2007-06-12 

Berliner Zeitung: Vater, Mutter, Schwarzer Block

"Wir zittern, wenn er zur Demo geht" - Die Eltern sind Zehlendorfer Bürger, der Sohn zieht mit den Autonomen zum G8-Gipfel und wird verhaftet

Frank Junghänel

BERLIN. Am Ende seiner Rostocker Woche bleibt Dirk Vieting* nichts weiter übrig, als schmutzige Wäsche zu waschen. Es ist schwarze Wäsche, die seine Mutter Kristina sorgfältig auf dem Trockner im Garten ausgebreitet hat, einem kleinen Stück Grün hinter einem Reihenhaus im Stadtteil Zehlendorf. Pflanzen und Blumentöpfe, wohin man tritt, jedes Fleckchen Erde wird bewirtschaftet, auf dem Tisch stehen Plätzchen, selbst gebacken, mit Zuckerguss belegt. Nun flattert dort also schwarze Garderobe, die so gar nicht in diese friedliche Atmosphäre zu gehören scheint; ein Kapuzenshirt, eine Hose mit Seitentaschen, ein paar T-Shirts, der Rest liegt noch nass in der Plastikschüssel. Es sind die Sachen, die Dirk bei seiner Reise zu den Protesten gegen den G8-Gipfel getragen hat. Man muss sagen, es ist sein Kampfanzug - oder sein Kostüm, je nach Sichtweise.

Cars

2. Juni Rostock

Dirk Vieting, achtzehn Jahre alt und Gymnasiast aus Berlin, ist bei der Großdemonstration am 2. Juni im schwarzen Block durch Rostock marschiert; er war bei den Krawallen am Hafen mit dabei, ohne selbst Steine geworfen zu haben - wie er beteuert. Er wurde am Tag danach am Rande eines Konzerts verhaftet, weil er eine Stoffmaske zur Vermummung bei sich trug. Er kam in eine so genannte Gefangenensammelstelle, "Gesa" und musste dort viele Stunden in einem jener Käfige verbringen, von deren Existenz die Öffentlichkeit in den letzten Tagen erfuhr. Er wurde in die Justizvollzugsanstalt Bützow überführt, wo er drei Tage verbrachte, bis er nach einem Einspruch am vergangenen Donnerstag freikam.

Wenn er jetzt im Garten sitzt und von seinen Erlebnissen in Rostock berichtet, lernen die Eltern ihren Sohn beinahe wie einen Fremden kennen. Sie erfahren Dinge, die sie entsetzen, sie hören von politischen Einstellungen, für die sie durchaus Verständnis haben, sie sind empört, als es um den Käfig geht. Sie stehen zu ihrem Sohn, auch wenn sie ihn manchmal nicht verstehen. Nun ist jeder 18-Jährige seinen Eltern ein Rätsel, aber was, wenn die Überzeugungen des Kindes immer weiter von den eigenen abdriften?

Dirks Vater hat in den sechziger Jahren an der Freien Universität Politologie studiert, er ist Sozialdemokrat, wählt die Grünen; Dirks Mutter arbeitet als Musiklehrerin an einer Waldorfschule und nun hören sie ihren Sohn sagen, dass er Gewalt zumindest akzeptiert. "Fliegt ein Stein, weil einer Bock hat, einen Bullen abzuschmeißen, ist das einfach nur peinlich", sagt Dirk, "bei einem politischen Stein habe ich das Gefühl, dass die Leute wissen, was sie tun." Ein politischer Stein wäre nach seiner Deutung ein Stein, der zum Beispiel in eine Sparkassenfiliale fliegt wie in Rostock.

Der Vater schüttelt den Kopf, "oh Gott, oh Gott", die Mutter meint, "wir haben unser Geld doch auch auf der Sparkasse". Die Situation gleicht eher einer Familientherapie als einem gewöhnlichen Interview. Rechts und links auf Klappstühlen haben Vater und Mutter Platz genommen, in der Mitte ihr Sohn, der als einziger raucht. Der Vater bittet ihn, den Aschenbecher zu nutzen.

Ohne seine Verkleidung wirkt der Schüler Dirk schmal, nachdenklich. Er trägt ein helles T-Shirt, grüne Hose, eine randlose Brille, er spricht ruhig und überlegt. Doch wenn er sich für die Straße zurechtmacht, ist er nicht wiederzuerkennen. So war es auch bei der G8-Demonstration in Rostock, wo er sich mit seinen Kumpels aus Berlin bei der "Interventionistischen Linken" einreihte, mit Sonnenbrille, Basecap, Kapuze "so richtig black-bloc-style", wie er sagt. Seine Eltern haben ihn in diesem Aufzug noch nie gesehen.

Sie sagen, "wir zittern immer, wenn er zur Demo geht."

Seit seinem 10. Lebensjahr interessiert sich Dirk für Politik. Er hat sich mit Greenpeace für die Rettung der Wale eingesetzt, den Schutz der Tropen. Als er fünfzehn war, genügte ihm das nicht mehr. Bei der Demonstration gegen die Räumung eines besetzten Hauses, zu der ihn Freunde mitgenommen hatten, wurde er von der Polizei abgeführt. Dabei trat er einem Beamten in die Weichteile, was als gefährliche Körperverletzung bewertet wurde. "Da war ich noch nicht richtig links", sagt Dirk, "ich habe mich später bei dem Polizisten entschuldigt".

Heute ist er in der Antifa aktiv. In seiner Gruppe, "durchweg eher Bildungsbürgertum", sind ausschließlich Gymnasiasten und Studenten organisiert. Wenn Dirk von dem Rostocker Protestzug spricht, der in den schwersten Krawallen der letzten Jahre endete, tut er das mit einem Sinn für taktische Details. An die politischen Losungen kann er sich nicht erinnern, "die üblichen halt". Es geht wie immer um "die Bullen", was die Polizei vorhat, wie sie drauf ist, wie man sie austrickst.

Die Mutter hakt ein, "ich schimpfe immer, wenn er Bullen sagt. Das sind Menschen."

"Na ja", sagt Dirk und erzählt weiter aus dem Schwarzen Block. Es seien in Rostock viele Ausländer dabei gewesen, Franzosen, Spanier, Italiener, "absolut multikulturell". Die Franzosen hätten die die Sparkasse in der Innenstadt "entglast". Ansonsten hätten Leute immer mal wieder "kleine Heuler auf die Bullen geworfen", wer sie abfeuerte, weiß er nicht. Später sei die Situation eskaliert, als ein "Bullenauto" Ziel der Steinewerfer wurde. Ein Streifenwagen sei "eine gewisse Verlockung".

Noch durch die zerschlagenen Autoscheiben wurden die ungeschützten Polizisten von allen Seiten mit Pflastersteinen beworfen.

Dirks Vater sagt, "ich hab' früher viele Demonstrationen erlebt, in den Siebzigern war jede Woche auf dem Ku'damm eine Demo. Ein einziges Mal hatte ich einen Stein in der Hand. Ich wollte den als Andenken mitnehmen. In dem Moment kam ein Professor vorbei und hat mich scharf angesehen." Dann sagt er: "Vor den Autonomen hatte ich immer Angst. Schrecklich. Vielleicht muss ich vor dir auch Angst haben."

Sein Sohn lächelt.

Womöglich kommt es gerade darauf an, Menschen wie seinem Vater Angst einzujagen. Leuten, die immer das Beste für ihre Kinder und für ihr Land wollten und sich sicher sind, dass sie das auch ganz gut hinbekommen haben.

"Wir diskutieren viel", sagt der Vater, "die Welt, in der wir leben, ist nicht ideal, aber es ist die beste, die wir kriegen können."

Da ist Dirk anderer Ansicht: "Nach unserem Selbstverständnis ist der Kapitalismus faschistoid.

Vater: "Aber du lebst doch hier ganz gut im Kapitalismus."

Sohn: "Als Globalisierungskritiker sehe ich nicht nur auf Deutschland, wo es allen gut geht. Von einer gerechten Welt zu träumen ist ja nicht verboten."

Vater: "Aber Steine schmeißen."

Sohn: "Hab' ich ja nicht."

Vater: "Ich kann die Motivation verstehen, dass Leute empört sind über Ungerechtigkeiten, doch Gewalt - höchstens aus Notwehr."

Sohn: "Genau, aus Notwehr gegen den Kapitalismus."

Vater: "Oh nein. Wie vor vierzig Jahren. Ihr seid geschichtsblind, dabei könntet ihr das besser wissen. Noch niemals hat Gewalt zu einer besseren Gesellschaft geführt."

Kristina Vieting ringt die Hände, die vergangene Woche hat sie mitgenommen. Seit sie erfahren hatte, dass Dirk im Gefängnis sitzt, war sie völlig aufgelöst und ihre Gedanken kreisten nicht nur um das Gewaltmonopol des Staates, sondern auch um ganz praktische Fragen. Wie oft wäscht sich das Kind? Hat der Junge genug frische Unterhosen mit? Er wollte ja eigentlich am Montag wieder in der Schule sein.

An einem Morgen um halb fünf schreibt sie einen Brief an Innenminister Wolfgang Schäuble. Sie fragt, "Wie soll ich mich meinem Sohn gegenüber verhalten? Da es sich um eine Jugendgruppe handelt, sind mein Sohn und seine Freunde in ihren Ansichten manchmal in unseren ,konservativen' Augen etwas zu radikal, aber sie versuchen sich politisch einzumischen. Was soll ich ihm sagen, wenn er wieder nach Hause darf? Was setzt sich bei den Jugendlichen jetzt durch: Liebe oder Hass auf dieses System?" Der Innenminister hat nicht geantwortet.

Dirk Vieting wurde am Tag nach den Krawallen festgenommen. Die Stimmung sei entspannt gewesen, sagt er, die Polizei habe nur Routine-Kontrollen durchgeführt. An die Sturmhaube, die er in seiner Seitentasche trug, auch "Hasskappe" genannt oder "Hassi", habe er nicht mehr gedacht. Er sagt, er habe die Maske auf der Straße gefunden und eingesteckt. Zudem trug er Augentropfen gegen Tränengas und Verbandszeug bei sich. Damit war es den Beamten erlaubt, ihn nach den Gesetzen von Mecklenburg-Vorpommern in Gewahrsam zu nehmen. Er hatte Gegenstände dabei, "die ersichtlich zur Tatbegehung" bestimmt sind "oder erfahrungsgemäß bei derartigen Taten verwendet werden". Dirk Vieting kam in die Gefangenensammelstelle II in der Industriestraße in Rostock.

Vater: "Die Verhaftung war formal gerechtfertigt. Das mit den Käfigen aber finde ich schlimm."

Mutter: "Vielleicht wird er noch radikaler, als er schon ist."

Nach Schätzung ihres Sohnes standen in einer leeren Fabrikhalle zwanzig bis dreißig Eisenkäfige, jeder zirka sechs mal vier Meter groß und zwei Meter hoch. Dort habe er die halbe Nacht auf nacktem Betonfußboden verbracht, bis er einem Richter vorgeführt wurde. Die ganze Zeit über habe Licht gebrannt. Der Richter bestätigte den Gewahrsam, in dem Beschluss des Amtsgerichtes heißt es: "Letztlich ist seine Anzugsordnung (schwarze Kleidung) Indiz für die Gewaltbereitschaft."

Dirk Vieting wird in Handschellen in die Justizvollzugsanstalt nach Bützow gebracht. Dort sollte er bleiben, bis der G8-Gipfel zu Ende ist.

Er reicht Beschwerde ein und wird zurück nach Rostock gefahren. Es ist Mittwoch, in Heiligendamm beginnt der Gipfel. Fast einen weiteren Tag verbringt Dirk im Käfig, bevor der Richter des Landgerichtes entscheidet: "Der Betroffene ist sofort auf freien Fuß zu setzen."

Er fährt zurück nach Bützow, wo noch seine Sachen liegen und weiter ins Camp Reddelich. Die Blockaden sind vorbei. Abends gucken alle einen Film: "Piraten der Karibik 3".

Was die Woche von Rostock für ihren Sohn bedeutet, können seine Eltern nicht ermessen. Abenteuer, Trauma, Schlüsselerlebnis. Er selbst sagt, "jetzt habe ich einen Knast von innen gesehen. Ich bin enttäuscht vom sogenannten Rechtsstaat".

Der Vater sagt, "Dank des Rechtsstaates bist du da so schnell wieder rausgekommen." Die Mutter meint, vielleicht wäre Jura das richtige Studium, nach all diesen Erlebnissen. Dirk weiß nicht, was er werden will.

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* Name geändert

Berliner Zeitung, 12.06.2007