2007-08-07
Berlin. Am Sonntag hätte Andrej H. eigentlich in Fulda sein sollen. Auf der Sommerakademie von Attac versprachen sich die Globalisierungskritiker von ihm erhellende Worte über den Privatisierungswahn in deutschen Städten. H. ist durchaus eine Kapazität auf dem Gebiet. Der promovierte Sozialwissenschaftler der Berliner Humboldt-Uni forscht seit Jahren über Wohnungspolitik und ist aktiv im Bündnis gegen Privatisierung. Den Attac-Termin musste er gleichwohl absagen: H. sitzt seit einer Woche im Gefängnis.
Zusammen mit drei weiteren Berlinern wurde der 36-jährige Wissenschaftler, dessen Identität der FR bekannt ist, am vergangenen Dienstag verhaftet. Die Bundesanwaltschaft wirft den vier Männern vor, Mitglieder einer terroristischen Vereinigung namens "militante gruppe" (mg) zu sein. Drei von ihnen sollen nachts versucht haben, in Brandenburg an der Havel Fahrzeuge der Bundeswehr anzuzünden. Bei Andrej H. liegt der Fall anders: In ihm sieht die Behörde offenbar eine Art Vordenker. Die offizielle Begründung indes hält inzwischen nicht mehr nur H.s Anwältin Christina Clemm für "waghalsig".
Als Wissenschaftler, so steht es im Haftbefehl, verfüge H. "über die intellektuellen und sachlichen Voraussetzungen, die für das Verfassen der vergleichsweise anspruchsvollen Texte der Militanten Gruppe erforderlich sind". Zudem könne er für seine Recherchen "unauffällig" Bibliotheken nutzen. Und schließlich soll er sich im Frühjahr 2006 zweimal "konspirativ" mit dem ebenfalls verhafteten Florian L. getroffen haben.
Als Anwältin Clemm beim Haftprüfungstermin nachhakte, fand sie heraus, dass die Ermittler vor allem bei dem Begriff "Gentrification" hellhörig wurden. Den Fachbegriff, der den Strukturwandel von Städten beschreibt, hat H. mehrfach in Publikationen verwandt - einmal taucht er auch in einem Bekennerschreiben der "mg" auf. Deswegen, so Clemm, liege für die Strafverfolger der Rückschluss "sehr nahe", dass H. auch den "mg"-Text verfasst habe. Seltsam nur: Googelt man "Gentrification", erhält man 23 700 Einträge; allein die New York Times verwendete den Begriff in den letzten Jahren 1770 Mal.
Auch das "konspirative" Treffen lasse Fragen offen, so Clemm. Konspirativ soll es vor allem deshalb gewesen sein, weil H. und L., die beschattet wurden, sich dabei mehrfach umdrehten und keine Handys dabei hatten. Als die Verteidigerin wissen wollte, ob die Ermittler den Inhalt des Gesprächs kennten, erhielt sie zur Antwort: "Nein." Ihr Kommentar: "Das ist Irrsinn." Die Bundesanwaltschaft teilte am Montag lediglich mit, sie könne und wolle den Fall derzeit nicht öffentlich diskutieren.
Der wissenschaftliche Beirat von Attac warnte davor, kritische Wissenschaft "unter Generalverdacht" zu stellen, und forderte die Freilassung von H. Staatliches Vorgehen wie in dessen Fall setze kritische Forschung "unmittelbar dem Terrorismusverdacht aus", so die rund 100 Professoren. Es bestehe die Gefahr, dass dadurch "erst das konstruiert und provoziert wird, was vorgeblich verhindert werden soll: Terrorismus".
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