2005-10-13
Seattle
In den letzten Jahren hat die westliche Welt ein Revival des linken und anarchistischen Aktivismus erlebt. Dieser war gegen Freihandelsorganisationen und insbesondere gegen ihre Treffen gerichtet, so wie die der EU, der G8, der WTO und von IWF und Weltbank. Dies erscheint logisch, da diese Treffen der Führer der Welt von großer symbolischer Bedeutung für beide Seiten sind. Auf den ersten Blick sehen sie wie die ideale Gelegenheit aus, die etablierte Ordnung herauszufordern. Gelegentlich sind die Proteste beeindruckend. Die spektakuläre Blockade des WTO-Gipfels in Seattle hat bei vielen Leuten einen starken Eindruck gemacht. Aber ist die Euphorie völlig begründet?
Als der "Milleniumgipfel" der WTO in Seattle scheiterte, feierten die AktivistInnen dies als Sieg. Viele meinten, das Scheitern des Gipfels sei auf die Blockade zurückzuführen, und dies wurde als die Krönung von Jahren des Protestes gegen die 'Globalisierung' betrachtet. Andere Aktionen zu Gipfeltreffen, so wie zum Euro-Gipfel in Köln und zum G8-Gipfel schlugen völlig fehl. 'Gipfelhüpfen' (die Teilnahme an aufeinanderfolgenden Kampagnen zu einem Gipfel nach dem anderen) mag zwar nichts Neues sein, aber es scheint, als würde es immer vorherrschender. Mit dem "Vierten internationalen Tag gegen den Kapitalismus" am 26. September, dem Eröffnungstag der Konferenz von IWF und Weltbank in Prag, erreicht die Gipfelbewegung einen neuen Höhepunkt. Im Vorfeld von Prag finden sich bei den unabhängigen Medien viele Hallelujah-Geschichten über Seattle und Washington. Meiner Meinung nach fehlen aber inhaltliche (und dafür weniger spektakuläre) Artikel. Eine Diskussion über die gegenwärtige Dynamik der Gipfel-Bewegung, z.B. darüber, was die Ziele sind und in welchem Ausmaß sie realisiert werden, fehlt vollkommen. Das Interesse der Leute scheint sich darauf zu beschränken, zum Gipfel fahren und Teil der Massenproteste sein, während es andererseits genügend Gründe gibt, das Gipfelhüpfen einer kritischen Betrachtung zu unterziehen.
Washington
Das Scheitern eines Gipfels macht die Welt auch nicht besser
Das Scheitern eines Gipfeltreffens bedeutet nicht die Entlarvung der kritisierten Organisation. Es trägt auch nicht dazu bei, dass die Welt weniger kommerzialisiert wird. Das Ziel, einen Gipfel zum Scheitern zu bringen, ist plakativ und versorgt die Medien mit ein paar netten Fotos. Aber während internationale Massenproteste einen großen symbolischen Wert haben, bedeuten sie auch nicht viel mehr.
Gipfel-Hüpfen ist nur AktivistInnen aus dem Westen möglich
In den lettzen Jahren haben wir enorme internationale Mobilisierungsaktionen gegen Freihandelsgipfel erlebt. Diese fanden fast ausschließlich im Westen statt. Es ist schwierig für AktivistInnen aus ärmeren Ländern, daran teilzunehmen, und dies ist einer der Gründe, warum die Proteste vorwiegend weiß waren, obwohl die Bewohner der westlichen Welt weniger vom Kapitalismus betroffen sind. Das Reisen um die Welt von Gipfel zu Gipfel ist sicherlich aufregend, aber diese Mobilität erfordert auch genügend Geld. Außerdem bedeutet die einseitige Aufmerksamkeit, die den Gipfeln gewidmet wird, dass die Leute aus dem Westen eine dominante Rolle dabei einnehmen, in welche Richtung sich diese Bewegung entwickelt.
Okinawa
Das Gipfel-Hüpfen wird von Nationalstaaten gesponsert
Finanzstarke Non-Governmental Organisations (NGOs), die Geldmittel von nationalen Regierungen erhalten, gehen davon aus, dass die Lobbyarbeit bei den nationalen Regierungen und den internationalen Institutionen letztlich zu weitreichenden Reformen bei den kritisierten Freihandelsorganisationen führen werden. Häufig sind diese Organisationen selbst strikt hierarchisch und nicht gerade von revolutionärem Charakter. Weil sie ihre Aufmerksamkeit auf Gipfeltreffen konzentrieren und dafür relativ große Geldsummen bereitstellen können, erwecken sie den Eindruck, dass die Gipfel der hauptsächliche Anlass für Aktionen sein sollten. Außerdem halten sich die reichen NGOs an vage Begrifflichkeiten wie 'Globalisierung' und 'Freihandel' und die von ihnen (zu Unrecht) propagierten Alternativen lassen die Basis des Kapitalismus unangetastet. Arme und oft lokale Bewegungen und Initiativen, die mit basisdemokratischen Prinzipien arbeiten, können nicht mithalten, obwohl sie die anti-autoritäre Antwort auf den Kapitalismus darstellen.
Gipfel gehen einher mit repressiven politischen Maßnahmen
Während eines Gipfels ist die Repression durch den Staat besonders stark. Die ausgewählten Staaten unternehmen alles Mögliche gegen Aktionen und Gruppen, lange bevor das Gipfeltreffen stattfindet. Die Konferenzen selbst gehen häufig mit Massenverhaftungen einher. Amsterdam (1997): 700, Genf (1998): 700, Köln (Frühjahr 1999): über 1000, Seattle (1999): 600, Washington (2000): 1300; die Zahl der Festnahmen spricht für sich selbst. Vielleicht wäre es klüger, dann etwas zu unternehmen, wenn es nicht erwartet wird.
Gipfeltreffen gehen einher mit Manipulationen der Medien
Die (Massen)Medien - soviel kann mensch als allgemeines Wissen voraussetzen - haben eine dominante Rolle beim Formen der öffentlichen Meinung. Spektakuläre Ereignisse, so wie vermummte AnarchistInnen, schießende Polizeibeamte und kreativ gekleidete DemonstrantInnen beherrschen die Berichterstattung der Medien, während tatsächliche Information und Diskussion ausschließlich den politischen Kommentatoren und sogenannten Experten in Designeranzügen überlassen wird. Die AktivistInnen werden durchgehend auf eine Rolle als besorgte oder ängstliche, aber vor allem naive BürgerInnen reduziert, die die Politik besser den Experten der gesellschaftlichen Eliten überlassen sollten. Wenn BürgerInnen von den Medien beachtet werden wollen, müssen sie sich auf immer spektakulärere Weise darstellen. Daher erhalten die Gipfeltreffen auch von AktivistInnen so viel Aufmerksamkeit. Beachtung (durch die Medien) wird als von vielen AktivistInnen als das Größte angesehen, und ob das von den Medien gezeichnete Bild den Tatsachen entspricht oder nicht, wird als zweitranging gewertet.
Der Sprung in den Abgrund?
Wir haben das langerwartete Jahr 2000 und viele AktivistInnen meinen, dass Prag dieselbe historische Bedeutung erhalten könnte wie Seattle. Die Frage ist aber, welches bedeutende Ergebnis haben die AktivistInnen bei den vorherigen Gipfeln erreicht?! Diejenigen, die ihre Hoffnung auf verstärkte radikale Reformen und Demokratisierung mittels Aktion und Lobbyismus gesetzt hatten, haben von WTO, IWF und Weltbank nur Lippenbekenntnis erhalten. Radikale Anti-KapitalistInnen haben wieder und wieder erlebt, wie ihre Direkten Aktionen und Sabotageaktionen von den Medien benutzt werden, um die Bewegung zu kriminalisieren. Am letzten Internationalen Aktionstag wurde deutlich, wie schnell der Staat aus seinen Fehlern lernen kann. Die Zahl der Festnahmen lag über 1300. Was erfolgreiche globale Mobilisierungen wie Seattle und Washington vor allem erreicht haben ist, dass sie das Selbstvertrauen der westlichen AktivistInnen gestärkt haben In den letzten Jahren wurde zahlreiche besondere und inspirierende Koalitionen zwischen Organisationen überall in der Welt gebildet. Durch die Koordination ihrer Aktionen erhielten ihre Anstrengungen eindeutig mehr Wert, verglichen mit isolierten oder lokalen Aktivitäten. Das heißt aber nicht, dass wir nun die vollkommene oder ewiggültige Erfolgsformel gefunden haben. Es ist wichtig, das, was und bewegt und was wir erreichen wollen, einer kritischen Würdigung zu unterziehen. Klare Ziele müssen gesetzt werden und es muss untersucht werden, inwieweit wir diese Ziele erreichen. Ein englischer Aktivist verglich die Bewegung mit einem Schneeball, der den Berg runterrollt und dabei immer größer wird. Er meinte, zu viel Diskussion würde nur das Anwachsen des Schneeballs behindern. Hoffen wir, dass der Schneeball nicht letztlich in einen Abgrund rollt.
marco (EuroDusnie collective, The Netherlands)
http://squat.net/eurodusnie