2007-02-20 

Wer erschoss Carlo Giuliani? Ein Hörbeitrag von Günter Melle, Radio Dreyeckland Freiburg

Während die Mächtigen dieser Welt erneut ein Stelldichein der G8 für das vor uns liegende Jahr in Heiligendamm bei Rostock geplant haben, sind Gipfelgegner damit beschäftigt, den Spuren von Gewalt und Repression nachzugehen, die diese selbst ernannten Vertreter der glücklichen neoliberalen Zukunft unseres Planeten hinterlassen haben.

Von Heiligendamm 2007 führt ein direkter Weg nach Genua 2001 zurück. Die Hafenstadt in Ligurien, seit diesem G8-Gipfel - Hauptstadt der weltweiten sozialen Bewegung gegen Neoliberalismus und Krieg, beklagt bis heute den Tod des jungen Carlo Giuliani, der während der Proteste gegen die G8, im heißen Juli 2001, von Spezialeinheiten der Carabinieri erschossen wurde.

2001

Als Todesschütze galt der gleichaltrige wehrpflichtige Carabiniere, Mario Placanica, aus Calabrien. Von den Gerichten in Genua bekam er die rechtliche Absolution in Notwehr gehandelt zu haben. So wäre alles in Ordnung (wie wir Deutsche sagen) und die G8 könnten mit der Glorie des Heiligenscheins weiterhin über das Schicksal dieser Welt bestimmen. Aber seit den Julitagen am Golfstrom ist eines offensichtlich geworden, dass diese Mächtigen, die im Namen der reichsten Staaten der Welt konferieren, einen unglaublichen finanziellen und organisatorischen Aufwand betreiben, um in Sicherheit tagen zu können. Da wird mal kurzerhand die Innenstadt einer Metropole zur Zona Rossa erklärt, d.h. ein ganzer Stadtteil wird durch Metallzäune fein säuberlich von der übrigen Stadt getrennt und in Ausnahmezustand versetzt. In Zeiten knapper Staatskassen grenzt es scheinbar immer wieder an Wunder wie aus Steuergeldern locker fast dreistellige Millionenbeträge für das Funktionieren des Repressionsapparates westlicher Demokratien ausgegeben werden.

Der Gipfel in Heiligendamm kostet schlappe 92 Millionen Euro an so genannten Sicherheitsausgaben. Frau Merkel ist Gastgeberin und lässt sich anders als bei Arbeitslosen nicht lumpen, ihren sieben weiteren superpotenten Gästen ein ruhiges, angenehmes Stelldichein, abgeschirmt von der wirklichen Welt, zu sichern. Wie müssen diese Demokraten Angst haben vor den Folgen, die ihre Politik hervorruft. Aber selbst die Angst vor den Konsequenzen neoliberaler Politik, rechtfertigt noch nicht eine derartige Zurschaustellung von Macht. Die ist nur erklärbar im Zusammenhang damit, dass die reichen Demokratien des Westens, einen zunehmend anwachsenden Teil verarmter Bevölkerungsschichten in Schach halten müssen. Die Zurschaustellung von Macht ist die experimentelle Erzeugung von Ohnmacht auf der Seite der Regierten. Was noch vor Jahrzehnten über soziale Peacementpolitik sozialdemokratischer Herkunft geregelt wurde, wird heute aus der Trickkiste staatlicher Gewalt nach Innen beantwortet.

Denn zunehmend wächst auch die Anzahl derer, die als unermüdliche Kritiker die gemeinsamen und verschwenderischen Stippvisiten der Mächtigen begleiten. In Genua 2001 war die Bewegung mächtig genug, um sich weltweit Gehör zu verschaffen. Der Ordnungsapparat wurde darauf trainiert, bürgerkriegsähnliche Zustände zu provozieren und gegen die Demonstranten unter Einsatz von Schusswaffen vorzugehen. An diesem 20. Juli 2001, als Carlo Giuliani an der Piazza Alimonda getötet wurde, machten nicht nur an diesem Tatort Carabinieri vom Einsatz der Schusswaffe Gebrauch. Jedoch das Exempel, einen Demonstranten zu töten, war zur Abschreckung geplant. Das behaupteten die Demonstranten wie auch die Familie des jungen Carlo. Es war eine gewollte Hinrichtung.

Wer von den schrecklichen Szenen Kenntnis hatte, die diesen furchtbaren sinnlosen Tod eines jungen Menschen ausmachten, glaubte auch nicht der gerichtlich bestätigten Notwehrversion. Dagegen sprach, dass derselbe Junge am selben Ort gleich mehrmals getötet wurde – man tötet keinen Menschen mehrmals in Notwehr und schlägt ihm dann noch mit einem Stein den Schädel ein, um später in den Kasernen mit faschistischen Liedern den Tod eines Demonstranten zu feiern.

Allein diese Tatsache hätte ausgereicht, um auch juristisch zumindest die Notwehrversion grundsätzlich in Frage zu stellen. Unter der Regierung Berlusconi, die personell bis ins Innenministerium für die Vorfälle in Genua verantwortlich zeichnete, war das Bemühen um lückenlose Aufklärung der Umstände des Todes nicht machbar. Auch vor zwei Jahren als sich ein mehr als mysteriöser Autounfall des vermeintlichen Todesschützen ereignete, da die Bremsen des Gefährts versagten, gab es nur wenig Reaktionen und Beachtung in der Öffentlichkeit.

Am 9. Dezember dieses Jahres jedoch war in den Tageszeitungen Italiens zu lesen, was der Carabiniere Placanica zu der Notwehrversion aus zusagen hatte. Die wichtigsten Punkte seines Interviews in der Tageszeitung CalabriaOra bestätigten die Version der Demonstranten und der bis heute um Aufklärung bemühten Rechtsanwälte der Familie Giuliani.

Placanica sagte aus:

- dass er in die Luft schoss aber nicht auf Carlo Giuliani
- dass er benutzt wurde, um jemanden zu decken
- dass nach dem Tod des Jungen, Offiziere der Carabinieri den Leichnam manipulierten.

Dennoch besteht bis in die Reihen der Mittelinksparteien kein großes Interesse, die lückenlose Aufklärung einer staatlich geplanten Hinrichtung des Gewaltapparats zu betreiben. Das würde bedeuten, eine öffentliche Diskussion in Gang zu setzen, die vielleicht auch Fragen zum Gewaltapparat der heutigen Demokratien aufwirft. An der Piazza Alimonda wurden kurz nach dem Todesschuss hochkarätige Offiziere der Carabinieri mit Funktionen in Institutionen der NATO fotografisch ausgemacht. Dass diese Hinrichtung nicht nur eine Frage nationaler Besonderheit darstellt, ist in Zeiten Europas und der G8-Gipfel wahrscheinlich. Das wirft die Frage nach der Koordination der unterschiedlich nationalen Ordnungsapparate auf, die eine einheitliche Strategie der Repression gegenüber den Gegnern der G8 realisieren. Im Falle Genua gab es sogar die Mitarbeit der neutralen Schweiz bei der Überprüfung der anreisenden Demonstranten durch die Grenzorgane.

Carlo Giuliani wird sicherlich nachträglich kurzfristig keine Gerechtigkeit widerfahren und die Lügen und Falschaussagen eine weiterhin wirksame Waffe in der Argumentation gegen die G 8 Gegner bleiben. Dass eine tendenzielle Stimmung in den staatlichen Gewaltapparaten ihrem zeitgemäßen Auftrag entspricht, zeigen einige Aussagen des Carabiniere Placanica in dem erwähnten Interview sehr deutlich:

Frage: Haben Sie über die Vorfälle an der Piazza Alimonda volle Kenntnis gehabt?

Antwort Planica: Nein, von dem Tod des Carlo Giuliani erfuhr ich erst im Krankenhaus, gegen 23 Uhr, als mich Carabinieri in Begleitung eines Majors aufsuchten. Jedoch haben sie mir dort nicht ihre Version mitgeteilt. Sie drangen auf Entlassung, ließen mich das Krankenblatt unterschreiben und brachten mich in die Kaserne zurück. Erst dort hörte ich, das ich Carlo Giuliano getötet haben soll.

Frage: Wie haben sie sich in diesem Augenblick gefühlt?

Mir ist eine Welt zusammengebrochen. Ich wusste, dass ich geschossen habe, jedoch war ich sicher, dass die Schüsse in die Luft gefeuert wurden. Ich wurde einem Verhör unterzogen, es wurde Druck auf mich ausgeübt und man sagte mir, was ich zu antworten habe. Sie versuchten, dass ich mehr aussage als ich wusste, doch blieb ich dabei, nicht direkt geschossen zu haben.

Welche Stimmung haben sie in der Kaserne vorgefunden?

Sie nannten mich Killer und die Kollegen feierten mich. Sie schenkten mir ein toskanisches Barrett und sagten: „Willkommen unter den Mördern“.

Fünf Jahre danach ist Mario Placanica nicht mehr Carabiniere, er wurde als ungeeignet entlassen. Seinen Aussagen nach, ist er da in ein Ding reingeschlittert, das um einiges größer war als lediglich ein Fehlverhalten der Ordnungskräfte und ihrer Offiziere. Mit dem deutschen G8-Gipfel 2007 bleibt auch am 6. Jahrestag des Todes eines jungen Demonstranten ungeklärt, warum er sein Leben lassen musste. Die Frage nach den Hintermännern wirft auch die Frage auf, wie weit es den Mächtigen dieser Welt gelingt, ihre Pläne von Herrschaft und Reichtum mittels des staatlichen Gewaltapparats so abzusichern, dass sie mit der Akzeptanz von Seiten der demokratischen Institutionen und ihrer Vertreter rechnen können. Da wird derzeit viel ausgereizt und v.a. bei den betroffenen Schichten das wahre Gefühl der realen Ohnmacht erzeugt. In der Konsequenz heißt dies, dass ein nicht unerheblicher Teil der Europäer kein Vertrauen mehr in die demokratischen Strukturen und Mechanismen der Einflussnahme auf die Geschicke der Gesellschaft hat.

Heiligendamm wird zeigen, ob es dort gelingt, mit Knüppeln und Medien ein Bild zu erzeugen, das versucht, auf die sozialen Bewegungen Europas all das zu projizieren, was diese Mächtigen der G8 selbst charakterisiert: ihr positives Verhältnis zur Gewalt, zur Einschränkung der Demokratie und Entmündigung ihrer Bürger. Es ist fraglich, ob sechs Jahre nach dem Tod von Carlo endlich die Forderung seiner Eltern zu ihrem Recht kommt, alle Umstände, die zu seinem Tod geführt haben, aufzudecken.