2007-07-16
ich hab deinen Artikel “Die Gessler-Kapuze” im letzten Freitag mit Interesse gelesen und auch mit
einigen (etwas älteren) in Rostock Beteiligten intensiv über die “Gewalt-Frage” diskutiert. Ich
möchte dich ausdrücklich in deiner Argumentation und in deiner Handlungsweise nach dem 2.6.
unterstützen, und deine Argumente am Schluss des Artikels noch etwas ausweiten.
Man darf vielleicht daran erinnern: Das Interesse an “linker” Gewalt ist, seit ich politisch denken
kann, immer von den “Herrschenden” ausgegangen. Niemand ist mehr darauf aus, linken
“System”-Kritikern Militanz anzudichten, oft anzudienen. Dann nämlich hat man sie dort, wo man
legitimiert mit Gewalt vorgehen, den Schnüffelstaat und seine Organe ausbauen und insbesondere
von rechter und struktureller Gewalt ablenken kann.
2. Juni Rostock
Man lese Tucholskys und Ossietzkys Aufsätze
zur Weimarer Justiz, um zu wissen, welche Rolle das nicht nur für die Bekämpfung der linken
Opposition, sondern auch für die “Bewusstseinsbildung” der “einfachen Leute” spielt. Ich hab (nicht
nur) am Abend des 2.6. mit solchen Leuten zusammengesessen und weiß, wovon ich rede. Selbst
meine Studierenden lassen sich durch diese “Argumente” abschrecken, sich unsere Ziele – die sie
immer häufiger intellektuell teilen – auch emotional zu eigen zu machen.
Man darf an jüngere Ereignisse erinnern: Ein gewisser Urbach, im Dienste des Verfassungsschutzes
1966-68 beim Berliner SDS aktiv, schaffte für die Oster-Demonstrationen 68 die Mollies ran, die
dann die Springer-Autos in Flammen aufgehen ließen, und lieferte die erste Pistole an die spätere
RAF. Das “Celler Loch” war inszeniert etc. Kein Mangel also an diversen “agents provocateurs”,
seit Ende des 19. Jhds übrigens, um Linke und gewaltlose Anarchisten in Verruf zu bringen. Die
“linke” Szene, die Militanz so prima findet, weil man damit so herrlich und Macho-mäßig seine
Wut austoben kann, ist diesen Bemühungen immer wieder auf den Leim gegangen.
Irgendwann einmal muss man ihnen einfach sagen: Ihr seid blöd und uninformiert. Ihr begebt euch
auf genau die Ebene, die gewünscht wird, um die Wirkung der nicht-militanten, zahlenmäßig weit
größeren und argumentativ weit wirksameren Aktionen und DemonstrantInnen zu konterkarieren.
Das ist zweifach dumm: Zum einen, weil man auf der Militanz-Ebene dem “System” immer
unterlegen ist. Zum anderen, weil man dadurch sicherstellt, dass die Breitenwirkung von
Argumenten von der Gewalt-Debatte überlagert wird. In der Summe bestätigt sowas immer wieder
den verhängnisvollen Satz: “Da kann man als kleines Rädchen im Getriebe nichts machen”.
Glücklicherweise hat der weitere Verlauf der Heiligendamm-Aktionen dieses Fahrwasser verlassen
- und damit zu einem wirklichen Erfolg geführt.
Schließlich: Eine klare Abgrenzung von denen, die das Solidaritäts-Argument intern in Anspruch
nehmen, um dann als selbsternannte militante Avantgarde den Resonanzboden einer breiteren
Bewegung “autonom” für ihre Aktionen zu nutzen, ist nicht nur nach außen politisch sinnvoll,
sondern sorgt auch nach innen für Klarheit darüber, dass der Zweck eben nicht die Mittel heiligt.
Auch das, übrigens, eine historische Erfahrung, eine bittere zudem angesichts von 70 Jahren
“realem Sozialismus” – insofern auch volles Einverständnis mit deinem Satz zu Machiavelli, Stalin
und Baader.
Freundliche Grüße
Wolfgang Neef
Mitglied des wiss. Beirates von Attac