Das ist schwer zu sagen. Zunächst sieht es nach dem gewöhnlichen Strafverfolgungsapparat in der Folge von Massenprotesten aus. Die Polizei hat allerdings ein Problem: Mehr als 1000 Menschen wurden bei den Anti-G-8-Protesten in Gewahrsam genommen, ein großer Teil aber nach richterlicher Vorführung wieder entlassen. Die Ingewahrsamnahmen waren also rechtswidrig. Nun muß die Polizei viele der Verhaftungen im nachhinein legitimieren. Womöglich werden bis zu 200 Aktivisten, die im Juli im Wichmannsdorfer Holz von der Polizei angegriffen und wegen »Beteiligung an einer brennenden Barrikade« festgenommen wurden, deshalb ebenfalls Bußgeldbescheide oder Vorladungen erhalten.

Befürchten Sie, daß in den kommenden Wochen weitere G-8-Gegner kriminalisiert werden?

Ja. Bei Polizei und Staatsanwaltschaft gibt es die Sonderkommission »Folgemaßnahmen«, die vor zwei Monaten um acht Staatsanwälte aufgestockt wurde. Die sichten derzeit das von der Polizei gefertigte Videomaterial. Bisher wollen sie erst eine Person, einen Spanier, als Steinewerfer am 2. Juni identifiziert haben. Ich glaube aber kaum, daß die acht neu hinzugezogenen Staatsanwälte ansonsten Däumchen drehen. Die Polizei wird sich die Schlappe, die ihr durch den »Schwarzen Block« bei der Rostocker Großdemonstration am 2. Juni zugefügt wurde, nicht gefallen lassen wollen. In Genua und Göteborg gab es noch Monate nach den Anti-G-8-Protesten Hausdurchsuchungen, bei denen Videomaterial, Fotos und Kleidungsstücke beschlagnahmt wurden. Basecaps, Turnschuhe oder Buttons wurden vor Gericht gar als Beweise zur Identifizierung vorgelegt.

Was raten Sie Demonstranten, die dieser Tage Post von den Polizei- und Justizbehörden bekommen haben?

Manche wollen einfach nur ihren Strafbefehl bezahlen und ihre Ruhe haben. Das ist verständlich. Wir raten aber, in jedem Falle die lokalen Antirepressionsorganisationen, also den Ermittlungsausschuß oder die Rote Hilfe, für eine Beratung zu kontaktieren. Dort können engagierte Anwälte vermittelt werden, die Erfahrung mit der Strafverfolgung nach Demonstrationen haben. Über den jeweiligen Fall sollte auch der Republikanische Anwaltsverein informiert werden. Dort werden zur Zeit weitere Klagen vorbereitet.

Infos: gipfelsoli.org und rote-hilfe.de

[http://www.jungewelt.de/2007/10-08/047.php]