2007-08-01
Nach wie vor ist unklar, wer die Tornados der Bundeswehr zum Teil im äußersten Tiefflug über die Camps der G8-Gegner in Heiligendamm schickte. Sicher ist jedoch der Trend zum Einsatz der Bundeswehr im Innern. von carsten schnober
Die Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm sahen Kritiker aus unterschiedlichsten Gründen nicht durchweg als gelungen an. Als besonders schweren Unglücksfall oder gar als Naturkatastrophe lassen sich die eine Woche lang andauernden Aktionen wiederum nur mit sehr viel Fantasie interpretieren. Dies wäre allerdings gemäß Artikel 35 des Grundgesetzes notwendig gewesen, damit die Polizei im Rahmen der so genannten Amtshilfe Unterstützung von der Bundeswehr hätte anfordern dürfen. Dennoch beobachteten Spähpanzer vom Typ Fennek das Gelände, die Marine sicherte die Gewässer vor Heiligendamm, und Tornado-Kampfflugzeuge überflogen bei Erkundungseinsätzen die Camps der Gipfelgegner sogar im äußersten Tiefflug.
Bundeswehreinsätze im Inland sind bereits seit den neunziger Jahren üblich. Anlässe waren beispielsweise Überflutungen oder der Einsturz einer Eissporthalle; auch die schweren Schneefälle in Bayern im Februar 2006, nach denen 3 000 Bundeswehrsoldaten Schnee schippten, ließen sich als besonderes Unglück oder Naturkatastrophe sehen, bei denen das Grundgesetz Ausnahmen vom prinzipiellen Verbot von Inlandseinsätzen der Bundeswehr erlaubt.
Seit der Fußballweltmeisterschaft 2006 wird das Gesetz jedoch großzügiger interpretiert; 5 200 Soldaten kamen damals zum Einsatz. Sie waren zwar hauptsächlich als Sanitäter tätig und nicht für die Sicherheit zuständig, dennoch konnte auch in diesem Fall weder von einem Unglücksfall noch von einer Naturkatastrophe die Rede sein. Beim Besuch des US-Präsidenten George W. Bush im selben Jahr kamen in Mecklenburg-Vorpommern abermals 500 Bundeswehrsoldaten zum Einsatz, erneut ganz ohne Naturkatastrophe.
Nach der herkömmlichen Lesart beschränkt sich die Amtshilfe der Bundeswehr außerhalb jener Katastrophensituationen darauf, Kasernen und technisches Gerät bereitzustellen, das der Polizei nicht zur Verfügung steht. Inzwischen wenden die Behörden jedoch eine andere Interpretation an, nach der im gleichen Rahmen auch zu so genannten Nichtverteidigungszwecken Soldaten im Inland eingesetzt werden. So halfen Tornado-Kampfjets mit Wärmebildkameras mehrfach bei der Suche nach vermissten Personen. Während der Fußballweltmeisterschaft kamen außerdem Bundeswehrflugzeuge vom Typ Awacs zum Einsatz, um den Luftraum über den Veranstaltungsorten zu überwachen. In diesem Fall bediente sich die Einsatzleitung jedoch eines anderen juristischen Tricks: Die Awacs-Flugzeuge unterstehen der Nato, die somit offiziell an Stelle der Bundeswehr Amtshilfe leistete.
Dass die unter der harmlos klingenden Kategorie »Aufklärung« eingeordneten Einsätze nicht mit dem Einnehmen einer Beobachterposition im Hintergrund zu verwechseln sind, zeigt der Einsatz der Tornados vor und während des G8-Gipfels. Kampfjets rasten über die Camps in Reddelich und Wichmannsdorf hinweg, zumindest in einem Fall in einer Höhe von nur 110 Metern. Die Betroffenen unterstellen, dass dies keineswegs bloß zum Zweck der Aufklärung, sondern auch zur Einschüchterung geschah. Damit trat genau der Fall ein, den das grundgesetzliche Verbot von Inlandseinsätzen der Bundeswehr ausschließen soll, nämlich dass es zur Konfrontation zwischen Soldaten und Bürgern kommt.
Im Verteidigungsministerium hält man lediglich die geringe Flughöhe für bedenklich, denn die Luftverkehrsordnung untersagt Tiefflüge unter 160 Metern, außer in Notsituationen. Das ist auch im Ministerium bekannt, wo zunächst behauptet wurde, die kritische Marke sei nie unterschritten worden. Später musste man einräumen, dass ein Flug in geringerer Höhe stattgefunden habe; als dürftige Legitimation dienten tief hängende Wolken.
Nicht nur in diesem Punkt machen sich die zuständigen Behörden unglaubwürdig. Vor dem G8-Gipfel verschwieg die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme zum Bundeswehreinsatz rund um Heiligendamm, dass überhaupt Kampfflugzeuge starten sollten. Als sich das nicht mehr abstreiten ließ, räumte sie im Juni auf Anfrage des grünen Bundestagsabgeordneten Christian Ströbele zwei Flüge ein. Anfang Juli wurde bekannt, dass Tornados bei sieben Aufklärungsmissionen mindestens 14 Mal zum Einsatz kamen. Darüber hinaus sicherten Eurofighter- und Phantom-Flugzeuge den Luftraum gegen eventuelle Angriffe ab – eine Maßnahme, die weit über die technische Amtshilfe für die Polizei hinausgeht.
Für die zusätzlichen Flüge machte das Innenministerium von Mecklenburg-Vorpommern zunächst die polizeiliche Sondereinheit Kavala und ihren Leiter Knut Abramowski verantwortlich. Die Möglichkeit, dass ein Polizeieinsatzleiter ohne Wissen des Ministeriums Bundeswehreinsätze anordnen könnte, trug jedoch nicht zur Beruhigung der Kritiker bei. Nachdem die Fraktion der Linkspartei im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern einen Untersuchungsausschuss gefordert hatte, erklärte Landesinnenminister Lorenz Caffier (CDU) plötzlich, dass von Anfang an nicht zwei Flüge, sondern zwei »Aufklärungseinheiten« genehmigt gewesen seien, die jeweils aus mehreren Einsätzen bestehen könnten.
Das Bundesverteidigungsministerium hatte bereits Anfang Juli mitgeteilt, keine zusätzlichen Flüge erlaubt zu haben. Verteidigungsminister Franz-Josef Jung (CDU) entschuldigte sich für die Lärmbelästigung und zog disziplinarrechtliche Konsequenzen wegen des Tiefflugs in Erwägung, das Grundgesetz sei jedoch keinesfalls verletzt worden. In ihrer Antwort auf eine kleine Anfrage zum Thema bestreitet die Bundesregierung zudem ihre Zuständigkeit, weil nach der Gewährung von Amtshilfe ausschließlich die anfragende Behörde – im Fall der Tornado-Flüge die Kavala – für die zur Verfügung gestellten Mittel verantwortlich sei. Eine Notwendigkeitsprüfung hat die Regierung nach eigener Auskunft nicht vorgenommen, weil das ebenfalls Sache des Antragstellers sei. Christoph Marischka von der Informationsstelle Militarisierung denkt diese Logik zu Ende: »Dies bedeutet praktisch, wenn eine Behörde Unterstützung durch die Bundeswehr anfordert, so ist diese auch nötig und deshalb rechtens.«
Die Opposition wirft dem Bundesverteidigungsminister Jung und dem Landesinnenminister Caffier angesichts der ungeklärten Zuständigkeiten vor, »ihren Laden nicht im Griff zu haben« (Alexander Bode, Grüne). Kritiker spekulieren gar, Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU), dessen Vorliebe für Inlandseinsätze der Armee bekannt ist, könne der Drahtzieher gewesen sein. Ihm hätte es allerdings wohl besser gefallen, die Bundeswehrverbände hätten unauffällig ihren Dienst geleistet, um ohne großes Aufsehen zur weiteren Normalisierung der rechtlich fragwürdigen Einsätze beizutragen. Ein Gesetz lässt sich erfahrungsgemäß leichter durchsetzen, wenn es eine bereits gängige Praxis legalisiert.
Wer die Bundeswehrflüge wirklich angeordnet hat, bringt vielleicht ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss ans Licht. Der Opposition wird dabei allerdings besonders an der Demontage des Verteidigungsministers gelegen sein. So kommt es zwar möglicherweise zu persönlichen Konsequenzen, eine grundsätzliche Abkehr davon, die Bundeswehr immer regelmäßiger auch im Inland einzusetzen, ist dagegen nicht abzusehen.
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