2007-09-10
Die Bewegungen an der Anti-Terrorismus-Front in Europa werden immer ominöser – weniger wegen einem erkennbaren Anstieg terroristischer Aktivitäten, als vielmehr wegen der Versuche europäischer Regierungen, die Opposition zu kriminalisieren. Von NEIL SMITH
Zunächst war zu hören, dass die deutsche Regierung gegen 17 Topjournalist_innen ermittelte, die Artikel über die parlamentarische Untersuchung zur deutschen Beteiligung an den Auslieferungs-Flügen des CIA in Europa veröffentlicht hatten. Dieselbe Woche sah noch gruseligere Entwicklungen. Gegen mehrere deutsche Stadtsoziologen wurde verdeckt ermittelt, und sie wurden wegen Terrorismusverdachts angeklagt – einer von ihnen inhaftiert. Zu den Anklagegründen zählen die Forschungen, mit denen sie beschäftigt waren, und Leute, mit denen sie im Zuge dessen gesprochen haben mögen.
Dr. Andrej Holm, ein 36-jähriger Stadtsoziologe der Berliner Humboldt Universität wurde am 31. Juli verhaftet. Er forschte über Gentrifizierung in Berlin und ist Autor des Buches "Die Restrukturierung des Raumes". Im Hubschrauber wurde er zum Bundesgerichtshof in Karlsruhe gebracht und wegen des Verdachts auf "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" gemäß der deutschen Anti-Terrorismus-Gesetzgebung inhaftiert. Er saß in Einzelhaft in Berlin Moabit, 23 Stunden am Tag in seiner Zelle, fast ohne Zugang zu Anwält_innen und kaum Kontakt zur Familie inklusive seiner drei Kinder.
Die Wohnungen und Büros der anderen drei Wissenschaftler wurden ebenso durchsucht. Ihre Computer, Telefonbücher und andere Forschungsmaterialien wurden kontrolliert und konfisziert. Alle vier waren seit September 2006 überwacht worden und sind nun wegen des Verdachts auf Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, die "militante gruppe" genannt wird, angeklagt. Die Durchsuchungen und die Verhaftung von Holm wurden scheinbar durch vorangegangene Verhaftungen von drei Leuten, denen vorgeworfen wird, mehrere Armeefahrzeuge in Brand gesetzt zu haben, ausgelöst. Statt die erklärtermaßen antimilitaristischen Aktivisten wegen Vandalismus zu belangen, greift die deutsche Regierung auf den § 129a des deutschen Strafgesetzbuches zurück. Der Paragraph 129a wurde 1976 im Zuge der staatlichen Verfolgung der Baader-Meinhof-Gruppe eingeführt, doch kürzlich zur Bekämpfung des "globalen Krieg gegen den Terror" ("global war on terror", kurz: GWOT) wieder aus der Mottenkiste geholt.
Da der § 129a explizit auf Gruppen, nicht aber auf Individuen, anwendbar ist, haben die Behörden beträchtliche Anstrengungen unternommen, um Holm und seinen Wissenschaftler-Kollegen eine Kontaktschuld nachzuweisen. Tatsächlich stützen sich die meisten Anklagepunkte gegen ihn auf Taten anderer. Einer der Wissenschaftler; Matthias B., wird beschuldigt, "Wörter und Phrasen", darunter das Wort "Gentrifizierung", verwendet zu haben, die auch die "militante gruppe" benutzt haben soll. Er sei in der Lage, die "anspruchsvollen Texte" der Gruppe zu schreiben, und habe Zugang zur Bibliothek seines Forschungsinstituts. Der Bundesstaatsanwaltschaft ist dies Beweis genug dafür, dass die Wissenschaftler als intellektuelle Köpfe der "militanten gruppe" gehandelt haben könnten. Einem Weiteren wird vorgeworfen, sich mit einem der drei Brandstifter getroffen zu haben, und ein Dritter wird verdächtigt, weil einige ihrer Telefonnummern in seinem Adressbuch standen.
Holms vorgebliches Verbrechen ist, dass er "enge Kontakte" zu den anderen drei angeklagten Akademikern unterhielt. Weiterhin wird ihm vorgeworfen, dass er am "linksextremistischen" Protest gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm teilgenommen hat, den die deutsche Regierung durch präventive Durchsuchungen mittels Überfallkommandos im Mai zu unterbinden versuchte. Zudem habe er sein Handy "absichtlich" zu Treffen nicht mitgenommen. Es mutet kafkaesk an, das Fehlen des Handys – das die Versuche der deutschen Behörden, ihn zu verfolgen, behinderte – als "konspiratives Verhalten" zu deuten. Die Behörden sehen zudem in Holms häufiger Verwendung der Begriffe "Gentrifizierung" und "Ungleichheit" in seinen wissenschaftlichen Arbeiten einen Hinweis auf eine Verbindung zur "militanten gruppe". Schockierend ist, dass sich die deutsche Regierung befugt fühlt, den Inhalt von Wissenschaft als Beweis für Terrorismus anzuführen. Ein offener Brief, mit dem deutsche und internationale Wissenschaftler_innen gegen den Fall protestieren, heißt es "damit wird kritische Forschung, und gerade solche, die mit politischem Engagement verbunden ist, zu 'Terrorismus'".
Der Widerspruch wächst gegen diese aberwitzigen Vorwürfe, in denen eine gewisse Verzweiflung der deutschen Behörden, Ermittlungserfolge im Krieg gegen den Terror vorzuweisen, zum Ausdruck kommt. Der Protest explodierte nahezu unmittelbar nach den Verhaftungen in Form von Demonstrationen im August in Berlin und anderswo in Deutschland. Eine breite Koalition für die sofortige Abschaffung des Paragraphen 129a hat sich gebildet, und die deutsche Partei "Die Grünen" will das Thema in den Bundestag einbringen. Mehr als 3.000 Stadtforscher_innen von Universitäten und wissenschaftlichen Einrichtungen aus der ganzen Welt sowie Aktivist_innen haben den offenen Brief gegen die Verhaftungen und für die Abschaffung des §129a unterzeichnet (siehe www.einstellung.so36.net/de). Scharfen Protest formulierte eine Resolution der Jahreskonferenz der American Sociological Association; die International Critical Geography Group kritisierte die Verhaftungen, und ein weiterer Protestbrief wurde kürzlich auf einer Versammlung internationaler Stadtforscher_innen in Vancouver verfasst. Zwei in Großbritannien arbeitende US-Wissenschaftler_innen sprachen angesichts der Anklagen und Verhaftungen von "Guantánamo in Deutschland". Die deutsche Regierung verweigerte zunächst jegliche Stellungnahme zum Fall. Doch mittlerweile es zeichnen sich erste Erfolge der internationalen Proteste ab. Nach mehr als drei Wochen im Gefängnis wurde Holm auf Kaution entlassen, und der Bundesgerichtshof, deutlich skeptisch bezüglich der Gründe für den Terrorismusvorwurf, lehnte zumindest vorerst den Antrag der Bundesanwaltschaft, ihn zurück ins Gefängnis zu bringen, ab. Dennoch wird die Anklage gegen die sieben Personen aufrecht erhalten.
Wenn dieser Fall zur Richtschnur wird, dann schafft § 129a praktisch eine Kontaktschuld. Er ist ein Geschenk der Vergangenheit an den zunehmend intoleranten deutschen Staat. Doch Deutschland steht damit nicht allein. In den Vereinigten Staaten wurden kürzlich zahlreiche nicht-gewalttätige Aktivist_innen und Unschuldige, die zur falschen Zeit am falschen Ort erwischt wurden, strafrechtlich verfolgt. Die britische Regierung drohte unlängst damit, die Anti-Terrorismus-Gesetzgebung gegen die Umweltaktivist_innen von Heathrow anzuwenden. In diesen Fällen wird die Bedrohung "Terrorismus" beschworen, um die Repression der legitimen Opposition gegenüber Regierungspolitiken zu rechtfertigen. Wie sonst sollten wir das Knurren des Verfassungsschutzes angesichts des Wortes "Gentrifizierung" interpretieren? Das Verstörende am Präzedenzfall aus Deutschland ist, dass die Schriften, Forschungen und wissenschaftlichen Arbeiten der Leute – ganz zu schweigen ihre Handy-Abstinenz – als Beweis gegen sie verwendet werde kann und wird. Wenn der deutsche Staat damit davonkommt, dann wird ein internationaler Standard gesetzt, und Andersdenkende in der ganzen Welt werden eine neue Kälte zu spüren bekommen.
[The Nation, 06.09.2007]