2001-10-20 

Times they are a changin' - (k)eine Nostalgie

Die 90er Jahre waren für die Internationalismusbewegung harte Zeiten. Zumindest was die Mobilisierung auf der Straße angeht.

alaska 238, Oktober 2001

Die Demonstrationen 1992 in München aus Anlass des G7 Gipfels, des 500. Jahrestages der Conquista und der EU - Maastricht - Verträge sind von ihrem Politikverständnis als Ausläufer des Internationalismus der 80er Jahre zu bewerten. Mit der Demo in Köln 1999 anlässlich des Weltwirtschaftsgipfels erreichte die Internationalismusbewegung ihren Tiefpunkt hinsichtlich ihrer Mobilisierungsfähigkeit. Ansonsten dominierten in den 90er Jahren die Nichtregierungsorganisationen mit ihrem auf Konsens und Dialog orientierten Politikverständnis die Szene. Die Konferenzsäle hatten vor allem während der Zeit der großen UN-Kongresse die Straße als bevorzugten Ort des Protestes abgelöst. Seit Seattle scheint sich die Lage wieder zu ändern. Allmählich entstehen auch in Deutschland wieder mobilisierungsfähige Strukturen. Im folgenden soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit sich die jetzige Konstellation von der Situation der 80er Jahre unterscheidet. Der Höhepunkt war dabei das Jahr 1988. Gegen die Jahrestagung von IWF und Weltbank demonstrierten damals in Berlin 80 000 Menschen. Gibt es Erfahrungen aus dieser Zeit, an die man positiv anknüpfen kann? Oder sind die Rahmenbedingungen so unterschiedlich, dass ein Rückblick nur noch einen nostalgischen Wert hat? Soll man also der neues Bewegung am besten zur Geschichtsvergessenheit raten?

Die Fragen ist allein schon deshalb schwer zu beantworten, weil es "die Bewegungen" nicht gibt. Es handelt sich immer um ein Mix unterschiedlichster Strömungen mit unterschiedlichen politischen Optionen und theoretischen Ansätzen. Ein Vergleich fällt somit schwer. Allerdings gab und gibt es hegemoniale Strömungen, die den Bewegungen ihren Stempel aufdrücken. Das zweite Problem besteht darin, dass in Deutschland im Gegensatz zu anderen Ländern derzeit noch kaum von einer Bewegung gesprochen werden kann. Klar ist aber, dass etwas in Bewegung gekommen ist. Es gibt ein überraschend großes Interesse an der Kritik der neoliberalen Globalisierung vor allem auch bei jüngeren AktivistInnen. Diese Kritik äußert sich vielfach noch sehr diffus. Man spürt die Zwänge, die die Globalisierung ausübt, die Kritik daran ist aber oft noch sehr unausgegoren. Aufgrund ihrer scheinbar plausiblen und eingängigen Krisenanalysen und Forderungen profitieren derzeit vor allem Organisationen wie ATTAC von diesem Interesse durch einen massiven Zulauf. Aber auch radikalere Positionen wie die des BUKO werden in letzter Zeit auch häufiger nachgefragt. Alles in allem ist aber die Situation der neuen internationalen Protestbewegung sehr prekär. Die mörderischen Anschläge von New York sind in ihren negativen Folgen noch gar nicht zu übersehen.
Die folgenden Ausführungen sind somit mit Vorsicht zu genießen. Sie erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit und Systematik. Sie sollen nur blitzlichtartig den Unterschied in den Ausgangs- und Rahmenbedingungen verdeutlichen.

Der Epochenbruch von 89

Der entscheidende Unterschied liegt sicherlich im Epochenbruch von 89. Dieser hat das Terrain des Politischen radikal verändert. Linke Strukturen wurden in einem extremen Maße marginalisiert. Dies gilt vor allem für die Internationalismusbewegung, zumindest für den Teil, der nicht sofort alle Kleider wechseln und sich nicht den neuen Herrschaftsverhältnissen anpassen wollte. Diese Krise rief eine langwierige Selbstverständnisdebatte hervor, die im Prinzip bis heute nicht abgeschlossen ist (s.u.).

Durch die Implosion des autoritären Sozialismus wuchs in Deutschland der ohnehin sehr starke Antikommunismus noch einmal an. Betroffen waren davon alle emanzipatorischen Strömungen, also auch die, die immer schon den autoritären Kommunismus kritisiert hatten. Die Krise der Linken betraf somit alle Strömungen. Ein Spezifikum unterschied Deutschland von anderen Ländern. In Folge des Nationalsozialismus und dem Kalten Krieg gab es keine linke Tradition, auf die traditionell positiv Bezug genommen wurde. Dies sah in vielen Ländern Europas anders aus. Dort hatten die linken Parteien und Strömungen eine Identität, die von einem positiv besetzten Antifaschismus geprägt und im Alltagsbewußtsein und der Lebenswelt vieler Menschen verankert war. Dieses antifaschistische Element konnte nach 89 nicht so einfach in den Diskurs des Antikommunismus und Totalitarismus eingespeist werden wie in Deutschland. Die Krise, die die dortigen Parteien und Organisationen ebenfalls massiv traf, konnte durch diese Tradition zumindest abgefedert werden. Handlungsfähige Strukturen konnten aufrecht erhalten werden, auf die heute wieder zurückgegriffen werden kann (Italien, Griechenland). Dagegen gab es in Deutschland nie einen positiven Bezug auf einen linken Antifaschismus. Die DKP, die diese Tradition für sich reklamierte, konnte wegen unterschiedlicher Gründe nie die Bedeutung anderer kommunistischer Parteien erreichen. Stattdessen stellte man sich hier in die Tradition eines sehr stark von ständisch-autoritären Vorstellungen geprägten Antifaschismus des "20. Juli 1944". Selbst ein Johann Georg Elser, dem es fast gelang, Hitler bei einem Attentat zu töten, hatte bis in die 80er Jahre hinein keine Chance, vom konservativen Staatsantifaschismus anerkannt zu werden.

Die Bewegungsdynamik

In den 80er Jahren gab es zwei Mobilisierungshöhepunkte. Zu Anfang des Jahrzehnts stieß die Revolution der Sandinisten auf große Sympathie. Es ging um das Recht auf einen eigenen Entwicklungsweg eines kleinen Landes gegen die Bedrohungen der USA und den Contras. Ca. 15000 BrigadistInnen fuhren in den Jahren nach der Revolution nach Nikaragua, um die Revolution zu verteidigen. Wenn man die Netzwerke berücksichtigt, in denen sich die BrigadistInnen bewegten, so ist dies eine ungeheure Zahl. Die Effekte dieser Brigaden-Politik waren jedoch nicht nur positiv. Viele kamen mit dem Ansinnen "Entwicklungshilfe" zu leisten. Dieser paternalistische Hilfeansatz war in der Solidaritätsszene sehr verbreitet. Solidarität hieß bei vielen "helfen". So entstanden viele kleine alternative Projektruinen: Projekte, die scheiterten, weil sie oft über die Köpfe der Einheimischen hinweg geplant und durchgeführt wurden. Viele BrigadistInnen sahen oft nur noch ihr kleines Projekt, für das eifrig gesammelt und gespendet wurde. Darüber ging aber oft der politische Bezug verloren.
Das Internationalismusverständnis der 80er Jahre wies noch weitere Eigenheiten auf, die heute kaum noch eine Rolle spielen. Zum einen der hohe Grad an Identifikation mit nationalen Befreiungsbewegungen. Die sog. Ländersolidarität spielt heute nur noch eine sehr minoritäre Rolle. Dies hat zum anderen auch etwas damit zu tun, dass die damit verbundenen Vorstellungen von Entwicklung und Fortschritt heute illusionär geworden sind. Demnach sollten die Befreiungsbewegungen an der Macht durch einen nachholenden Industrialisierungsprozess den ökonomische Anschluss an die Industrieländer herstellen. Das Scheitern des linearen Entwicklungs- und Fortschrittsdenken des "Immer-Mehr" wurde durch den Ausbruch der Weltwirtschaftskrise von 1982 überdeutlich. Es ist von daher nicht verwunderlich, dass sich nach 1982 der Schwerpunkt von der Ländersolidarität auf die Kritik der Weltmarktstrukturen verlagerte. Der Focus der Kritik richtete sich auf die Bretton-Woods-Institutionen IWF und Weltbank und die Rolle, die sie bei der Moderierung und Verwaltung der Verschuldungskrise spielten.
Den Höhepunkt dieser Kritik bildeten die Proteste gegen die IWF/Weltbank-Tagung von 1988. Sie markierten aber auch den Endpunkt eines Bewegungszyklus mit einem hohen Mobilisierungsgrad. Gegen dieses Treffen demonstrierten allein in Berlin 80 000 Menschen. Es gab eine jahrelange Kampagne, in deren Verlauf in zahlreichen Büchern und Broschüren das argumentative Futter erarbeitet wurde. Alle linken und radikaldemokratischen Kräfte legten darauf ihren Schwerpunkt: von militanten Gruppen wie den RZ und den Autonomen bis hin zu den zahlreichen christlichen Gruppen. Der hohe Mobilisierungsfähigkeit, die Breite des Bündnisses gegen den Gipfel und eine für heutige Maßstäbe radikale antikapitalistische Plattform, ließ die AktivistInnen von einem "neuen Internationalismus" sprechen. Ferner wurde die Mobilisierung begünstigt durch zahlreiche Verbindungen zu anderen sozialen Bewegungen. Trotz aller Differenzen gab es doch eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen der Anti-AKW-, der Friedens-, der Ökologiebewegung und den Protesten gegen den Bau der Startbahn West am Frankfurter Flughafen mit der Internationalismusbewegung. Auch die Hausbesetzerbewegung ist in diesen Kontext zu verorten.

Im Gegensatz dazu agiert die heute entstehende Bewegung aus der Defensive heraus. Nach 89 kam es zu einer rassistischen Mobilisierung großer Teile der Bevölkerung, die in Hoyerswerda und Rostock pogromartige Ausmaße annahm. Im Kielwasser dieses Extremismus der Mitte verübten Neonazis zahlreiche Anschläge, meist auf "Ausländer". Dabei wurden zahlreiche Menschen ermordet. Von den staatlichen Apparaten wurden diese Morde als die Taten von unpolitischen bzw. politisch verwirrten Jugendlichen verniedlicht. Gleichzeitig wurde dieser rassistische Diskurs vor allem von den großen Volksparteien aufgegriffen und in der Asyldebatte kanalisiert. Mit der Änderung des Grundrechtsartikels 16 GG erhielt der Extremismus der Mitte seine offizielle Legitimation. Gegen diesen rassistischen Mainstream mussten antirassistische und antifaschistische Gruppen erstmal reine Defensivarbeit verrichten. Der Focus der Wahrnehmung verschob sich dadurch von den internationalen Zusammenhängen auf den spezifisch bundesdeutschen Raum. Dieser durchaus notwendige Perspektivenwechsel hatte aber zur Konsequenz, dass die Bedeutung der neoliberalen Globalisierung, die in den 90er Jahren eine bisher ungeahnte Dynamik entfaltete, kaum wahrgenommen wurde.
Internationale Vernetzung

Ein neues positives Element ist ferner, dass die internationale Vernetzung heute tatsächlich international ist. Natürlich gab es 1988 auch internationale Kontakte und Vernetzungen. Allerdings war dies in erster Linie eine Sache der Bewegungs- und NGO-Eliten. Heute haben sich die Kontakte vervielfacht. Eine wichtige Katalysatorfunktion hatten dabei die von den Zapatistas initiierten "Intergalaktischen Treffen". Infolge dieser Treffen bildeten sich global agierende Netzwerkstrukturen wie etwa PGA (Peoples Global Action) heraus. Die Globalisierung des Protestes zeigt sich auch im Erfolg des "Welt Sozial Forums" von Porto Alegre oder der international agierenden Bauernvereinigung "Via Campesina". Ohne die Möglichkeiten der neuen Kommunikationsmedien wie Internet und E-Mail wäre die Dichte dieser Beziehungen nicht vorstellbar. Der Informationsfluss konnte dadurch verbreitert, verstetigt und verdichtet werden. Eine wichtige Rolle spielt mittlerweile der linke Nachrichtendienst Indymedia. Mit Genua schaffte er seinen Durchbruch. Es war die entscheidende Bezugsquelle für Informationen.

Nationalistische und rechte Globalisierungskritik

1988 spielten rechte Positionen in der Bewegung gegen IWF und Weltbank eine völlig minoritäre Rolle. Heute versuchen rechtsradikale Gruppierungen massiv gegen die Globalisierung zu mobilisieren. Dabei wird Globalisierung bestimmt als Projekt der USA, die damit ihre imperialen Ansprüche, seien sie politischer, ökonomischer oder kultureller Art ausbauen und absichern wollten. Der offene Jubel nach den Anschlägen in den USA in rechtsradikalen Kreisen verdeutlicht diese Sicht von Globalisierung noch einmal. Welche Bedeutung nationalistische und rechtsradikale Strömungen in der Bewegung spielen werden, ist noch nicht abzusehen. Ich vermute, dass ihr Einfluss in der stärker werden wird. Bewegungen sind nicht per se links.

Das Parteienspektrum

Geändert hat sich auch das Verhältnis von Bewegung und Parteienspektrum. 1988 verstanden sich noch die weite Teile der Grünen als Spielbein der Bewegung. Natürlich hatte schon lange vorher ein Marginalisierungsprozess linker Positionen eingesetzt. Aber im Bundesvorstand und den Bundesarbeitsgemeinschaften dominierten nach wie vor linke Positionen. Auch in der Programmatik gab es kaum einen Unterschied zu großen Teilen der Bewegung. Umgekehrt galt Ähnliches: Die Grünen wurden von vielen lange als parlamentarischer-institutioneller Teil der Bewegung begriffen. AktivistInnen der Internationalismusbewegung wie Gaby Gottwald wurden über das Grünen-Ticket in den Bundestag gewählt. Zu den Trägerorganisationen des Anti-IWF/WB-Bündnisses gehörten damals sowohl der Bundesvorstand als auch die Bundestagsfraktion der Grünen. In der von ihnen mitgetragenen West-Berliner Erklärung heißt es: "Wir wissen, daß die Verwirklichung auch nur der allerdringlichsten Veränderungen nicht ohne tiefgreifende gesellschaftliche Umwälzungen in den Industrieländern möglich ist. Der Logik des Kapitals, die den internationalen Ausbeutungsstrukturen zugrunde liegt, müssen wir hier in der Bundesrepublik und West-Berlin entgegentreten. Unser Widerstand richtet sich deswegen gegen die Verursacher von Ausbeutung, Hunger und Elend. Unser Kampf gilt den bundesdeutschen Konzernen und Banken sowie einer Politik, die deren Interessen in diesem Land absichert und das bestehende kapitalistische Weltwirtschaftssystem stabilisiert." Der Bruch zwischen diesen Positionen und dem ökologisch angehauchten Neoliberalismus der heutigen Grünen ist tiefer kaum zu denken. Die Schwäche linker Politik in der BRD hat auch etwas mit dem Schock über die Entwicklung der Grünen hin zu einer stromlinienförmigen Partei des Yuppie-Bildungsbürgertums zu tun. Zahlreiche AktivistInnen, die ihre politische Biographie in den 80er Jahren wenn nicht mit der Partei so zumindest mit dem Projekt der Grünen verbunden hatten, haben sich resigniert aus der Politik zurückgezogen.
Ob daraus gelernt worden ist, bleibt abzuwarten. In die Parteien dürften derzeit nur wenige ihre Hoffnungen setzen. Die nach Genua einsetzenden Anbiederungsversuche eines Daniel Cohn-Bendit, der nach altväterlicher Manier des "Wir-waren-doch-auch-mal-jung-oder-links" auf den fahrenden Zug aufspringen wollte, wurden vorläufig zurückgewiesen. Auch die SPD ist eine Partei, die die neoliberale Globalisierung moderiert und forciert. Mittlerweile hat sie eine Neudefinition des Gerechtigkeitsbegriffes vorgenommen. Gerechtigkeit wird jetzt als "produktive Ungleichheit" verkauft. Diese fördert sie durch die Streichung von Sozialleistungen und wirkt somit einer unproduktiven Gleichheit und der Anspruchsmentalität entgegen.
Von der PDS waren in den Debatten der letzten Jahre kaum globalisierungskritische Positionen zu vernehmen. Aufgrund ihres (Noch-) Paria-Status im Parteiengefüge sind von ihr in Einzelfällen kritische Positionen nicht auszuschließen. Vor allem in den Bereichen Antirassismus und Antimilitarismus werden von einzelnen Abgeordneten immer wieder wichtige Initiativen und Anfragen gestartet. Wahrscheinlich ist aber, dass sie den Weg zu einer pragmatischen sozial-ökologischen Modernisierungspartei in den nächsten Jahren fortsetzen wird und unter Aufgabe radikaldemokratischer Positionen ihre Regierungsfähigkeit unter Beweis stellen wird.
Dass sich aufgrund der momentanen Situation im Parteienspektrum niemand Illusionen machen sollte, über die Parlamente könnten weitreichende gesellschaftliche Veränderungen erzielt werden, ist erstmal eine gute Ausgangsposition für eine antietatistische, tendenziell institutionskritische Bewegung, die sich nicht so einfach kooptieren läßt. Dass es solche Kooptationsbemühungen in nächster Zeit geben wird, ist mehr als wahrscheinlich. Dies könnte bei einer Strömung auf offene Ohren stoßen, die man vielleicht als internationale außerparlamentarische Sozialdemokratie bezeichnen kann. Große Teile von ATTAC gehören ihr an. Hierbei handelt es sich ebenfalls um ein neues Phänomen. Diese Strömung zeichnet sich durch eine starke etatistische Orientierung aus. Gemeint ist damit eine Politik, die an den Staat appelliert, die angeblich verselbstständigten Finanzmärkte wieder in einen internationalen Ordnungsrahmen einzubetten. Erreicht werden soll dies durch die Tobin-Tax, einer Steuer auf kurzfristige Finanzspekulationen. Damit orientiert sich diese Strömung an dem Regierungsprogramm des gescheiterten Finanzministers Oskar Lafontaine, der mittlerweile auch schon seine Sympathie für ATTAC bekundet hat.

Forderungen

Die Tobin-Tax ist ein Beispiel für die grundlegenden Unterschiede hinsichtlich der Reichweite und der Radikalität der Forderungen. In den Erklärungen von 1988 wurde betont, dass eine umfassende Schuldenstreichung nur als Ausgangspunkt für weiterreichende soziale Veränderungen zu verstehen sei. Diese Forderung war somit das Minimalprogramm der Bewegung. Dabei war man sich im klaren darüber, dass es sich nicht um eine pragmatisch-tagespolitische Forderung handelt. Sie sollte lediglich die Dimension aufzeigen, in der gesellschaftliche Veränderungen zu denken sind. Gerade der Utopiegehalt dieser Forderung hat damals zur hohen Mobilisierung beigetragen.
Demgegenüber stellt sich heute die Lage grundverschieden dar. Bei großen Teilen der Bewegung herrscht der Drang zur Positivität vor. Die Reichweite der Forderungen sind so begrenzt, dass sie ohne großen Probleme an die hegemonialen Diskurse anknüpfen können. Dahinter stecken relativ technokratische Vorstellungen von Politik, die diese nicht mehr als Effekt und Terrain sozialer Auseinandersetzungen begreift, sondern an die großen, starken Männer appelliert, die Politik jetzt mal wieder vernünftig zu gestalten. Ein utopischer Überschuss, der für die Stärke früherer Bewegungen von großer Bedeutung war, kann man bei den realpolitischen Forderungen von ATTAC kaum noch finden. Wahrscheinlich macht heute die Begrenztheit der Forderungen von Bewegungen wie ATTAC ihre momentane Attraktivität aus. Man kann sich nur wundern, welche Hoffnungen und Illusionen mit einer so kreuzbraven Forderung wie der Tobin Tax verbunden sind. Ein weiteres Beispiel für den Drang zum Machbaren und Positiven war die Erlassjahr 2000 Kampagne. Dort wurde von Kampagnenvertretern ernsthaft die Meinung vertreten, dass der minimale Schuldenerlass für die hochverschuldeten armen Länder im Rahmen der HIPC-Initiative eine mögliche Lösung der Schuldenkrise in Aussicht steht.

Das Scheitern des Lobbyismus

Dieser Hang zum Positiven und zum Machbaren ist sicher noch in einem hohen Maße beeinflusst vom Politikverständnis und den -formen der in den 90er Jahren dominanten Lobby-NGOs. Der Lobbyismus war mit dem Anspruch angetreten, eine realitätstaugliche, da pragmatisch umsetzbare Alternative zum Radikalismus der 80er Jahre anbieten zu können. Ihre Wortführer kamen aus allen (ehemaligen) linken Strömungen, u.a. auch aus dem BUKO. Die Bedeutung und die Tragweite des Lobbyismus ist nur vor dem Hintergrund des Epocheneinschnitts von 1989 zu verstehen. Der Lobbyismus machte sich die seit dieser Zeit gängige These zu eigen, dass eine grundsätzliche Alternative zum Kapitalismus nicht mehr möglich ist. Stattdessen gehe es "um kleine Schritte, nicht um endgültige Lösungen." (Lobbyhandbuch Germanwatch). Weiterreichenden Forderungen wurde eine Absage erteilt. Denn "wer sich gegen die ungerechten Welthandelsstrukturen im allgemeinen wendet, findet Gehör nur bei den ohnehin Überzeugten, nicht bei der entscheidenden Zielgruppe und wird sich deshalb wegen Erfolglosigkeit selbst frustrieren." Dies verdeutlicht, dass in den harmonisierenden Modellen des Lobbyismus gesellschaftliche Konflikte ausgeklammert und dadurch pazifiziert werden.

Ziel von Lobbypolitik ist nicht, die Profitlogik in Frage zu stellen. Im Gegenteil: Diese wird als Hebel und als Anreiz gesehen, die Welt zu verbessern. Unterstellt wird dabei, dass es so etwas wie eine win-win-Situation geben könne, also eine Situation, in der es nur Profiteure gibt. Die Formel dieser Münchhauseniade lautet: "Faktor Vier", so der Titel eines Erfolgsbuches von Ernst Ulrich von Weizsäcker und Amory B. Lovins: doppelter Wohlstand bei halbiertem Verbrauch.
Den Durchbruch fand der Lobbyismus bei der UNCED-Konferenz in Rio 1992. In der dort verabschiedeten Agenda 21 wurde den NGOs als Repräsentantenen der sog. Zivilgesellschaft eine wichtige Funktion bei der Lösung der Weltprobleme zugesprochen. Dies wurde von den VertreterInnen der NGOs und der Lobbygruppen als Ausdruck ihrer Stärke interpretiert und die damit verbundenen Integrations- uns Kooptationsbemühungen völlig unterschätzt. Ein konsensorientiertes, pragmatisches Politikverständnis feierte vor allem bei den großen UN-Konferenzen Mitte der 90er Jahre fröhliche Urstände. Die Konferenzsäle verdrängten die Straße als bevorzugtes Handlungsfeld von Protest.
Seit Seattle ist der Lobbyismus in der Krise. Die "Erfolge" sind vernachlässigenswert. In vielen Bereichen wie der Nachhaltigkeits- oder Entschuldungsdebatte hat er sich schlicht blamiert. Trotzdem übt er nach wie vor auch in Bewegungen wie ATTAC einen großen Einfluss aus. Zwar ist es seit Seattle gelungen, das Terrain der Auseinandersetzungen wieder von den Konferenzsälen auf die Straße zu verschieben, was bereits als großer Erfolg gewertet werden muss. Trotzdem ist die Grundkonstellation immer noch grundverschieden von der von 1988. Hatten damals die radikaleren, kapitalismuskritischeren Kräfte die Hegemonie in der Bewegung, so sind sie derzeit noch stark in der Minderheit. Ihre Aufgabe ist es, macht- und herrschaftskritische Positionen vernehmbar zu machen und zu verankern. Vorarbeiten wurden dazu u.a. im BUKO bereits geleistet.

Theoretische Verschiebungen und kollektive Symbole

In den Krisen- und Selbstverständnisdebatten nach 89 kam es aber auch zu wichtigen theoretischen Verschiebungen im radikaleren Spektrum. Viele Positionen, die vor 89 für die Bewegung von großer Bedeutung waren, spielen heute eine zu Recht eine geringere Rolle. Dies gilt vor allem für das Verständnis von Macht- und Herrschaft. Das lange dominierende Modell eines stark dichotomen Weltbildes von "Wir-Die", "Oben-Unten" oder "Gut-Böse" ist differenzierteren Analysen gewichen. Macht kann nicht mehr als das Gegenüber des eigenen Standortes gedacht werden. Wir sind selbst Teil von Machtstrukturen und reproduzieren diese. Unser Standort ist nicht das Jenseits der Macht. Allerdings ist Macht nicht gleich Macht. Es gibt hegemoniale Machtstrukturen in den jeweiligen Herrschaftsverhältnissen. Feministische Ansätze, der (De-) Konstruktivismus und die Cultural Studies haben hier zu einer differenzierteren Analyse von Macht beigetragen und einfache, oft verschwörungstheoretische Ansätze in den Hintergrund gedrängt. Es ist nicht das Finanzkapital, das alle anderen Menschen manipuliert. Es geht vielmehr um die Frage, die schon Spinoza formuliert hat: Warum kämpfen die Menschen um ihre Knechtschaft, als ginge es um ihr Heil? Antwort von Bourdieu: Weil die Menschen daraus einen materiellen, kulturellen oder zumindest einen symbolischen Mehrwert erzielen, also davon profitieren. Zumindest glauben sie dies. Damit hat eine Verschiebung stattgefunden von Ansätzen, die die Stabilität der gesellschaftlichen Ordnung durch die Manipulation der Massen oder in Anlehnung an die traditionelle Ideologietheorie durch ein "falsches Bewußtsein" erklären wollen. Nun liegt der Schwerpunkt bei der Frage nach der Wahrnehmung der gesellschaftlichen Ordnung durch die Subjekte. Welche Subjektposition nimmt jeder einzelne in der diskursiven Ordnung ein und warum tut er das? Wie funktioniert die Konstruktion von kollektiven Identitäten von "Wir" und die "Anderen"? Warum fühlst DU dich als deutscher Arbeitnehmer? Und warum tust DU und DU und DU das? Durch diese Konstruktion von Identitäten (deutsch, weiß, Mann) und den dazugehörigen Leitbegriffen ( Fortschritt, Demokratie, Zivilisation, Fleiß, Ordnung usw.) entsteht eine symbolische Diskursordnung, die zwar immer auch umkämpft, aber trotzdem erstaunlich stabil ist.
Aufgrund dieser Ausführungen sollte dreierlei deutlich geworden sein:
· Es gibt kein Apriori zur Befreiung und zur Emanzipation berufenes individuelles oder kollektives Subjekt auf das man sich beziehen kann. Es sind nicht die Völker und Nationen der sog. Dritten Welt, es sind nicht die ausgebeuteten Massen; es sind nicht die Frauen und auch nicht das Proletariat. Sie tun dies nur zu bestimmten Zeiten und zu bestimmten Bedingungen, die nicht verallgemeinerbar sind.
· Eine Bildsprache, die die Macht auf den Zigarre rauchenden fetten Kapitalisten mit Zylinder und Peitsche reduziert oder als Krake darstellt, die die ganze Welt umschlingt und erdrückt, kann heute nicht mehr verwendet werden. Eine solche Kollektivsymbolik war 1988 noch gang und gäbe, ist aber heute zu Recht fast völlig verschwunden.
· Es kann kein Basis-Überbau-Modell in dem Sinne mehr geben, dass etwa die Ökonomie andere Herrschaftsverhältnisse wie Rassismus und Patriarchat determiniert. Diese treten nicht erst äußerlich der Ökonomie hinzu, sondern haben sich immer schon in die Struktur des Ökonomischen eingeschrieben. Dies gilt natürlich auch umgekehrt.

Das fehlende eindeutige Feindbild und die Differenziertheit der Machtverhältnisse macht die Sache nicht gerade leichter. Und mir ist auch klar, dass eine Bewegung Zuspitzungen braucht. Ein Demoaufruftext kann nicht in der Sprache einer Seminararbeit geschrieben werden. Aber man sollte sich immer vor Augen halten, dass gerade das Scheitern scheinbar sicherer Gewissheiten zur Verabschiedung vieler Menschen aus der Politik geführt hat.
moe/ BUKO-ASWW