2002-03-25 

Nachbetrachtungen zu Barcelona

Bis zu einer halben Million Menschen auf den Strassen von Barcelona anlässlich eines Treffens der EU-Staatschefs. Diese Zahl wurde nicht nur in den Mainstream-Medien, sondern auch den unabhängigen Medien (wie indymedia) hysterisch abgefeiert. Wahrlich, diese Zahl ist beeindruckend. Genauso beeindruckend wie 1 bis 3 Millionen Menschen auf den Strassen Roms gegen das System Berlusconi.

Doch sind diese Zahlen ein Erfolg?

Das kommt wohl auf den Standpunkt an. Von meinem (antikapitalistischen, anarchistischen) Standpunkt aus sind diese Zahlen leere Hülsen, denen leider der Inhalt fehlt. Meine Kritik an den Tagen in Barcelona soll diese Leere verdeutlichen und Diskussionsansatz für zukünftige Mobilisierungen sein. Außerdem will ich noch einen Schritt weitergehen und klarstellen, dass die Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche antikapitalistische Mobilisierung meiner Meinung nach nur darin liegen kann, lokale Netzwerke aufzubauen, um die Menschen über unsere Proteste und Inhalte informieren zu können, sowie uns lokal in Alltagsdiskussionen einzuschalten, um eine wahrnehmbare und erfahrbare Alternative zur Diskussion stellen zu können.

2002

Ansonsten werden wir eines Morgens aufwachen und merken, dass die großen Organisationen mit ihren Spektakeln für die Medien uns plattgemacht und uns den Protest geraubt haben, den wir immer versuchten zu beginnen, aber niemals wirklich begannen. Möge der Name dieses Prozesses “Europäische Soziale Consulta” heißen oder “lokale Verankerung”, wichtig ist der Vorgang der Bildung von Netzwerken in unseren Städten, Nachbarschaften, Schulen, Betrieben, Vereinen,… denn das ist unser Unterschied zu den grossen Organisationen: Sie versprechen ein besseres Leben um zu triumphieren, wir versuchen unsere Utopien und Vorstellungen einer besseren Welt konkret werden zu lassen. In unserem Leben. Jetzt!

Angst vor Repression muss nicht in Paranoia enden

Bereits im Vorfeld herrschte vor allem im Umfeld der HausbesetzerInnen-Bewegung in Barcelona sehr große Angst vor Repression. Oftmals steigerte sich diese in Paranoia. Nicht die Angst will ich kritisieren, denn die war und ist berechtigt, da die Regierungen versuchen uns zu kriminalisieren, zu verfolgen und zu zerreiben. Natürlich ist da Angst durchaus angebracht, reagieren sie doch mit Waffen und Gewalt auf unsere Kritik und unseren Protest.

Repression gab es allerdings auch schon immer. Die Formen waren auch meist die gleichen oder zumindest ähnlich: Die Regierungen und ihre Polizeien erzeugen Angst und Unsicherheit, schnappen sich einige um Exempel zu statuieren, versuchen durch gezielte Propaganda das Anliegen des Protestes zu verwischen und zu vertuschen, wollen uns isolieren und zerstören. Es ist neu, dass unser Protest sich international zu vernetzen beginnt und globale Unterdrückungs- und Ausbeutungsstrukturen kritisiert und ablehnt. Somit reagieren auch die Regierungen mit internationalisierter Repression.

In den Tagen vor den Protesten hatten viele mehr Paranoia als Angst. Der Unterschied ist: Angst gibt uns die Möglichkeit wachsam zu sein und Strukturen aufzubauen, die uns schützen können. Paranoia macht uns blind und handlungsunfähig!

Die Paranoia hat um sich geschlagen wie wild. Schlafplätze wurden verweigert, Entsolidarisierungen setzten ein. Menschen flüchteten aus der Stadt (was durchaus verständlich ist), Strukturen kamen zum Erliegen, es gab kaum mehr Möglichkeiten die Situation realistisch einzuschätzen und Pläne aufzustellen. Dies war in weitem mitverantwortlich für die Fehler und Probleme, die es dann während dem Gipfelprotest gab. Allerdings nicht ausschlieslich.

Raum ist nicht gleich Freiraum

Eines der bedeutensten Probleme der Tage in Barcelona war das Fehlen von Raum für Kommunikation und Austausch. Gleichzeitig war dies, nach den Schwierigkeiten bei der Pennplatzsuche, auch die am deutlichsten spürbare Folge aus der allgemeinen Paranoia. Als positives Beispiel dazu möchte ich das IMC in Genua erwähnen, das einen solchen Raum bot. Ich meine damit vor allem eine allgemeine Zugänglichkeit, das Vorhandensein internationaler Strukturen, Internetanschluss, Möglichkeiten des Austauschs in Form von organisierten Treffen, sowie informellem Zusammensitzen, Baumaterial zum Erstellen von Bannern und kreativen Dingen, vielleicht was zu Essen und zu Trinken, was allerdings am wichtigsten ist: das Entstehen eines Freiraums.

Im Gebäude der Universität gab es ein “Convergence Center”, welches aus einem Infotisch bestand mit Informationsbroschüren auf (fast ausschlieslich) katalanisch und spanisch. Dieser Tisch stand gut versteckt hinter Stellwänden einer ständigen Ausstellung und war kaum zu finden bzw. lud nicht gerade zum Verweilen und Diskutieren ein. Es gab dort zwar Baumaterial, von dem aber niemand wusste, ob das nun extra für etwas gebraucht wird und sozusagen dort deponiert wurde oder mensch das zur freien Verfügung benutzen konnte.

Kommunikation und Information liefen dort vor allem über einen Tisch ab, der die Theke bildete zu den Personen mit den Informationen, die dort natürlich auch einen Internetanschluss hatten, den mensch aber leider nicht nutzen konnte und den “Informationsverteilungsmenschen” vorbehalten war. Auch sonst gab es an der ganzen Uni keine Möglichkeit für Menschen, die nicht dort eingeschrieben sind, mal eben kurz ins Internet zu schauen oder seine Eindrücke über die unabhängigen Medien (indymedia) mitzuteilen.

Menschen saßen zwar im Innenpark der Uni und dort wurde auch durchaus kreativ gearbeitet und sich getroffen. Allerdings hielt sich der Tatendrang angesichts der begrenzten Möglichkeiten in Grenzen und anstatt mit anderen Menschen über mögliche gemeinsamme Aktionen zu reden war vor allem das Sammeln von Informationen über die bereits bestehenden Strukturen und Aktionen Inhalt der Konversationen. Es konnte kein Freiraum entstehen, da es nicht die Möglichkeiten gab selbstständig etwas entstehen zu lassen. Mensch musste schauen, wo er/sie sich eingliedern konnte.

Dominanz ist Macht

Am Abend fand ein (als “international Meeting” angekündigtes) Treffen statt, das anscheinend mal als eine Art Speakers Corner geplant war. Dort setzte sich der eben beschriebene Trend fort, gipfelte allerdings noch in der Dominanz einzelner Personen/Gruppen. Anstatt ein Bezugsgruppentreffen abzuhalten gab es von einer (bzw. zwei) Person(en) einen Vortrag über den “Tag der dezentralen Aktionen”, wobei das Konzept von diesen dahingehend verändert wurde, daß “ihre” Aktion im Vordergrund stand, ausführlich beschrieben und mit der Möglichkeit, sich dort eingliedern zu können. Ganz nebenbei wurden auch noch zwei andere Aktionen abgehakt: Von der einen war leider keinE VertreterIn anwesend, also weiter zur nächsten und bei der zweiten gab es eine im Gegensatz zur Vorstellung der “Hauptaktion” so schlechte Übersetzung, das sowieso niemand ernsthaft begriff, was da geplant war. Einen Aufruf zu autonomen Aktionen gab es genauso wenig, wie eine Vorstellungsrunde. Es war total unklar, ob denn die Leute die dort anwesend waren, Deligierte ihrer Bezugsgruppen waren, noch aus welchen Ländern sie waren, noch was sie sich denn vorgestellt hatten,…

Damit war eigentlich bereits klar, das das Konzept “Tag der dezentralen Aktionen” gescheitert war.

Auf die einzelnen Aktionen möchte ich jetzt eigentlich gar nicht mehr genauer eingehen, vielleicht aber kurz: Mars-Attack war eine militante, konfrontative Aktion, die bereits im Vorfeld als Kamikaze eingestuft wurde und dies dann auch war, Lobby-Busters war eine kreative, explizit gewaltfreie Aktion, die ein nettes Medien-Spektakel gewesen wäre, wenn sich die Medien für unsere Inhalte interessieren würden. Neben diesen beiden großen Aktionen gab es noch kleinere Sachen, wie öffentliches Fisch-Grillen der Anarcho-Syndikalisten, Stadtrundgang zu südamerikanischen Botschaften, Critical-Mas-Fahrradtour, Popcorn gegen Genmais ausschütten,…
Insgesammt waren das an diesem Tag alles ganz nette Beschäftigungen, denen nur der Zusammenhang fehlte und die für ihre absolute Wirkungslosigkeit viel zu viel Verhaftete und Verletzte produzierten.

Verantwortlich für dieses Scheitern war, wie bereits erwähnt, die Dominanz und Vereinnahmung dieses Tages von einigen Leuten (die Frage ist weshalb diese so handelten, wie sie handelten) und damit das Fehlen eines (autonomen) Netzwerks zur Koordination und Planung von dezentralen Aktionen kleinerer Bezugsgruppen.

Außerdem fehlte ein klares Ziel für diesen Tag. Klar war nur, daß es keinen Angriff auf die rote Zone geben wird. Als gemeinsammes Ziel hätte beispielsweise ausgemacht werden können, den Verkehr in Barcelona an diesem Tag zum Erliegen zu bringen. Dann hätten verschiedene Bezugsgruppen ihre jeweiligen Aktionsformen einsetzen können und ein bunter und vielfältiger Protest hätte entstehen können.

Als weiteres Hindernis war an diesem Freitag bzw. im Vorfeld dessen mal wieder das Sprachenproblem, welches sich die gesamten Tage über hinzog und vor allem internationalen Leuten den Zugang zu Informationen und damit die Möglichkeit der Einbringung bzw. Ausarbeitung eigener Ideen oftmals unmöglich machte. Bei einem internationalen Protestereignis (fast) nur Informationen auf katalanisch und spanisch zu produzieren ist sehr unsinnig und arrogant! Nicht nur in bezug auf den Protest an sich, sondern auch in bezug auf den Rahmen darum, so war es beispielsweise sehr schwer für internationale Menschen herauszubekommen, wo und wann es billiges Essen (Vokü) gab bzw. Konzerte oder sonstige Möglichkeiten in lockerer Atmosphäre die Menschen vor Ort und die extra angereisten Leute kennenzulernen und sich auszutauschen.

Frontal berieselt ist nicht zusammen protestiert

Am Freitag abend stand als Abschluß des “Tag der dezentralen Aktionen” ein Circus auf dem Programm, der gleichzeitig Anlaufpunkt sein sollte, um nach den dezentralen Aktionen zusammenzukommen, auszuwerten und evtl. Soli-Aktionen durchzuführen. Als Kleinkunst-Spektakel angekündigt, irritierten beim ersten Betreten des Platzes zunächst die massenweise vorhandenen Autos und Busse der Mainstream-Medien. Beim genaueren Betrachten offenbarte sich folgende Kulisse: eine große (hätte ich mich am Abend nicht zu Manu Chao gewagt, wurde ich wahrscheinlich sogar von einer rießigen Bühne sprechen), die Fernsehkameras tümmelten sich am Rande der Bühne und versperrten manchem Zuschauer die Sicht, drumherum die Menschen in einem Halbkreis (etwa 5000), den Blick auf die Bühne gerichtet lauschten und verfolgten die Show mit Spannung. Die Darbietungen waren gut und mensch sah, daß es sich um Profis handelte, jounglierte doch beispielsweise einer mit drei Diabolos zur selben Zeit und schafften dann auch noch das Kunststück fünf der Dinger in der Luft zu halten. Respekt!

Interessiert war ich, was dort denn für Menschen sind. Nicht die Darsteller, sondern die anderen, die wie ich hier saßen und sich berieseln liesen. Doch leider war es nicht möglich herumzugehen und sie zu fragen, wer sie denn sind, was sie heute gemacht hatten und warum sie hier sind. Der Circus war dazu da, still zu sitzen und zu konsumieren. Auch wir hatten unsere Jonglierutensilien dabei, doch da war mal wieder kein Raum. Kein Freiraum, wenn hätten wir den Platz verlassen müssen, an den Rande gehen, doch wir wollten doch dabei sein. Hier sein! Zusammen mit vielen Menschen hier sein! Zusammen! Doch es war kein Zusammen, sondern wie ein großer Fernseher, der die Menschen dumm hält und die Diskussionen tötet, die Gedanken benebelt.

Zusammen protestieren ist nicht gemeinsamme Ziele und Gedanken zu haben

Dann am Samstag waren wir alle zusammen. Eine halbe Million Menschen auf der Strasse. Ein krasses Gefühl, soviele Menschen zu sehen, die protestieren. Überall ist Stimmung, Musik, Fahnen, Transparente. Die Luft durchzieht eine politische Atmosphäre, es entsteht ein Gefühl, das wir etwas erreichen können, das wir nicht umsonst auf die Strasse gehen und es gibt Kraft zu kämpfen.

Doch was sind das für Leute? Eine große Vielfalt von Reformisten bis zu Nationalisten. Da laufen die Grünen neben den ATTACies, die Kommunisten neben den Sozialdemokraten und die Anarchisten neben den baskischen Nationalisten. Was eint uns und was trennt uns?

Es ist ein scheiß Gefühl, neben einer überdimensionalen 10×30m großen katalonischen Fahne zu laufen. Es ist ein scheiß Gefühl, vor einem Transparent zu stehen, das für ein Europa der Völker eintritt und damit die Politik Berlusconis und Stoibers projeziert. Es ist ein scheiß Gefühl, die Luftballons der Grünen vor mir schaukeln zu sehen, die Deutschland wieder zu einer (menschenrechts-)kriegsführenden Nation gemacht haben. Es ist ein scheiß Gefühl, die wichtigtuenden Ordner zu sehen, die Ketten bilden, damit alles abläuft, wie sie es wollen. Es ist ein scheiß Gefühl, mitten in einem politischen Zirkus zu stehen, wo alle zusammen aber trotzdem gegeneinander kämpfen.

Dann ein großer unabhängiger Block. Spontan gebildet und nicht geplant, aus all den Menschen, die sich nicht unter eine der vielen Fahnen einordnen wollten. 10.000 Menschen ohne Parteiabzeichen, Organisationsfahne und sonstigem Schnick-Schnack. Banken zerbersten, Grafitti an den Wänden nennt den Grund, warum wir hier sind: Kapitalismus lässt sich nicht reformieren! Keine Macht, keine Hirarchien! Die Medien lügen und töten! Ein kurzer Aufstand, bisher leider nur symbolisch. Die Polizei rückt vor, schießt in die Menge, löst unseren Protest gewaltsam auf. Die Reformisten und Nationalisten sind weg. Wir sind auf uns gestellt, bauen Barrikaden, versuchen nicht von den Geschossen der Polizei getroffen zu werden und nicht von den zivilen Greiftrupps verschlagen und festgenommen. Hetzjagd!

Was berichtet wird ist nicht was wir sagen wollen

Am nächsten Tag in den Medien: Bis zu 500.000 demonstrieren friedlich, am Rande kleinere Auseinandersetzungen. Sie beginnen uns aus den Köpfen zu streichen. Wo bleiben unsere Inhalte? Die Fenster der Banken werden ersetzt, die Grafittis weggeputzt. Was bleibt sind ihre Geschichten.

Wir müssen anfangen ihnen ihre Geschichten streitig zu machen. Indymedia war ein guter Anfang, doch auch nicht mehr. Indymedia erlaubt uns unsere Geschichten weltweit zu verbreiten und selbst zu erfahren, wie überall auf der Welt Menschen aufstehen für ein selbstbestimmtes Leben und radikal die Legitimation derer, die sie beherrschen, in Frage stellen und zerstören. Beispielsweise versuchen Menschen in Argentinien gerade sich selbstzuorganisieren. Davon bekommen wir nur mit, weil wir die Geschichten der Menschen dort empfangen und weitertragen.

Es kommt aber auch darauf an, sie den Menschen in unserer Nachbarschaft mitzuteilen. Und nicht nur die Geschichten des Aufstandes in Argentinien, sondern auch des Mini-Aufstandes in Barcelona. Wir müssen ihnen das berichten, sonst sterben unsere Stimmen und wir können noch so laut rufen, niemand wird uns mehr hören, geschweige denn verstehen. Dazu gehört auch mehr, als das Internet. Wir müssen wieder Zeitungen drucken, Plakate machen, Radio senden und mehr.

Wir müssen die Menschen treffen. Mit ihnen reden, ihnen unsere Ideen mitteilen. Sie einladen, uns ihre Ideen mitzuteilen, ins Gespräch kommen, diskutieren. Entweder wir beginnen jetzt ernsthaft eine Alternative aufzuzeigen bzw. zu entwickeln, gemeinsam mit den Menschen mit denen wir leben und arbeiten.

Oder wir können echt einpacken, dieselben Fehler machen wie so oft und bei Bier und Hasch von der Revolution träumen, die niemals kommen wird.

Das war Barcelona für mich,
ich träume noch immer und hoffe niemals damit aufzuhören,
und ich kämpfe und werde mich erst zufrieden geben,
wenn wir in einer herrschaftslosen, selbstbestimmten Gesellschaft leben,
so long – es gibt viel zu tun… ein Haschrebell.

[Indymedia.de Von: h(A)schrebello 25.03.2002 01:56]