2002-07-09
ARTE THEMENABEND, DIENSTAG 16.7.02
WAS TUN? AKTIVIMUS HEUTE
Fast auf den Tag genau, ein Jahr nach den Protesten von Genua, stellt der ARTE-Themenabend die Frage: Was tun? Vorgestellt werden neue Formen demokratischen Engagements und politischen Aktivismus, die äußerst flexibel und mit vielfältigen Strategien operieren sowie einen zeitgemäßen Begriff von Solidarität und Selbstbestimmung.
20.45
EINE WELT ZU ERFINDEN
Dokumentation · 40 MIN · VPS 20.45
von Florian Schneider, Deutschland 2002, Deutsche und französische Erstausstrahlung
Was soll man anfangen mit dem Wissen um all die Ungerechtigkeiten, mit dem unbedingten Wunsch nach Veränderungen? Was tun mit der Frage "Was tun?" Im Eröffnungsfilm erörtern vier führende Theoretiker die brennenden Fragen einer Bewegung, die vorschnell mit dem Etikett "Globalisierungsgegner" abgestempelt wurde. Die Soziologin Saskia Sassen aus Chicago hat mit ihren Studien zur "Global City" die Forschung zur Globalisierung entscheidend geprägt. In der Protestbewegung seit Seattle sieht sie eine neue politische Architektur entstehen, die durch die Vervielfachung lokaler Bezugspunkte eine Politik des Globalen erst denkbar und möglich macht. Franco Bifo Berardi, notorischer Querdenker aus Bologna, ist flammender Verfechter einer Kultur der Vernetzung. Er plädiert für einen neuen Begriff von Freundschaft als Grundlage von Beziehungen, die sich jenseits der alten Logik von Markt und Wettbewerb formieren. Michael Hardt und Toni Negri haben mit ihrem Bestseller "Empire" das politische Manifest einer globalen Bewegung vorgelegt. Der junge US- amerikanische Literaturprofessor und der Staatsrechtstheoretiker aus Rom überlegen, wie sich aktuelle politische Formationen, die sie mit dem Begriff der "Multitude" ("Menge" / "Vielfalt") zu fassen versuchen, von ihren Vorläufern unterscheiden. "Im Gegensatz zur Masse, die immer passiv bleibt, ist die ,Multitude' aktiv. Es geht um die Fähigkeit, bei aller Unterschiedlichkeit gemeinsam handeln zu können." (Michael Hardt)
21.25
GANZ IN WEIß - TUTE BIANCHE
Dokumentation · 30 MIN · VPS 21.25
von Adonella Marena, Italien 2002, Deutsche und französische Erstausstrahlung
"Tute blu" heißt im Italienischen der Blaumann, die traditionelle Arbeitskleidung des Facharbeiters, der nicht nur einen Job hat, sondern vor allen Dingen stolz auf seine Tätigkeit ist, seine Rechte kennt und dafür auch zu kämpfen versteht. Doch ein solches Selbstbewusstsein, das immerhin die Grundlage der Arbeiterbewegung, der größten sozialen Bewegung des 20. Jahrhunderts, bildete, ist heutzutage vom Aussterben bedroht. Als Ende der 90er Jahre die Arbeitslosenproteste aus Frankreich herüberschwappten, organisierte sich in Norditalien ein Aktionsbündnis mit dem Namen "Tute bianche" quer zu den traditionellen politischen Formationen. "Tute bianche" machte den "weißen Overall" zu seinem Erkennungszeichen. Damit sollte denjenigen ein Erscheinungsbild verliehen werden, die in der heutigen Gesellschaft unsichtbar sind, die kein Gesicht und keine Stimme haben: Arbeitslose, Rechtlose, Illegale, Gelegenheitsarbeiter, Obdachlose - kurz: die Gesamtheit aller an den Rand gedrängten Menschen. Weit über die spezifischen, italienischen Verhältnisse hinaus repräsentierten die "Tute Bianche" einen ebenso riskanten wie energiegeladenen Ansatz politischer Praxis, der von kleinen Aktionen im Wohnviertel vor Ort bis hin zu spektakulären theatralischen Auftritten und Aktionen auf den Demonstrationen gegen die verheerenden Auswirkungen der Globalisierung reichte. Ob in Seattle, Prag oder Genua - die "Tute Bianche" waren überall dabei. Nach den schweren Krawallen während des G8-Gipfels in Genua, stellt sich jedoch für die "Tute Bianche", wie für viele andere Globalisierungskritiker die Frage, welcher Formen sich der Protest gegen die Missstände vor Ort und in der globalen Welt nun bedienen kann.
21.55
"DEPORTATION CLASS"
Dokumentation · 26 MIN · VPS 21.55
von Kirsten Esch, Deutschland 2002, Deutsche und französische Erstausstrahlung
"Was können Sie tun?" liest man in einem Aufruf einer Lufthansa-Broschüre "Sie fühlen sich vielleicht ohnmächtig, wenn Sie an Bord eines Flugzeuges an Händen und Füßen gefesselte Menschen sitzen sehen, die in Begleitung von Zivilpolizisten sind. Sie glauben, nichts tun zu können, um die gewaltsame Abschiebung aufzuhalten. Irrtum!" Seit wann protestiert die Lufthansa gegen ihre eigenen Abschiebungsflüge? Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich die Broschüre als täuschend echte Fälschung: "Deportation Class" lautet der ironische Absender der Broschüre. "Deportation Class" ist der Name einer Kampagne gegen Zwangsabschiebungen. Der gewaltsame Erstickungstod des sudanesischen Flüchtlings Mohammed Aamir Ageep an Bord einer Lufthansa Maschine war vor drei Jahren der Auslöser für das bundesweite Netzwerk "Kein Mensch ist illegal", eine Kampagne gegen die Abschiebungen durch Fluggesellschaften zu starten. Ziel dieser Kampagne ist es, die an den Abschiebungen beteiligten Fluglinien soweit unter öffentlichen Druck zu setzen, dass sie den Transport von Zwangspassagieren künftig verweigern. Die Lufthansa mit den in der Zahl meisten Abschiebungen ist dabei verstärkt in der Kritik. Für ihre Kampagne haben sich die Aktivisten der "Deportation Class" bisher eines Satzes vielfältiger Methoden bedient, die nicht den Konzern an sich, sondern bestimmte, leicht verwundbare Stellen seines Image im Visier haben: Von aufwändig gestalteten Websites, die die Konzern- Ästhetik parodieren, über täuschend echt gestaltetes, gedrucktes Werbematerial, das in Call- Centern, vor Flugschaltern und in Reisebüros für Verwirrung sorgt, bis hin zu Performances bei Aktionärsversammlungen und Informationsveranstaltungen der Fluggesellschaft. Das Unternehmen Lufthansa als schwächstes Glied in der langen Kette deutscher Abschiebepolitik ist ein konkretes und gut erreichbares Ziel der Anti-Image- Kampagne "Deportation Class". Schon jetzt ist die Kampagne wesentlich erfolgreicher als herkömmliche Protestformen wie Kirchenasyl, die dazu neigen, immer wieder gegen dieselbe Wand zu rennen. Und dafür ernteten die Aktivisten in Fachkreisen breite Anerkennung, die bis hin zum Wall Street Journal reicht.
22.25
DIE UNORGANISIERBAREN
Dokumentation · 32 MIN · VPS 22.25
von Florian Schneider, Deutschland 2002, Deutsche und französische Erstausstrahlung
Unterbezahlte Arbeiter in Textilfabriken, Putzkräfte ohne gültige Aufenthaltspapiere, temporär Beschäftigte in der High-Tech-Industrie: Die Protagonisten einer neuen Welle von betrieblichen Auseinandersetzungen in Kalifornien galten bis vor kurzem schlichtweg als unorganisierbar. Heute bilden sie eine neuen Generation von Arbeitskämpfen, in denen der extrem prekäre Status der Arbeitskraft nicht Hinderungsgrund, vielmehr der Ausgangspunkt für vielfältige Formen gewerkschaftlicher und außer- gewerkschaftlicher Organisierung ist. Der Film stellt in Kurzporträts drei verschiedene Kampagnen vor: Im Garment Worker Center in Los Angeles organisieren sich Textilarbeiter aus unterschiedlichsten Ländern, um ihre Löhne einzufordern und für bessere Arbeitsbedingung zu kämpfen. Gegen ihre Arbeitgeber haben sie oft keine Chance, deswegen wenden sie sich an die Modehäuser, die die unter elenden Bedingungen gefertigten Kleidungsstücke vertreiben. Wie erfolgreich der Kampf um die eigenen Rechte sein kann, beweisen ausgerechnet die Reinigungskräfte, die sogenannten "Janitors". "Justice for Janitors" fordert Gerechtigkeit für Menschen, die meist illegal über die Grenze kommen und seit der Rezession in den 80er Jahren von den Unternehmen als bereitwillige Lohndrücker benutzt wurden. In Los Angeles ist es der Dienstleistungsgewerkschaft Local SEIU mit der systematischen Organisierung lateinamerikanischer Putzkräfte gelungen, das Vorurteil der "Unorganisierbarkeit" nicht nur zu widerlegen, sondern in das glatte Gegenteil zu verkehren. "Debugging" heißt im High-Tech Slang die Überprüfung eines Produktes auf etwaige Mängel und Schwachstellen hin. Debug ist seit kurzem aber auch der Name einer Initiative von Beschäftigten bei Zeitarbeitsfirmen im Silicon Valley. "De-bug" ist eine Plattform für neue Organisierungsformen, die auch in einer Umgebung funktionieren, in der allein schon das Aussprechen des Wortes "Gewerkschaft" die fristlose Kündigung nach sich zieht.
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