2001-12-31
Eine Standortbestimmung jenseits vom Neuen Internationalismus
Redaktion alaska
Internationalismus ist mehr als die weit verbreitete Anschauung, daß heute alles irgendwie global ist. Internationalismus heißt, die Frage nach Herrschaft und Befreiung (Emanzipation) in einem weltweiten Rahmen zu sehen und zu stellen. Internationalismus heißt gleichzeitig, die heutige Ordnung der Welt nicht nur als ein Bündel von Problemen, sondern als eine herrschaftsförmige Ordnung zu sehen - eine Ordnung, die auf der Geschichte der kolonialen und imperialistischen Unterwerfung der Welt durch die Länder des Nordens beruht, aber auch auf der Geschichte des Widerstands und der Emanzipation hier wie dort. Internationalismus bejaht das prinzipielle Recht der Menschen auf Selbstbefreiung und die Notwendigkeit, sich dabei gegenseitig zu unterstützen, über die Grenzen von Nationen und wirtschaftlichen Blöcken hinweg.
Soviel ist immer noch richtig. Internationalismus bedarf heute jedoch einer Neubestimmung angesichts einer veränderten Weltlage; er bedarf auch einer kritischen Neubegründung hinsichtlich dessen, was man sich unter Emanzipation vorgestellt hat und zukünftig vorstellen soll. In den Diskussionen um einen "Neuen Internationalismus", die um 1992 herum geführt wurden, ist eine solche Neubestimmung begonnen worden, gleichzeitig wurde ihr jedoch auch ausgewichen. Ein postmoderner Internationalismus muß an diesen Debatten anknüpfen und über sie hinausgehen.
Als veränderte Rahmenbedingungen für internationalistische Politik in den letzten Jahren werden meist übereinstimmend genannt (das sind aus unserer Perspektive bei weitem nicht alle, aber die, über die man sich allgemein einig ist):
- der Zusammenbruch der realsozialistischen Staaten und damit das Ende der Systemkonkurrenz;
- das Scheitern der nationalen Befreiungsbewegungen, jedenfalls bei dem Versuch, eine neue, zukunftsweisende gesellschaftliche Ordnung im eigenen Land zu etablieren;
- eine von den Transnationalen Konzernen und Banken getragene weltweite Integration und Flexibilisierung der Produktion, die die Verhandlungsmacht von Arbeit untergräbt, die ökonomische Souveränität der Nationalstaaten schwächt, und in der Marginalisierung und Ausschluß eine stärkere Drohung zu sein scheint als Ausbeutung;
- die ökologische Unhaltbarkeit des bisherigen globalen Entwicklungsmodells.
Das ist jedoch nur die eine Seite. Die andere Seite ist, daß sowohl die Politik der realsozialistischen Staaten, als auch der nationalen Befreiungsbewegungen, als auch der Internationalismusbewegung Teil eines Emanzipationsmodells war, das heute nicht mehr akzeptabel ist. Selbst wenn wir von den Fällen absehen, wo in rein zynischer Weise auf Sozialismus, Befreiung und Internationalismus Bezug genommen wurde (vom "Sozialismus" Rumäniens über die "nationale Befreiung" Kambodschas bis zur Selektion nach jüdischen und nichtjüdischen Passagieren an Bord eines unter Mitwirkung deutscher Linker entführten Flugzeugs), bleibt festzuhalten, daß auch der "Normalfall" dieses Emanzipationsmodells patriarchal und autoritär war und in vielerlei Hinsicht Unterdrückungsstrukturen legitimiert und Emanzipation verhindert hat.
Von den "Modellstaaten" ist keiner geblieben. Von einigen ist heute unverständlich, wie sich die Internat-Bewegung teilweise so positiv drauf beziehen konnte, z.B. China. Auch diejenigen, die wir immer noch als positive Beispiele verbuchen würden, wie Kuba, Nicaragua, Uganda zeigten die typischen Elemente einer tendenziell autoritären Verfassung und einer tendenziellen Ignoranz gegenüber indigenen Bewegungen, Feminismus, Homosexualität, etc. (Dabei ist es eine im Einzelfall zu führende, notwendige Diskussion, welche Autoritarismen in der revolutionären Situation schwer vermeidbar oder historisch alternativlos waren, und für welche das sozialistische Emanzipationsmodell oder ein direktes Herrschaftsinteresse verantwortlich waren.)
Das Pathos, mit dem die internationale Befreiung gefeiert wurde, war dasselbe, mit dem feministische Emanzipation beiseitegewischt wurde. Während die Theorie vom "Hauptwiderspruch" Kapital-Arbeit in der Internationalismus-Bewegung immer kritisiert wurde, hält sich bis heute die Neigung, sich einer "Hauptaufgabe" zu widmen, der gegenüber die multiplen Unterdrückungsstrukturen dann doch bloßes Beiwerk sind. Die Sehnsucht, die Rückkehr zu den "harten Fragen" möchte wieder mehr Eindeutigkeit und Orientierung bringen, scheint gerade in letzter Zeit wieder zuzunehmen.
Die Internationalismus-Bewegung hat sich an der Suche nach Ansätzen beteiligt, die diese Situation überwinden, z.B. durch die Rezeption des Triple-Oppression-Ansatzes oder die Auseinandersetzung mit der Subsistenztheorie. Die internationalistische Debatte ab 1992 hat Wesentliches zu einer Neubestimmung linker Politik beigetragen. Sie hat es jedoch bis jetzt nicht geschafft, ein erneuertes Modell politischer Utopie und Strategie hervorzubringen, das gegenüber der erfolgten Kritik und Selbstkritik Bestand hat und auch in den eigenen Zusammenhängen, ihrer Alltagsebene, als revolutionierende Kraft spürbar wird.
Vom Neuen Internationalismus ...
Seit den Zeiten von 68, besonders aber in den letzten 20 Jahren sind die traditionellen Vorstellungen darüber, was linke und internationalistische Politik ist, in vielfacher Weise kritisiert und zu Recht revidiert worden. Einige dieser Revisionen sind:
- Es gibt nicht das "revolutionäre Subjekt". Emanzipative Prozesse entfalten sich entlang der umfassenden, alle Lebensbereiche und Wahrnehmungsebenen betreffenden, Politisierung des Subjekts als Unikat.
- Das Konzept der Avantgarde ist am Ende. Die Herrschaftsverhältnisse durchziehen uns alle, wenn auch in unterschiedlicher Weise. Wir alle haben uns in Selbstveränderungsprozesse einzubringen und nicht Führung, sondern Selbstbestimmung ist gefragt. Linke Dominanzkultur hat viele Befreiungsansätze zerstört.
- Es gibt keinen Hauptwiderspruch. Elementar ist die Vernetzung und historische Dynamik von Herrschaft zu verstehen, wie auch ihren Doppelcharakter von Ausgrenzung wie auch Integration. Wir sehen mehr als Kapitalismus, aber auch mehr als Kapitalismus, Rassismus und Sexismus.
- Es funktioniert nicht, die zentrale Staatsmacht zu übernehmen und dann die Gesellschaft von oben emanzipativ zu gestalten. Die Macht hat viele Zentren, und Emanzipation muß im Wesentlichen aus der Gesellschaft heraus erfolgen, von staatlicher Politik nur flankiert.
- Fortschritt/Entwicklung ist nicht per se progressiv. Ökonomische Modernisierung entfaltet nicht automatisch demokratisch-sozialistische Potentiale. Ganz im Gegenteil stellt sie häufig eine Form von sozialem Krieg und politischer Unterwerfung dar.
- Es gibt keine "Objektivität", von der aus man erkennen kann, wie die Lage anderer ist und was sie brauchen.
- Demokratisierung, Gleichheitspolitik, Identitätspolitik (also interne Gleichheit in der Gruppe) sind in hohem Maße problematisch, weil sie gegenüber den neueren "abstrakten" Unterdrückungsformen (also "entgeschlechtlichtes" Patriarchat, "räumlich entgrenzter" Norden, "entfärbter" Rassismus etc.) mindestens wirkungslos sind bzw. diese sogar untermauern.
- Vergesellschaftung, gesellschaftliche Planung, "rationale Bedürfnisbefriedigung" ist nicht der Schlüssel zu linker Politik. Derartige Konzepte haben erstens enge Grenzen, weil z.B. eine totale Kollektivierung von Reproduktion weder möglich noch wünschenswert ist, und können zweitens für sehr unterschiedliche Programme genutzt werden, verbürgen also keineswegs Emanzipation.
... zur postmodernen Kritik
Diese Revisionen sind in der Debatte um "Neuen Internationalismus" bereits gesehen und vollzogen worden. Ihre Hauptkonsequenzen waren,
- den Widerstand gegen die Verhältnisse im eigenen Land zu betonen,
- die Gleichberechtigung verschiedener Unterdrückungsstrukturen praktisch anzuerkennen und
- den Industrialismus des Nordens nicht mehr als das eine, von allen anderen nachzuvollziehende Entwicklungsmodell zu sehen.
An den traditionellen linken Vorstellungen von Emanzipation wurde jedoch nicht gerüttelt. Linke Politik ist traditionellerweise von einer Emanzipationsvorstellung getragen, die typisch "modern" gedacht ist. Diese klassischen, "moderne" Vorstellung von Emanzipation und ihrer "Radikalität" beinhaltete:
- Zwischen den Verhältnissen und der emanzipativen Bewegung gebe es einen radikaler Bruch, eine absolute Trennung.
- Emanzipation ist total, sie kann und muß jeden Lebensbereich und jeden gesellschaftlichen Bereich erfassen, sonst ist sie nicht "radikal".
- Wirkliche Emanzipation hebt Ungleichheit auf, auch das Problem ungleicher Macht. Deshalb macht wirkliche Emanzipation jedes Nachdenkens über Repräsentation und Macht "hinterher" überflüssig.
- Befreiung ist die "Freisetzung" von etwas, was es schon gibt und sich aus den Verhältnissen befreit (wie wenn es nicht auch von den Verhältnissen geprägt und darum auch zu verändern wäre).
- Emanzipation geht den Kern der Sache an, die "wirkliche Ursache" von Herrschaft und Ungleichheit.
- Ist diese Ursache beseitigt, regeln sich die gesellschaftlichen Verhältnisse im Einklang mit der Vernunft, sie "optimieren" sich.
Es ist der Glaube an diese Vorstellungen, der durch die postmoderne Kritik erschüttert wird. Auch dies ist keine akademische Frage. Hier liegt z.B. begründet, wieso die Kritik und Bearbeitung interner Herrschaftsverhältnisse in fast allen Zweigen der Emanzipationsbewegungen so schwierig war - von den sozialistischen Staaten bis zur Frauengruppe, vom Black Movement bis zur Internationalismusbewegung selbst. Die "radikale Trennung" ist immer auch ein patriarchales Konzept, z.B. weil sie die eigene Führung unangreifbar macht und deren Totalverwaltung der eigenen Ressourcen legitimiert. Die "radikale Trennung" sieht auch von den Notwendigkeiten der Reproduktion unter den gegebenen Verhältnissen ab und ist deshalb patriarchal - Frauen können diese Notwendigkeit nicht in gleicher Weise ignorieren, schon deshalb weil sie sich in höherer Weise für Kinder verantwortlich fühlen, aber auch deshalb, weil z.B. die meisten Männer unter Bedingungen Politik machen, unter denen die meisten Frauen weder leben noch arbeiten können. Die "radikale Trennung" legitimiert die interne Vorherrschaft derer, die sich "am radikalsten freimachen können", und das sind allemal Männer.
Die klassische Vorstellung legt also immer eine Idee von "Radikalität" nahe, die patriarchal ist, für selbstrechtfertigende Gewalt und interne Herrschaft offen, und von der eine gerade Linie zur "Mensch-oder-Schwein"-Dialektik der RAF führt. Es geht im Gegensatz dazu nicht darum, sich mit "weniger Radikalität" zufrieden zu geben. Ganz im Gegenteil hat das klassische Emanzipationsdenken dazu geführt, weite Bereiche unangetastet zu lassen und eben nicht zu revolutionieren; es hat aus der Befreiung eine höchst oberflächliche Angelegenheit gemacht. Es geht also um einen Begriff von "radikal", der sich nicht an der maximalen Abgrenzung von allem Bestehenden bemißt, aber der auch nicht darin wetteifert, die "wirklichste Ursache" zu finden; sondern der sich an der Konsequenz bemißt, mit der alle Verhältnisse erfaßt werden, und der Offenheit, Kritik an Herrschaft zu ermöglichen, wo immer sie sich etabliert.
Ein postmoderner Emanzipationsbegriff beinhaltet, daß Befreiung etwas Prozesshaftes ist und keine Einpunkt-Revolution, und daß nie der Punkt erreicht wird, wo Emanzipation prinzipiell "nicht mehr nötig" wäre. Ferner ergibt sich daraus die Forderung, aus der linken Szene und Subkultur herauszutreten und die ideologische Selbstisolierung zu überwinden. Die nichtlinken Menschen sind nicht die "Masse" oder das "Volk", den "Unreinen" stehen nicht die pc-gerechten, reinlehrigen Linken gegenüber. Befreiung ist keine saubere Sache. Wir alle bewegen uns in unseren Widersprüchen, in den gesellschaftllichen Normräumen und stehen vor dem Spannungsverhältnis von individueller und kollektiver Befreiung. Revolutionäre Politik beginnt im Hier und Jetzt und kann auch keine Vertröstungspolitik sein nach dem Muster "Politik jetzt, Lebensfreude später".
Die Debatte seit 1992
Eine postmoderne Kritik und Erneuerung der Vorstellung von Herrschaft und Befreiung (Emanzipation) ist etwas gänzlich anderes als die ebenfalls anzutreffende Praxis, die Frage nach Herrschaft und Befreiung einfach aufzugeben. Die "neuen Diskurse", die an die Stelle des gescheiterten Entwicklungsbegriffs getreten sind - Neue Weltordnung, Zivilgesellschaft, Globalisierung, Nachhaltigkeit und "Kultur" - tun genau das. Sie gehen geradezu mit den Fehlern und Katastrophen der heutigen Weltordnung hausieren, um einen Effekt des "allgemeinen Problemlösens" zu erzeugen, das aber die Herrschaftsverhältnisse ausspart.
Die einzelnen Teile der Internationalismus-Bewegung gehen damit unterschiedlich um. Gemeinsam ist ihnen immer noch eine mehr oder weniger starke Kapitalismuskritik, deren Facettenreichtum aber heute deutlich mehr Unterschiede als Parallelen aufweist. Die Interessensgemeinschaft der sozialen Bewegung und deren Leitthemen, wie sie in den 80er Jahren existierte, hat sich aufgespalten. Während sich die einen (die Kapitalismusreformer) Globalisierung, Nachhaltigkeit oder Zivilgesellschaft zu ihren Themen erkoren haben, arbeiten sich die anderen an der neuen Weltordnung bzw. heute am Neoliberalismus ab und lehnen nach wie vor das kapitalistische System grundsätzlich ab. Im Vordergrund stehen bei allen die Marktstrukturen, bzw. die ökonomischen Zusammenhänge. Die anderen Unterdrückungsmechanismen wie Rasse und Geschlecht werden dem untergeordnet. An der Entwicklung eines Herrschaftsbegriffs, der alle Unterdrückungsstrukturen bearbeitet und sie als komplexes System sieht, hält nur ein kleiner Teil innerhalb der widerständigen Kräfte fest.
Das ist auch die Folge von Demokratisierung und Integration. Innerhalb der Modernisierung von Herrschaft, wie sie sich in den letzten Jahren entwickelt hat, wurde durch das partielle Einbeziehen von diskriminierten Gruppen und deren Inhalten, aber auch den ökonomischen und politischen Druck ("partizipier' oder stirb") die soziale Bewegung gespalten. Ergebnis ist, daß sich die Bewegung mitmodernisiert hat, Reibungsflächen verschwunden sind und es schwerer geworden ist, in der Perspektive zwschen Machterhaltung und Abbau des Zugriffs zu unterscheiden.
Die Klammer der verschiedenen Ansätze und Bewegungssegmente ist immer noch der Antikapitalismus. Diese Klammer ist jedoch eine Leerformel. Es ist weitgehend anerkannt, daß das Kapital kein Haufen von Produktionsbesitz oder Finanzmitteln ist, sondern ein soziales Verhältnis. Es ist immer historisch und konkret, immer durch die Gesamtheit der Unterdrückungsstrukturen bestimmt, und nicht durch den einen Kunstgriff mit einem Ruck aufzuheben. Es klingt daher zwar gut, sich in der Bewegung gegenseitig mangelnden Antikapitalismus vorzuwerfen, in Wirklichkeit war aber nie zuvor unklarer, was damit eigentlich gemeint sein soll - die Verstaatlichung der großen Produktionsmittel allein kann es wohl nicht sein, was aber dann?
Eines der Felder, wo diese Unklarheit unlösbare Debatten hervorbringt, ist die Debatte um den Neoliberalismus. Ist der Neoliberalismus eine exzessive Form des Kapitalismus, oder ist er die Rückkehr zur kapitalistischen Normalität nach dem Ende der Systemalternative? Die Frage läßt sich so nicht sinnvoll beantworten, weil es einen "kapitalistischen Normalfall" eben nicht gibt, und weil der Griff nach besonders brutalen Marktinstrumenten und die Instrumentalisierung der Konkurrenz von Nationen sowohl erfolgt, weil das möglich und profitabel ist, als auch, weil sich vorher relative Grenzen des Kapitalverhältnisses (umfassend gedacht) ergeben haben.
Die Neoliberalismus-Debatte verweist, ebenso wie das Dilemma des Radikalen Reformismus und bestimmte Aspekte der Chiapas-Debatte, auf die zentrale Leerstelle linker Erneuerung: nämlich die Bestimmung dessen, was eine Politik der Emanzipation ausmacht, die der Logik der Kapitalverwertung und verwertenden "Optimierung" entgegengestellt werden kann. Diese Leerstelle wird durch abstrakten Antikapitalismus nur schwach verdeckt, und um sie zu füllen, ist nicht antikapitalistischer Scheinradikalismus entscheidend, sondern die Breite und Konsequenz des emanzipativen Ansatzes. Dass nicht alles, was aus sozialen Bewegungen heraus gefordert und durchgesetzt wird, emanzipativ ist, dürfte nämlich allgemein klar sein (z.B. aus der Kritik der Gewerkschaftsbewegung oder dem Charakter sozialer Reformen in den Metropolen als Privilegienverteidigung). Es ist richtig, die Aufstandsbewegung in Chiapas als Suche nach einer emanzipativen Konzeption zu interpretieren, die den Revisionen am klassischen Politik- und Emanzipationsbegriff gerecht wird. Dies macht aber nur Sinn, wenn diese Konzeption auch formuliert wird, und sei es in Umrissen, und ihre "Übersetzung" (nicht schematische Übertragung) auf unsere Verhältnisse hier gesucht wird, was in der Regel nicht geschieht.
Dem Problem läßt sich auch nicht durch einen Streit über die Wahl des revolutionären Subjekts entkommen, wie er zwischen antinationalen Positionen und dem Bemühen um ein Wieder-Andocken an die Soziale Frage hierzulande geführt wird. Es gibt weder ein total gerechtigfertigtes noch ein total verworfenes Subjekt. Das "antinationale Dilemma" läßt sich nur lösen durch eine Verschiebung der Fragestellung: Nicht "mit wem kann/will man/frau noch Politik machen?", sondern "welche emanzipative Konzeption wollen wir in alle Verhältnisse einbringen?"
Grundrisse einer Neubestimmung
Die Notwendigkeit einer Neubestimmung ist keine Aufgabe, die sich nur für den Internationalismus stellen würde. Es ist die Frage nach einer Neubestimmung dessen, was heute links, was heute Emanzipation ist. Es funktioniert nur auch keine internationalistische Politik mehr, die zu dieser "allgemeinlinken" Frage keinen Entwurf hat - die Zeit des Drunterdurchtauchens ("Wir machen Nicaragua und G8 und warten ab") ist vorbei.
Emanzipation heißt, in allen gesellschaftlichen Bereichen die Regeln freier Kooperation einzufordern und durchzusetzen. Soziale Verhältnisse in freier Kooperation regeln, heißt
- daß den historisch überkommenen Verteilungen und Regelungen von Arbeit und Verfügungsgewalt kein höheres Recht zukommt, sondern sie von den Beteiligten jederzeit und ohne Ausnahme zur Disposition gestellt werden können;
- keine anderen "natürlichen" oder "vernünftigen" Regeln anzuerkennen als die, daß alle Beteiligten das gleiche Recht haben sollen, auf die Regeln einer Kooperation Einfluß zu nehmen, indem sie ihre eigene Mitwirkung einschränken, unter Bedingungen stellen oder notfalls ganz aufgeben;
- soziale Verhältnisse so zu gestalten, daß alle Beteiligten diese Einflußnahme zu einem vergleichbaren und vertretbaren Preis praktizieren können.
Ein solches Konzept geht vom Konflikt als Normalfall aus und von Emanzipation als Realität und Notwendigkeit, die durch keine spezifische "Ordnung" ein für allemal überflüssig gemacht werden kann und die sich eben darüber vollzieht, die Bedingungen der Kooperation praktisch in Frage zu stellen, was durch keine noch so "gleiche und vernünftige Diskussion" aller Beteiligten jemals ersetzt werden kann. Ein solches Konzept ist leitmotivisch für alle sozialen Verhältnisse - vom Staat bis zur Beziehung, von der Institution bis zur politischen Organisation, vom Nord-Süd-Verhältnis bis zum Miteinander von verschiedenen Bewegungen.
Wir sind der Meinung, daß in den verschiedenen Diskussionsprozessen, in denen die Revision des klassischen Emanzipationskonzepts betrieben worden ist, auch die wesentlichen Ziele einer derzeitigen Orientierung inzwischen beschrieben worden sind und daß es dabei ein gewisses Maß an Übereinstimmung bereits gibt, wenn auch in z.T. ganz unterschiedlichen Begriffen und Formulierungen. Wir sehen das Folgende daher nicht als vorzuschlagendes "schlaues Konzept", sondern als Sichtbarmachen dessen, was sich jenseits des alten Konzeptes bereits herausgeschält hat.
a) "Abwicklung von Herrschaftsinstrumenten"
Die zukünftige Orientierung kann sich nicht darauf richten, mit den vorhandenen Strukturen und Herrschaftsinstrumenten "was Gutes zu machen", sondern muß sich auf den Abbau der Instrumente richten, mit denen der herrschaftsförmige Zugriff auf Natur und Arbeit organisiert wird. Dieser Abbau muß z.T. schrittweise, aber mit klarem Ziel des Verschwindens erfolgen, was mit "Abwicklung" gemeint ist. In der Diskussion um Nachhaltigkeit haben wir diesen Prozeß "Abwicklung des Nordens" genannt, was aber beinhaltet, "Norden" nicht nur im Sinne von Nord-Süd-Verhältnis zu sehen, sondern als ein Herrschaftsmodell, das sich in allen Teilverhältnissen weltweit findet. Diese Abwicklung beinhaltet:
- Die prinzipielle Ablehnung von gewaltförmiger Intervention. Das gilt für Interventionen gegenüber Dritte-Welt-Staaten, bedeutet aber z.B. auch, eine "deeskalierende" statt nur verrechtlichende Migrationspolitik zu fordern und durchzusetzen, die eben auch dekriminalisiert und die vielfältigen Formen gewaltförmiger Intervention abbaut, usw.
- Der extern orientierte, "globale Sektor" soll nicht ausgebaut, sondern im Verhältnis zu den Binnenprozessen zurückgeführt und seine Dominanz gebrochen werden. Das gilt für ökonomische Makropolitik ebenso, wie für jedes "alternative Projekt" und für jede soziale Kooperation.
- Eine Deprivilegierung der formalen Arbeit soll durchgesetzt werden. Qualifizierte Lohnarbeit, die weder prekär, noch entrechtlicht oder illegalisiert, noch biographisch zerstückelt oder in ein hohes Maß "informeller" Arbeit eingebettet ist, ist Sache einer soziologischen Minderheit, deren Privilegien weit über die unmittelbare Bezahlung hinausgehen. Hier herrscht eine moderne Diskriminierungsform, mit der es zu brechen gilt, weil über sie massiv Zwang ausgeübt wird.
- Eine Aneignung von Räumen und Zusammenhängen "von unten" soll vorangetrieben werden. Diese Räume und Zusammenhänge werden aktuell nach Maßgabe "positiver Teilnahme am Verwertungsprozeß" vergeben, was nicht einfach Ausfluß kapitalistischer Logik ist, sondern ein zentrales Instrument zu ihrer Durchsetzung.
- Formen direkter Überlebenssicherung ist der Vorzug zu geben vor den Formen "verumständlichter Reproduktion", mit denen massive Abhängigkeiten geschaffen werden (und es sollen solche Formen auch selbst aufgebaut werden). Dabei geht es nicht nur um die Produktion des unmittelbar materiell Lebensnotwendigen und seine Gefährdung durch Markt und Technologie, sondern z.B. auch um alle Qualitäten von Gesellschaftlichkeit, die nach herrschender Konzeption nur am Ende eines totalen Umwälzungs- und Verwertungsprozesses entfaltet werden können, bzw. nur nach dem Maßstab der Teilnahme an diesem Prozeß "spendiert" werden.
b) "Politik der Beziehungen"
Die Idee der Abwicklung hat ihre Defizite darin, daß sie strategische Ziele als überwiegend negative beschreibt ("weniger von..."), bzw. als abstrakte Kriterien. Für eine Vergesellschaftung von unten reicht das aber nicht aus, sie ist ein kreativer Prozeß, in dem für die verschiedenen Fragen und Widersprüche jeweils Lösungen gefunden werden müssen. Das mögen auch technische und ökonomische sein, es sind vor allem aber auch soziale. Wesentliche Elemente einer solchen Zielbestimmung, die z.B. für die Praxis eigener Organisationen und Kooperationen gelten sollen, aber auch allgemein für soziale Verhältnisse leitmotivisch sein sollen, sind vielfach unter dem Begriff einer "Politik der Beziehungen" diskutiert worden. Dazu gehört:
- Verhältnisse nach dem Prinzip des Verhandelns zu organisieren. Dies grenzt sich gegen das Prinzip ab, aufgrund erkannter "richtiger" Strukturen (seien sie effizienzorientiert oder besonders "demokratisch") durchzuziehen, anstatt sich auf den schwierigeren Prozeß des Aushandelns der Bedingungen der Kooperation einzulassen - insbesondere über unterschiedliche Emanzipations- und Unterdrückungsgeschichten hinweg.
- Eine Praxis der Anerkennung zu entwickeln. Das heißt, Differenzen anzuerkennen, aber dabei nicht stehenzubleiben, sondern die Infragestellung durch die Verschiedenheit ebenso wie die Möglichkeit der verunsichernden Ähnlichkeit auszuhalten - zwischen der Teilhabe an verschiedenen Unterdrückungserfahrungen ebenso, wie zwischen "sozial älteren" und "sozial jüngeren" Beteiligten.
- Ein Prinzip der Ermöglichung zu praktizieren. Es muß möglich sein, die Ressourcen einer Gruppe, d.h. auch die Unterstützung der anderen, auch für Projekte zum Tragen zu bringen, die nicht komplett vereinheitlicht, abgesichert, von allen geteilt und für gut befunden sind. Sonst bewegt sich nichts mehr und sonst würde für die Beteiligten das wesentliche Potential einer Kooperation zugunsten des "Mikado-Prinzips" (wer sich bewegt, hat verloren) abgeschnitten.
- Die Kooperation nach dem Grundsatz der Disloyalität zum Bestehenden zu behandeln. Das bedeutet, ihr Scheitern nicht auszuschließen und ihren Bestand nicht zur obersten Richtschnur zu machen; sich der überkommenen "Zivilisation" gegenüber, ob es eine gesellschaftliche oder eine "Gruppenzivilisation", nicht zwangsloyal zu verhalten, sondern lieber aus Prinzip disloyal. Daß "es sonst nicht funktioniert", ist eben kein Argument.
c) Politik der "praktischen Demokratiekritik"
Zum heutigen Erkenntnisrepertoire von Herrschaftskritik gehört (auch wenn es immer wieder verdrängt wird), daß Wählen zwar besser ist als Entscheidungsfindung qua Hierarchie, an sich aber noch keineswegs Emanzipation verbürgt. Was aber folgt aus unserer theoretischen Kritik an der historischen Demokratie und an heutigen (herrschaftsförmigen) Demokratisierungsprozessen? Diese Kritik basiert darauf,
- daß bei der Demokratisierung von Entscheidungsprozessen ein Abbau von Herrschaft kein Kriterium ist, sondern ganz im Gegenteil die "Eingriffstiefe" der Ent-scheidungen wächst und der herrschende Zugriff auf jeden Ort der Gesellschaft eher zu- als abnimmt;
- daß "nachholende Demokratisierung" die Anpassung an bisher etablierte Normen (männliche, weiße, bürgerliche, nördliche ...) nicht aufhebt, sondern sogar verstärken kann;
- daß Minderheiten zwar nicht allein entscheiden sollen, Mehrheiten aber auch nicht per se emanzipative Politik machen und ein System "multipler Mehrheiten" sehr wohl mit der Vormachtstellung einer herrschenden Klasse und mit einer Verstärkung sämtlicher Unterdrückungsverhältnisse kompatibel ist.
Wir können zumindest feststellen, daß hier andere theoretische und praktische Leitbilder für eine Politik der Emanzipation zählen müssen, auch wenn der Teufel im Detail steckt:
- Selbstbestimmung und Dezentralisierung. Entscheidungsprozesse sollen soweit wie möglich zurückverlagert werden, von "oben" nach "unten". Der Dreh- und Angelpunkt ist dabei, nicht die Knochen zu verteilen und die Filetstücke zu behalten, wie das eine herrschaftsförmige Regionalisierung und Partizipationspolitik tut, bei der die Gesamtheit der Entwicklungen und Austauschverhältnisse nicht zur Disposition steht, aber innerhalb dieses Rahmens "gestaltet" werden darf.
- Begrenzung der Eingriffstiefe des demokratischen Prozesses; Schutzmechanismen gegen Majorisierung und Auslieferung an "übergeordnete Entscheidungen". Es geht dabei tatsächlich auch um Veto- und "Nimby"-Rechte ("not in my backyard": wenn keiner die Folgen einer Entscheidung bezahlen will, dann ist das eben auch eine Form, wie diese Entscheidung legitim scheitert). Die Vorstellung, die zentrale Ebene sei die, von der gesellschaftliche Demokratisierung vorangetrieben werde und die dafür Kompetenzen zur Intervention brauche, gehört zum Inventar einer "modernistischen" Emanzipationsvorstellung, das heute gefährlich und abzulehnen ist.
- Affirmative Action. Anti-Diskriminierungspolitik, die mehr ist als formale Gleichstellung, ist mit Sicherheit ein zentrales Element emanzipativer Prozesse, aber nur, wenn sie von der Kritik der bisher herrschenden Norm ausgeht und nicht in ihrem Sinne Gleichstellung und "Förderung" betreibt.
- Auch Political Correctness ist in diesem Sinne ein zentrales Element. Aber eben nicht verstanden als Dogmatik dessen, "was nicht gesagt werden darf", sondern als Verpflichtung zur Einbeziehung dessen, was bisher nicht gesagt werden konnte, sozusagen eine Affirmative Action auf dem Gebiet der Inhalte und der Öffentlichkeit.
- Die Forderung nach einer unabhängigen Existenzsicherung wird die Idee einer Absicherung durch Arbeitspolitik, "Vollbeschäftigung" usw. ablösen müssen, wobei der Akzent auf "unabhängig" und auf "qualitativ ausreichend" liegt. Die Produktivität der Gesellschaft ist eine kollektive und umfassende; daß Existenzsicherung nach Kriterien der Formalarbeit oder der "besonderen Bedürftigkeit" von oben vergeben wird, ist nichts als ein willkürliches Instrument des Zwangs und der Unterwerfung.
d) Organisierung
Die Frage, wieweit Emanzipation Organisierung braucht und welche das sein soll, ist umstritten - aber zurecht umstritten, weil die Frage notwendig und eben nicht geklärt ist. Als halbwegs gesichert sollte unseren Erachtens gelten:
- Für eine zukünftige emanzipative Bewegung wird es keine organisatorische Vereinheitlichung in einer großen Organisation geben. Das ist weder sinnvoll, noch möglich, noch wünschenswert; das war es auch in der Vergangenheit nicht. "Organisierung" im Sinne inhaltlicher Annäherung und des annähernden Austauschs strategischer Ziele kann und sollte jedoch sehr wohl ein übergreifender Prozeß sein, der an sektoralen Grenzen nicht halt macht. Multiple Zugehörigkeit und divergierende Herrschaftsanalysen sind das eine, die gemeinsame Erarbeitung von Grundrissen einer zukünftigen emanzipativen Politik ist das andere.
- Für letzteres gibt es heute einen massiven Bedarf. Deshalb wächst die Bedeutung von "gemischten" und "teilbereichsübergreifenden" Formen der Zusammenarbeit und Organisation, in denen eine solche Neubestimmung entwickelt, praktiziert, durchgesetzt, ein Stück weit gelebt wird. Auch sonst gibt es Bereiche theoretischen und praktischen Handelns, die ohne "Organisation" im engeren Sinne schlecht funktionieren: die Schaffung selbstverwalteter Räume, "organisierte" Formen von Widerstand und Protest, das Ausloten theoretischer und praktischer Gemeinsamkeiten für eine emanzipative Bewegung usw. Auch Organisation in diesem Sinne ist ein Stück Lebensqualität (und wird gesellschaftlich ständig untergraben).
- Politische Organisationen sind kein privilegierter Ort für Emanzipationsprozesse und deren Durchsetzung. Emanzipation und ihre Durchsetzung findet überall in der Gesellschaft statt, in jeder sozialen Kooperation, im Alltag ebenso wie in der institutionellen Politik. Die Individuen handeln dabei tatsächlich nicht allein, ihre "Organisierung" muß aber keineswegs unbedingt die der klassischen Organisationen sein - z.B. handelt eine Frau, die patriarchale Regeln praktisch in Frage stellt, "organisiert" in dem Sinne, wenn sie ihr Handeln in Verbindung mit der Theorie und Praxis anderer Frauen stellt (sei es die Frauenbewegung oder ihre Freundinnen) und sich in einen Prozess der Auseinandersetzung begibt, wofür sie aber nicht notwendig eine politische Organisation braucht. Ganz im Gegenteil haben sich "allgemeine" politische Organisation für solche Fälle oft als hinderlich, kontraproduktiv, herrschaftsförmig erwiesen.
- Gerade das Wichtigste an Organisierung, nämlich das gemeinsame Erarbeiten von Grundrissen einer zukünftigen emanzipativen Politik, hat überhaupt keinen Raum in den "Dachorganisationen", die heute unter dem Druck der Mittelvergabe an NGOs so gerne vorangetrieben werden. Aber auch auf "bewegungsnäherer Seite" ist heute das Problem weniger, was bestimmte Kampagnen und Aktionsformen bringen oder nicht bringen. Das Problem ist, wie es möglich ist, innerhalb einer unübersichtlicher gewordenen Politlandschaft einen attraktiven, ausstrahlungsfähigen, bündnisfähigen und handlungsfähigen "Ort des Widerspruchs" am Leben zu halten und auszubauen, zu Gehör zu bringen und in andere Sparten hineinwirken zu lassen. Für dieses Problem reichen "bloße Dächer" und rein pragmatische Bündnisse nicht aus. Die Zeit der "Dächer" ist daher weitgehend vorbei und die Bedeutung einer punktuellen, pragmatischen Bündnispolitik stark relativiert.
Schluß
Der Regierungswechsel hat die Situation für die Linke verändert. Wir werden nun noch genauer sagen müssen, was wir denn anders haben wollen. Dafür ist eine Debatte um die Neubestimmung emanzipativer Theorie und Praxis wichtig, an der wir uns seit mehr als drei Jahren, vor allem durch die alaska, beteiligen. Wir sehen mit Interesse, daß auch andere Gruppen, Zeitschriften und Einzelpersonen mit dieser Debatte begonnen haben und sie weiterführen (und nennen hier natürlich keine Namen).
Mit diesem Text haben wir unseren Zwischenstand in der Debatte zusammengefasst und stellen ihn hiermit zur Diskussion. Linke Debatte ist auf den Austausch angewiesen: Wir freuen uns über Rückmeldungen, die Diskussion ist wieder einmal eröffnet.