2001-11-17 

Gemeinsames Antirepressionsbündnis (Berlin): Aussageverweigerung stillschweigen?

Wir haben den folgenden Text als Beitrag zu der längst fälligen Diskussion um Aussageverweigerung verfasst, da auch wir von der Anzahl der Aussagen/Einlassungen in Göteborg und Genua überrascht waren.
Der Text befasst sich mit einigen Überlegungen zu den Aussagen in Göteborg /Genua, und zu Aussageverweigerung im Allgemeinen, einem Thema, dessen Diskussion wir im Hinblick auf die sogenannten Sicherheitsgesetze in der BRD und die Gesetzesverschärfungen in der EU für dringlichst erforderlich halten.

Grundsätzlich vertreten wir das Prinzip "es gibt keine Gründe für Aussagen", weder die Androhung von langjährigen Haftstrafen, U-Haft, noch Sprachbarrieren im Ausland. Gerade weil Mensch die Sprache nicht versteht und er/sie weder die Rechtslage kennt, noch das Konstrukt der Staatsanwaltschaft, darf es zu keiner Aussage kommen.
Leider ist es so, das Aussageverweigerung zu einer individualistischen Entscheidung geworden ist. Der Verlust eines Gefühls kollektiver Stärke trägt dazu maßgeblich bei. Es ist keine Überlegung mehr, für ein "Prinzip" in den Knast zu gehen. Dies ist in der Diskussion schon länger als was "martyrerhaftes" belegt. Den deutlichen Ausdruck dafür sehen wir in der Argumentation und Arbeitsweise der Soligruppe, nach dem Motto: Hauptsache die Gefangenen kommen so schnell wie möglich raus.
Ein weiterer Punkt ist unserer Meinung nach, daß keine/r mehr damit rechnet längerfristig einzufahren. Dies war vor mehreren Jahren anders. Durch die enorme Repression in den 70er und 80er Jahren, war die Beschäftigung mit Knast viel intensiver, was mensch auch an Büchern wie "Ratgeber für Gefangene" oder an Zeitschriften wie die leider eingestellte "Durchblick" sehen kann. Es ist aber immer noch Notwendig die Knastsituation theoretisch durchzuspielen und Konsequenzen und Verfahrensweisen mit FreundInnen zu besprechen. Das mindert das lähmende Gefühl von Unsicherheit unter den einschüchternden Umständen im Knast.
Wir hatten den Eindruck, daß, obwohl die Schüsse in Göteborg ein Thema waren, die Möglichkeit in Genua einzufahren für viele nicht real war. Zwar war vielen von uns bewußt, daß es zu schweren Auseinandersetzungen mit den Bullen kommen wird, trotzdem waren fast alle vom Ausmaß der Repression und Gewalt überrascht.
Auch wir, als Antirepressionsgruppe, haben es versäumt, im Vorfeld Veranstaltungen zu Aussageverweigerung und der Rechtslage in Italien zu machen.
Speziell bei Genua wurde ein weiteres Problem deutlich, über das selten diskutiert wird: Wie gehen wir in der Situation direkter oder indirekter persönlicher Betroffenheit mit Aussageverweigerung um? Oder anders gefragt: Welchen Unterschied macht es für uns, wenn die Gefangenen enge FreundInnen sind? Darf dies bei Aussageverweigerung eine Rolle spielen, wenn mensch bedenkt, dass alle Gefangenen FreundInnen haben?
Den Gefangenen in Genua wurde von verschiedenen Einzelpersonen und Gruppen zu Einlassungen geraten. Hier ist der erste Fehler im Umgang mit dem Begriff. Einlassung ist ein juristischer Begriff und verdeckt, wie viele juristischen Wörter, das eigentliche Geschehen. Einlassungen sind immer, außer bei einem Prozess, erst mal Antworten auf Fragen. Meist sind dies "belanglose" Fragen, aber was diese bestätigen oder nicht, kann mensch nicht wissen. Auch gibt es keine/n die/der sagen kann daß sie/er die konkrete Verhörsituation überblicken und deshalb das Verhör rechtzeitig abbrechen kann. In dem Moment, indem Fragen nicht mehr beantwortet werden, kann dies von den Bullen oder der Staatsanwaltschaft als "Beweis" angesehen und gegen eine/n verwendet werden. Was bis zu dem "Abbruch" des Verhörs bereits bestätigt oder gesagt wurde, weiß ausserdem keine/r.
Grundsätzlich ist zu unterscheiden zwischen einem Verhör (Bullen/Staatsanwaltschaft) und dem eigentlichen Prozess. Bei einem Prozess kann die "Einlassung" aus einem vorgelesenen Statement (Prozesserklärung) bestehen, das am Anfang oder Ende vorgetragen wird. Mensch kann, muß aber keine Fragen beantworten. Der größte Unterschied besteht allerdings darin, daß mensch bei einem Prozess weiß, welche "Vergehen" sie/er begangen haben soll und sich konkret dazu äußern kann, während sich bei einem staatsanwaltschaftlichen Verhör, bei den Bullen oder der/dem Vernehmungs- / HaftrichterIn die Beschuldigungen "ändern" können. Mensch weiß nicht, welche Vorwürfe letztendlich zu Anklagen werden.
Gerade in diesem Punkt ist die Rolle der AnwältInnen in Genua ist ein großes Problem gewesen. Uns wurde mehrfach gesagt, daß diese immer wieder auf Aussagen drängten. Dabei wurde auch immer wieder gesagt das Mensch damit "Kooperationsbereitschaft" zeigt.
Dazu gibt es eigentlich nur zu sagen: Es ist nicht Sache der Linken, kooperationsbereit einem Staat und seinen Rechtssystem gegenüber zu sein.
Oft vergessen wird, das AnwältInnen eine bestimmte Funktion innerhalb des Rechtssystems einnehmen. Es ist durchaus "üblich", auch hier in Berlin, Menschen zu Aussagen zu raten oder über ZeugInnenaussagen zu versuchen, die Leute frei zu kriegen. Dies ist ihr Job. Unsere Sache ist es, den AnwältInnen zu sagen, das wir dies ablehnen und das sie unsere Strategie unterstützen sollen.
Mit dem was in Göteborg und Genua passiert ist, wird es zur Normalität Aussagen zu machen. Diese Praxis untergräbt nicht nur ein politisches Prinzip, sondern schwächt die Position von Leuten, die die Aussage verweigern und schafft die Stimmung Aussagen seien "normal". Wenn alle die "unschuldig" sind Aussagen machen, wird Aussageverweigerung faktisch zu einem "Schuld"-geständnis. Sicher, Aussageverweigerung ist oft der schwerere Weg, besonders wenn mensch (teilweise bis zum Prozess) in U-Haft sitzt, und führt i.A. nicht dazu, daß Mensch schnell entlassen wird, wie die lange U-Haft der wegen RZ-Verdachts sitzenden GenossInnen zeigt. Trotzdem, jede Aussage oder Einlassung die eine/r von "uns" macht, trägt dazu bei das "Recht" auf Aussageverweigerung, daß juristisch jeder/m zusteht, immer mehr in seiner Funktion zu untergraben.

Unsere Kritik:

An die Ex-Gefangenen:
Die Informationen über die Haftbedingungen und was so diskutiert wird, waren meist ungenügend ( wobei uns nicht klar ist, ob dies an euch oder den Soli-Gruppen lag).
Es gibt anscheinend keine Bereitschaft die Wiedersprüche und Fehler aufzuarbeiten, die Aussagen sind kein Thema. Uns wird jede Möglichkeit genommen, mit euch eine öffentliche Auseinandersetzung zu führen.

An das Umfeld/Soligruppen:
Es gab und gibt ein ziemliches Abblocken von Diskussionen. Informationen wurden als "privat" betrachtet und nicht, oder kaum, weitergegeben. Solidaritätsarbeit läuft nicht ohne die "Szene", die aber braucht Infos.
Außerdem wurde von einem Teil des Umfelds/der Solidgruppen zu Aussagen geraten. Wir wollen hier nicht spekulieren, vermuten aber, daß die persönliche Nähe zu den Gefangenen, die fehlende Auseinandersetzung mit Repression und die Tatsache, dass Einlassungen nicht als Aussagen gewertet werden, maßgeblich waren.

An beide geht die Kritik,
daß es bis heute keine Nachbereitung, Veranstaltung oder Stellungnahme gab.

An "uns alle" geht die Kritik,
daß wir es im Vorfeld von Ereignissen wie Göteburg und Genua versäumt haben, uns mit der rechtlichen Situation in den Ländern auseinanderzusetzen und das wir im Vorfeld keine Strukturen dafür aufgebaut haben, Menschen im Knast schnell zu helfen.

Wie geht Mensch mit der Situation um?
Als erstes fänden wir es unbedingt erforderlich, daß die Aussagen öffentlich gemacht werden (sei es im Netz, auf Veranstaltungen, in Infoläden etc.). Es ist an uns, als dem politischen Umfeld, zu entscheiden wie wir die Aussagen bewerten.
Und dies betrifft nicht nur die sog. 10er Gruppe, sondern alle die im Zusammenhang mit den Gegengipfelaktionen in Göteborg und Genua festgenommen wurden. Also auch die "Diaz-Schule"-Leute oder die Karawane. Aussagen machen ist keine Privatsache sondern betrifft die ganze "Szene".
Auch das Verhältnis zu den Anwältinnen, sowie deren Funktion, muss unbedingt diskutiert werden.
Was spaltet ist nicht die Diskussion sondern die Nicht-Diskussion!!!

Wir fordern mehr Öffentlichkeit und jede/r die /der sich nicht auseinandersetzen will muß auf jeden Fall ausgeschlossen werden. Wir wollen aber nicht, dass öffentliche Auseinandersetzung als generelle Legitimierung für Aussagen verstanden wird, denn für uns gilt: "Jede/r der/die Aussagen macht läuft Gefahr zur/m VerräterIn zu werden". Wie wir bereits geschrieben haben: Für uns gibt es keine Gründe Aussagen zu machen.
Unser politisches Ziel ist es, Aussageverweigerung wieder als politische Praxis zu etablieren.

Gemeinsames Antirepressionsbündnis (Berlin), November 01

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