2007-07-09
- Alex Foti: Nach dem Flaschen schmeißen an den Barrikaden zurück auf den Webseiten der ketzerischen Linken
- Spiegel: Studie enthüllt brisantes Profil der G-8-Kritiker
- lifegen.de: Das Gesamtsystem Bundesrepublik ist in Gefahr
- G8-AktivistInnen in Amsterdam: Symbolik und Wirklichkeit der G8 Proteste
- Zeugen_innen gesucht: Sexualisierte Polizeigewalt
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Alex Foti: Nach dem Flaschen schmeißen an den Barrikaden zurück auf den Webseiten der ketzerischen Linken
Pink, schwarz, piratisch: Eine Bestandsaufnahme von Rostock
Rostock: Neubeginn der europäischen Anti-Globalisierungs-Bewegung
Seit Genua hat es keinen Gegengipfel mehr gegeben, der so viele Hoffnungen auf die Erneuerung der ketzerischen Linken weckte, der antikapitalistische Energien in Europa und darüber hinaus derart neu entfachte. Auch wenn der G8 nur mehr ein zerstrittener Club ist, der relativ machtlos ist, so gespalten er ist in der Frage des Klimawandels zwischen Europa und den USA, so geschwächt durch den unzeitgemäßen Ausschluß von China und Indien aus der Clique der ökonomischen Mächte - nach dem relativen Niedergang der Mobilisierungskraft der Bewegung in Folge der neokonservativen Invasion des Irak, wie der überall hervorgebrachten fundamentalistischen und repressiven Entgegnungen darauf hat Rostock-Heiligendamm 2007 den globalen Protesten gegen die kapitalistische Globalisierung neuen Auftrieb gegeben.
Die Gründe dafür sind teils konjunktureller, teils struktureller Art: Seit 2001 war Rostock der erste im kontinentalen Europa abgehaltene Gipfel, man könnte sagen in einem der beiden Herzen der globalen Linken (das andere schlägt freilich in Lateinamerika). Der Gipfel wurde vom Kernstaat von Euroland, deren konservative Kanzlerin zugleich über die G8 und die EU präsidierte, im früheren kommunistischen Ostteil Deutschlands organisiert, damit zum ersten Mal im neuen Setting des Nach-Kalte-Kriegs Europa, wo sich die Geschichte in den letzten beiden Jahrzehnten unglaublich beschleunigt hat, ganz anders als in Westeuropa, wo überalterte Strukturen und rückwärtsgewandte Tendenzen noch immer den Ton der politischen Debatte angeben.
Darüber hinaus war Rostock mit den schockierenden Pogromen von Neonazis auf AsylbewerberInnen 1992 zum negativen Symbol für die fremdenfeindliche und nationalistische Welle geworden, die quer durch Europa ging. Das ist es nicht länger. Die Rostocker Proteste vom 2.-4.Juni haben die Hansestadt zum Symbol des antikapitalistischen Widerstands gemacht.
Auch markiert Rostock nach Jahren einer relativen Dominanz der Diskurse und Praxen der Bewegungen Südeuropas (vor allem eine Italiens, Spaniens, Frankreichs) eine Verschiebung hin zu den Bewegungen Nord- und Osteuropas, die den dynamischen Erschütterungslinien, die von den Zentren der gegenwärtigen europäischen Politik ausgehen, mehr entsprechen.
Schließlich markiert Rostock eine möglicherweise unumkehrbaren Riß zwischen der Generation, die auf den Barrikaden von Prag, Göteborg, Genua, Paris, Barcelona und Kopenhagen groß geworden ist und der eher respektablen Seite der Anti-Globalisierungs-Bewegung, wie der offiziellen sozialkommunistischen Linken und NGOs wie ATTAC und Greenpeace: Der Geist von Rostock ist nicht der Geist von Porto Alegre.
Im frühen Mai wurden alle Block G8 Convergence Center, sowie die Wohnungen von AktivistInnen in Berlin und Hamburg vom BKA mit dem schändlichen Vorwurf durchsucht, die Beschuldigten seien Teil einer terroristischen Vereinigung, die sich die Verhinderung des G8 Gipfels zum ZIel gemacht hat. Hinter dieser vulgären Hexenjagd stand der christ-demokratische Innenmnister Wolfgang Schäuble, der von AktivistInnen daraufhin prompt in Stasi 2.0 umbenannt wurde.
Aber die deutsche Bewegung ließ sich nicht einschüchtern, und Rote und Grüne protestierten im Parlament gegen die von der Regierung Merkel betriebene Aussetzung des Rechtsstaats. Tatsächlich erwies sich die repressive Strategie der Prävention als Eigentor, da es die Entschlossenheit der AktivistInnen in der BRD und überall in Europa verdoppelte, sich komme was da wolle nach Rostock und Heiligendamm aufzumachen. In den Tagen vor der Großdemonstration in Rostock am 2.Juni veröffentlichte das Organ der Post-68er-Generation taz eine Grafik der an den Protesten gegen den G8, den Aktionen und Blockaden teilnehmenden Kräften.
Linke Gruppen wurden entlang zweier Achsen klassifiziert: reformistisch/radikal auf der einen und vertikal/horizontal auf der anderen. Nun, ich behaupte, dass nur die Kombination radikal-horizontal den Geist von Rostock verkörpert (tatsächlich, den Geist von Seattle), da dies die Gruppen waren, die die Camps organisierten, der Polizei widerstanden, mutige Aktionen machten und die Blockaden von Heiligendamm bemannten und befrauten.
Tatsächlich enthielt jener Teil der Grafik die beiden Netzwerke, die das Rückgrad der G8 Proteste bildeten: die Interventionistische Linke, die autonome und antifaschistische Kraft, Motor des pinken Kartells "Make Capitalism History" (g8-2007.de), und die Anarchoglobalist@s von Dissent (dissentnetzwerk.de), dem einzigen - ob es euch gefällt oder nicht - wirklichen Ausdruck eines Transnationalismus von unten der heute in der globalen Bewegung gegen neoliberale Globalisierung und neokonservativen Militarismus existiert.
Nach den Krawllen des 2.Juni am Hafen von Rostock, ausgelöst vom mehrfachen Einfallen der Polizei, die offensichtilich mit dem friedlichen Verlauf der Demo unzufrieden war, verurteilte ATTAC die Autonomen (oder den Schwarzen Block, wie sie im Rest der Welt heißen), die Steine auf Robocops und Pinochet-style Wasserwerfer geworfen hatten. Die Interventionistische Linke aber weigerte sich standhaft dies zu tun, obwohl sie ATTAC-Mitglieder und Leute, die der linken Partei nahestehen in ihren Reihen hat. Unter der linksgeneigten Presse war es einzig die Junge Welt, die die Aktionen derjenigen nicht stigmatisierte, die in Italien die Noglobal Generation genannt wird.
Am 4.Juni titelte die die Taz kurzsichtig "Nie wieder Rostock!", womit sie im Grunde alle DemonstrantInnen unter 40 exkommunizierte. Nicht nur dass der Schwarze Block groß war an diesem Tag (mehr als 5000 Leute gemischten Geschlechts und Nationalität: ein schwarzes Meer am baltischen) und am Kopf der Demo ging, sondern nahezu alle DemonstrantInnen, die sich auf der sandigen Fläche nahe der Move against G8 Bühne befanden unterstützten materiell und moralisch den grimmigen Widerstand (der Himmel trug Wolken aus Steinen und Flaschen), den die schwarz gekeideten Protestierenden leisteten, und der die Riotcops mehrfach zum Rückzug zwang. Als nach einigen Stunden Straßenschlacht mehr als ein Dutzend Wasserwerfer eingesetzt wurden und wir mit dem Rücken zum Wasser komplett eingekreist waren, schoben sich die Lautsprecher-Trucks von Antifa und Interventionistischer Linker zwischen Polizei und DemonstrantInnen. Es folgte ein stilles, angespanntes Innehalten.
Dann begann Bob Marley von den Soundsystems zu dröhnen und die Protestierenden tanzten auf den gepanzerten Fahrzeugen, was die erschöpften Riotcops völlig orientierungslos machte: Nach Stunden chaotischer Auseinandersetzungen kam die Schlacht von Rostock schließlich an ihr Ende. Viele Jungs mit schwarzen Kapuzies, Sonnenbrillen und Baseball-Mützen kehrten mit rosa Blumen im Haar ins Camp zurück und viele der Mädchen hatten ihre Haare knallig Pink gefärbt.
Was ich damit sagen will ist, dass der gewaltsame Widerstand nur ein Element im Ökosystem des Protestes ist, das sich in Rostock entfaltete. Schwarzer Widerstand und pinke Blockaden gingen Hand in Hand, und pinke Clowns wurden von schwarzen AnarchistInnen verteidigt, wenn die Polizei bei den Aktionen und Demos zu hart zur Sache ging. Pink und Black ergänzen sich, sind komplementär, und schließen sich nicht aus, wie viele, und ich selbst auch, in den vergangenen Jahren gedacht hatten. Darüber hinaus ist der schwarze Pullover zu einem universellen Symbol antikapitalistischer Selbst-Identifikation geworden, selbst bei Leuten, die nie eine Flasche werfen würden: es bedeutet einfach, dass du auf der Seite stehst von Ungdomshuset, Mehringhof, Rote Flora, Köpi und anderen Knotenpunkten im Netz europäischer besetzter sozialer Zentren, die gegenwärtig von Räumung und Verfolgung bedroht sind. Die urbane Rebellion breitet sich in vielen europäischen Städten aus, da es das weitverbreitete Gefühl gibt, dass der ganze anarcho-punk, radikal-autonome, und pink-queer way of life ausradiert werden könnte, wenn es uns nicht gelingt gegen polizeiliche Repression und die ihr zugehörigen Kräfte bürgerlicher und klerikaler Respektspersonen massiven Widerstand zu entwickeln.
Pink, schwarz, piratisch: eine experimentelle Chromatographie [Farblehre]
Das Kaleidoskop der Emotionen und Inspirationen die in Rostock herumschwirrten, auf den Demos, Aktionen, Camps, Medien- und Kunstzentren, läßt sich nicht einfach beschreiben. Es war ein manischer Rausch, eine unglaubliche Darbietung radikaler Stärke und post-nationaler Solidarität.
Zum Ende dieses Essays möchte ich noch was zu den symbolischen Aspekten der politischen Ikonographie [Bilderlehre] und Vexillologie [Lehre von den Feldzeichen], die meiner Ansicht nach auf künftige Entwicklungen in den Manifestationen politischen Dissenses der europäischen radikalisierten Jugend hinweisen. Ungeachtet der massiven Präsens des antifaschistischen Rot&Schwarz und der antiimperialistischen roten Gruppen waren die innovativsten Ausdrucksformen, die in Rostock zu sehen waren pink, schwarz und piratisch.
Pink war überall in Rostock präsent, im feministischen, queer, und absolut ketzerischen Sinn des Wortes. Make Capitalism History hatte als Symbol einen rosa Stern, und bei den Aktionen am Bombodrom (einer Militärbasis) kamen eine pink-schwarze Antifa-Fahne und pinke Pyramiden zum Einsatz. Auf der 2.Juni Demo bekam das von FelS organisierte Euromayday-Kontingent von Superhelden gegen Prekarisierung mit seinen Ballon-Schildern viel Applaus, die Überflüssigen, jenes cross-metropolitane AktivistInnen-Netzwerk gegen soziale Gegenreformen trugen ein großes pinkes Transparent auf dem zu lesen zu war: "Prekarisieren wir die G8 - Flexifight gegen die neue Weltordnung!"
Auf der Demo am 4.Juni zur Verteidigung der Rechte von MigrantInnen, für Abschiebestop und die Schließung von Abschiebeknästen und Lagern wurde eine pinke Fahne mit schwarzem Stern geschwungen, die Leute in den ersten Reihen trugen ein großes pinkes Transparent mit der Aufschrift "Kein Sex mit Nazis!"
Die fantastischen Aktionen der Clown Army (pink&tarnfarben-grün, Kasperfahne) und die pinken Sambabands (silberner Totenkopf mit zwei gekreuzten Schwertern auf pinker Fahne) waren die offensichtlichsten Ausdrucksformen dieser politischen Tendenz, die enorme Fortschritte durchlebt hat seit der Pink Block um 2000 in London und Prag entstanden war, und sich seitdem überall im kulturell aufmüpfigen Europa ausgebreitet hat. Das Queer Barrio in Reddelich warb mit einem Poster mit rosa Häschen, ein weiteres Beispiel für das pinke Erblühen in Rostock-Heiligendamm waren die Pink Rabbits, die für das Alarmsystem auf dem Camp in Rostock zuständig waren, sollten Bullen dort auflaufen.
PiratInnen und Piraterie waren extrem beliebt bei Kids und Youngsters, waren ein weiteres prägendes farbiges Feature der Proteste in Rostock. Während die Piraten der Karibik die Kassen der Kinos füllen, treibt die Pirate Bay Hollywood mit ihrem kostenlosen p2p Tauschservice in den Bankrott. Piraterie handelt traditionell von der Herausforderung staatlicher Souveränität (dazu auch Marcus Redikker und Hakim Bey) und dem Aufbau post-souveräner Formen der Selbst-Regierung auf Basis von horizontaler Vernetzung und Kanaken-Kameraderie: Tortuga als erste moderne autonome Zone. Der Form treu wehte die Totenkopffahne auf vielen Zelten und bei allen Aktionen, oftmals entweder pink auf schwarz oder schwarz auf pink. Und St.Pauli Fußballfans aus Hamburg brachen mit ihren schwarzen Totenkopf-Pullies in Massen über Rostock herein, um bei der Schlacht dabei zu sein.
In Rostock haben wir verstanden, dass wir mit der Aufgabe eine antikapitalistische Opposition in Europa aufzubauen allein gelassen wurden; dass die radikalisierten und prekarisierten Paarundzwanziger und Paarunddreißiger aus allen Städten des Kontinents, aus dem Osten und dem Westen, die volle Wucht des Angriffs des sicherheitswahnsinnigen Europa tragen müssen, das von Merkel, Sarkozy, dem EU-Parlament und den Eliten der Wirtschaft in Stellung gebracht wird.
Aber die Geschichte der Zukunft ist noch nicht geschrieben und unsere pink-schwarze-Piratenfahne flattert höher und höher im Wind, während die blasser und blasser werdenden roten und grünen Farben der mittelalterlichen europäischen Linken in der Bedeutungslosigkeit versinken, weil sie so ängstlich und kleinmütig sind. Die Bewegung hat es geschafft die Einschüchterungen der Polizei zurückzuschlagen. Sie ging weiter und blockierte den Gipfel. And diesem Punkt sieht es so aus, als wären wir die einzige Hoffnung die da ist gegen das undemokratische System der vereinigten Märkte und der koordinierten Polizeikontrollenbeherrschungslenkung [policing], die die europäischen Eliten für uns bereithalten:
"A, Anti, Anticapitalista: no border, no nation, stop deportation, no nation, no border, fight law and order!" [...keine grenzen, keine Nationen, hört mit den Abschiebungen auf, keine Nationen, keine Grenzen, bekämpft die scheiss-paranoide Angstmacher-Abknall-Politik von Schäuble]
[http://transform.eipcp.net/correspondence/1182944688]
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Spiegel: Studie enthüllt brisantes Profil der G-8-Kritiker
Angriffe auf Polizisten, Attacken mit Pflastersteinen - etliche Demonstranten in Heiligendamm fanden die militanten Aktionen des Schwarzen Blocks angemessen, zeigt eine neue Umfrage. Doch im Laufe des G-8-Gipfels drehte die Stimmung.
Der junge Mann im schwarzen Outfit gehörte zu den ganz Vorsichtigen im Camp bei Reddelich. Der selbstgebaute Wachturm aus Holz und die Eingangskontrollen des Demonstranten-Zeltlagers reichten ihm da nicht. Obwohl die Befrager vollkommene Anonymität versprachen, fasste er den Fragebogen des "Zentrums für Kindheits- und Jugendforschung"(ZKJF) der Universität Bielefeld recht misstrauisch nur mit Handschuhen an: "Ich werde doch keine Fingerabdrücke darauf hinterlassen!"
Ausgefüllt hat er ihn dann aber doch, insgesamt vier Seiten mit 100 Fragen. Vielleicht gehört er zu den zehn Prozent aller Demonstranten, die bei der "angemessenen Protestform hier in Heiligendamm" hinter "Werfen von Pflastersteinen" ihr Kreuzchen unter "angemessen" gemacht haben. Tatsächlich wurden alle 3576 ausgefüllten Fragebogen zwecks Wahrheitsfindung strikt vertraulich behandelt, ging es doch um teils sehr intime Aussagen Jugendlicher bis zu 25 Jahren.
Dass eine Demonstrantengeneration in Deutschland derart gezielt und zeitnah in Aktion untersucht wird, ist auch für die beteiligten Wissenschaftler Neuland. Die Soziologen und Demografen der Uni Rostock und die Bielefelder Jugendforscher sind mit ihrem Projekt "Motivstrukturen jugendlicher Globalisierungsgegner" zwar noch nicht vollständig fertig, doch liegen jetzt - nur einen Monat nach den Protesten und Befragungen - erste repräsentative Ergebnisse vor. Die Forschung fand zielgenau im Echtzeit-Modus statt, während der Aktionstage in den Camps, sowie bei der Auftakt- und Abschlussveranstaltung.
Auf den ersten Blick scheint der Befund alarmierend: Der Kern militanter Globalisierungsgegner wird getragen von der Zustimmung eines Großteils aller Demonstranten - wie seit den Zaunschlachten an der Frankfurter Startbahn-West Ende der achtziger Jahre nicht mehr. Dies ist nicht mehr die Spaß-Generation des Love-Parade-Zeitalters. Projektleiter Uwe Sander hat jedoch auch festgestellt: "Die Mehrheit der Demonstranten war zu Beginn ein Schutz für den Schwarzen Block. Im Laufe der teils gewaltsamen Aktionen wurde diese Akzeptanz aber eher verspielt."
Die Details der Untersuchung dürfte daher Politiker wie den schwarzen Block gleichermaßen interessieren. Nicht nur weil sich 63 Prozent aller Teilnehmer als links und 20 Prozent sogar als linksradikal bezeichnen. Zwar würde nur jeder zehnte selbst aktiv "Firmeneigentum verwüsten" - doch für solche Gewalttaten hätte er von jedem vierten die volle Zustimmung (siehe Grafik). "Angriffe auf die Polizei", "Werfen von Pflastersteinen, Farbbeuteln oder Flaschen" wollen bis elf Prozent der Aktivisten mitmachen - und auch hier ist das Sympathisantenfeld weitaus größer. Die allgemeine Zustimmung zu illegalen Protestmitteln schnellt bei "Demontage von Schutzeinrichtungen" auf bis zu 37 Prozent hoch.
Eine 19-jährige Abiturientin schrieb dazu noch den Satz: "Dieser Zaun in seiner absoluten Wahnsinnigkeit, Sinnlosigkeit und Ungerechtigkeit muss schlicht weg!" Und eine 21-jährige Studentin formulierte sophisticatet: "Die ziehen einen Gartenzaun und bauen nichts an."
Für alle Befragten stehen klar politische Ziele im Vordergrund. "Zwar wird die Teilnahme an der Demonstration auch genutzt, um neue Erfahrungen zu sammeln, Spaß zu haben und neue Leute kennen zu lernen", heißt es in der ersten Auswertung. Dies seien aber sekundäre Gründe. "Es geht hauptsächlich gegen eine Form der Globalisierung, als deren Konsequenz Armut und Unterdrückung der dritten Welt gesehen wird und Perspektivlosigkeit als Folge der Dominanz ökonomischer und politischer Macht."
[http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,493332,00.html]
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lifegen.de: Das Gesamtsystem Bundesrepublik ist in Gefahr
Buchautor zum Thema: Brennpunkt Deutschland. Warum unser Land vor einer Zeit der Revolten steht.
Eine jetzt bei SPIEGEL ONLINE vorgestellte Umfrage belegt: Viele der Demonstranten von Heiligendamm befürworteten während des G8-Gipfels die harte Gangart des militanten schwarzen Blocks. Alles Zufall, oder Anzeichen der demokratischen Erosion? Für die Bestsellerautoren Marita Vollborn und Vlad Georgescu steht fest: Die Zeichen stehen auf Sturm. Spätestens seit Einführung der Hartz-Gesetze formiert sich in Deutschland ein massiver, teils militanter Widerstand gegen den Staat. Großdemonstrationen, Randale und Anschläge könnten schon bald das Straßenbild bestimmen - unabhängig vom G8-Gipfel in Heiligendamm. Eine unliebsame Tatsache, die kaum ein Politiker wahrhaben will. Mit solchen Thesen wartet das Buch "Brennpunkt Deutschland - Warum unser Land vor einer Zeit der Revolten steht" auf. Lifegen.de sprach exklusiv mit dem Co-Autoren des Werks, Vlad Georgescu, über die Risiken für Vater Staat.
LifeGen.de: Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble hat im Vorfeld des G8-Gipfels vor den Gefahren eines neu aufkeimenden Terrorismus gewarnt. Teilen Sie seine Befürchtungen?
Georgescu: Offensichtlich hat der Minister unser Buch gelesen. Aber im Ernst: Was Herr Schäuble medienwirksam postuliert beobachten Polizei und Staatsschutz schon seit Jahren. Die vorhandenen, durchaus verfassungsfeindlichen Strukturen im Lande mit den Kritikern des G8-Gipfels in einem Atemzug zu nennen erscheint mir jedoch weltfremd und unadäquat.
LifeGen.de: Die Serie von Brandanschlägen, etwa auf den Privatwagen des BILD-Chefredakteurs Kai Diekmann, lassen Schäubles Warnungen doch zu?
Georgescu: Nicht in diesem Zusammenhang. Die ersten Anschläge, die von der so genannten militanten gruppe (mg) ausgeübt wurden, fanden doch bereits vor Jahren statt.
LifeGen.de:Davon hörte man aber so gut wie nichts...
Georgescu: Dabei sind die Indizien unübersehbar, und liegen den Innenministerien von Bund und Ländern vor. So registrierten Mitarbeiter des Berliner Landeskriminalamts die ersten Zusammenhänge zwischen Sozialabbau und Gewaltbereitschaft in der Silvesternacht des 31. Dezember 2002: Das Finanzamt Neukölln-Süd war in Flammen aufgegangen. Im Rausch des Jahreswechsels blieb der Anschlag, zu dem sich eine bis dahin unbekannte "militante gruppe" (mg) bekannte, wenig beachtet. Doch keine drei Monate später schlug die linksextreme mg erneut zu, und ließ mehrere Jeeps der Bundeswehr in Flammen aufgehen. Unsere eigenen Recherchen ergaben, dass es durchaus ein terroristisches Potenzial in Deutschland gibt, nur: die Ursachen scheinen andere zu sein, als jetzt vor dem G-8Gipfel in Heiligendamm von der Politik gebetsmühlenartig vorgetragen wird.
LifeGen.de: Das hätten wir gerne näher erläutert.
Georgescu: Nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit finden seit Jahren Anschläge auf Einrichtungen des Bundes, der Länder oder des Staates statt, in den meisten Fällen allesamt gut koordinierte Aktionen militanter Gruppen. Das Spektrum der potenziellen Aktionen ist weit. Von legalen Demonstrationen gegen Sozialabbau bis hin zu Anschlägen auf Einrichtungen der Wirtschaft, von Kundgebungen radikaler Parteien bis hin zu Terrorakten gegen Einrichtungen des Bundes und der Länder. Von den Medien weitgehend ignoriert, finden diese Aktionen meist nur in den Verfassungsschutzberichten der Länder oder in der polizeilichen Kriminalstatistik eine Erwähnung.
LifeGen.de: Politiker sprechen da eher von "Chaoten".....
Georgescu:...und leben mit dieser Einschätzung auf einem anderen Planeten. Schon heute bekennen sich mehr als eine Million Menschen offen zu rechtsextremen Parteien und wählten diese mit ihrer Zweitstimme in den vergangenen drei Bundestagswahlen. Linksextreme bringen es hierzulande auf weitere 33 000 Sympathisanten, wovon etwa 2400 in Berlin zu finden sind. Hinzu kommen mindestens 31 000 islamische Fundamentalisten, davon allein viertausend in der deutschen Hauptstadt. Ich glaube nicht, dass all diese Menschen Chaoten sind. Sie sind nicht mehr für diesen Staat - das sollte uns zu denken geben.
LifeGen.de: Trotzdem: Wer Hartz IV erhält wird doch kein Extremist?
Georgescu: Glücklicherweise haben Sie Recht. Aber ein Mechanismus lässt sich deutlich erkennen: Der Extremismus lockt vor allem diejenigen, die sich in der Gemeinschaft nicht mehr aufgehoben fühlen, am Rand der Wohlstandsgesellschaft leben, denen Orientierung für Gegenwart und Zukunft fehlt oder die sich der "Dominanzkultur" des Westens oder dem Massenkonsum nicht unterordnen wollen.
LifeGen.de: Die große Mehrheit der Bevölkerung wendet sich von den Extremen ohnehin ab....
Georgescu:....sollte man meinen. Fakt aber ist, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz bereits seit Mitte der Neunziger Jahre alarmiert zu sein scheint: Nahezu ein Fünftel aller Erwachsenen in Deutschland nahm damals an einer Demonstration gegen die Regierung teil. Die Liebe zum Staat scheint begrenzt.
LifeGen.de: Sollten wir uns sorgen?
Georgescu: Ja. Denn das Gesamtsystem Bundesrepublik ist in Gefahr. Neben dem Aufstieg der Rechtsextremen erlebt auch die militante Linke seit Anfang des neuen Jahrtausends ein fulminantes Comeback. Die Frage, ob Gewalt ein legitimes Mittel zur Beseitigung des bestehenden Systems ist, haben die militanten Gruppen nach einer mehr als zehn Jahre andauernden Diskussion für sich entschieden - und setzen zur Durchsetzung ihrer Ziele wieder auf den bewaffneten Kampf.
Das Interview führte Dr. Rolf Froböse
[http://www.lifegen.de/newsip/shownews.php4?getnews=mv2007-07-09-3018&pc=s02]
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G8-AktivistInnen in Amsterdam: Symbolik und Wirklichkeit der G8 Proteste
Am Wochenende des 30.6.-1.7. haben sich G8-AktivistInnen in Amsterdam in den Niederlanden zusammengesetzt, um zu einer Einschätzung der Aktionen und ihrer Wirkung zu kommen (das Programm findet ihr unter http://www.broeinest.info/drupal/?q=node/92). Hier kommt eine Übersetzung der Übersetzung von Pomos Duplovski.
"Es ist schwierig mit Clowns Verträge abzuschließen" sagte ein Vertreter der Niederländischen Clowns Army mit ernstem Gesicht. Um ihn herum nicken die Leute voller Verständnis. Es ist der zweite Tag eines von 'Broeinest' organisierten Auswertungswochenendes zu den G8 Protesten. Ein bunter Haufen FilmemacherInnen, Sambabandenmitglieder, Schreibende, FotografInnen, KöchInnen und andere AktivistInnen versuchten zu rekonstruieren, was gut gelaufen war und was nicht geklappt hatte, und scheute dabei auch nicht vor schwierigen Fragen zurück. Gegen Ende wurde auch die unvermeidliche Frage nach der Wirkung der Proteste gestellt. Die Straßen um das Kempinski Hotel herum waren erfolgreich blockiert und die drei selbstorganisierten Camps (auf denen jeweils bis zu 7000 Leute wohnten) waren mit Sicherheit eine logistische Tour-de-Force, aber alle die ins Hotel kamen, mussten scheinbar mit dem Hubschrauber oder per Schiff dorthin gebracht werden.
Die zwei Tage Diskussion vom 30.6./1.7. wurden vor allem durch die Anwesenheit dreier AktivistInen aus dem Ausland spannend, die gekommen waren um ihre Eindrücke beizusteuern. Auch einige ältere AktivistInnen trugen Kommentare bei. Sicher gab es die üblichen Beiträge, dass die Bewegung in der Vergangenheit in weit besserer Verfassung gewesen sei, und auch die üblichen verunglimpfenden Bemerkungen über die bolschewistischen I.S. blieben nicht aus [???, Anm.d.Ü.]. Eine weitere wiederkehrende Beobachtung war die der typischen niederländischen Allergie auf Theorie und Analyse. Aber alles in allem gab es eine konstruktive Auswertung einer Woche des Protestes und deren Vorbereitung.
Dissent-NL wurde von der Kritik nicht ausgenommen. Nach einem guten Start auf einigen 'nationalen' Treffen sank die Zahl der aktiv beteiligten Leute kontinuierlich. Auf der Sche nach den Gründen dafür nannten einige die weite Entfernung, die Leute aus dem Norden zurücklegen mussten, und dass viele Leute es vorziehen lokal aktiv zu sein. Eine weiterer Hinderungsgrund ist die Tatsache, dass viele Leute nicht an basisdemokratische Entscheidungsprozesse gewöhnt seien, und deren Wert nicht verstehen. Schließlich wurde die spezifische Struktur des dissent-Netzwerkes (in den Niederlanden, aber auch international) als Erklärung genannt. Es ist eine vage und formlose Struktur, was den Vorteil hat, dass es schwer zu bekämpfen ist aber was es auch schwieriger macht zu Übereinkommen und Verbindlichkeiten zu kommen, da sich die Leute einer solch losen Struktur weniger verbunden fühlen.
Militanz
Na klar, es gab eine Debatte über das gewalttätige Ende der Demo am Samstag, den 2.Juni 2007. Viele Anwesende zogen in Zweifel, ob die vom Schwarzen Block ausgeübte Gewalt angemessen war. Eine weitere Beobachtung war die Rückkehr zu autonomen Organisierungsformen der 80er und die Frage, ob es irgendwelche Alternativen dazu gibt. Ein erfahrener Aktivist sagte dazu, es gäbe für eine solche Situation nur zwei Möglichkeiten: entweder versuchen alle AktivistInnen sich im Vorfeld darauf zu einigen, was sie zu akzeptieren bereit sind und was nicht, oder alle sind frei ihre eigene Taktik zu wählen (Die sonannte 'Vielfalt der Aktionsformen') was von vornherein die Akzeptanz von Unterschieden beinhaltet. In der Praxis stellt sich die erste Variante als unmöglich heraus, da die juristischen Folge eine Anklage für den Aufruf oder die Werbung für Straftaten wäre, weshalb einzig die zweite Möglichkeit übrigbleibt.
Eine weitere Feststellung war, dass AktivistInnen, die sich an den Tagen vor dem Gipfel an den Aktionstagen beteiligt hatten in dem Moment erschöpft waren, als die Blockaden begannen. Vielleicht hätten sie sich besser die Zeit genommen Bezugsgruppen zu bilden und Pläne für die Blockaden zu machen. Andere erwiderten darauf, dass die Aktionstagen mit ihrer Schwerpunktsetzung inhaltlich eine Menge zu den Protesten beigetragen hätten (Migration, Landwirtschaft, Militarisierung), auch wenn davon nicht viel in den Medien rüberkam, die einzig über die Riots vom Samstag berichteten.
Eine weitere Beobachtung war, dass dissent auf den Aktionen und Camps weitgehend unsichtbar war. Sie machten eine Menge der anfallenden Arbeit, konnten (oder wollten) aber keine Ergebnisse für sich beanspruchten. Dies ist verständlich und in der Situation der Arbeit in einem Netzwerk sogar sehr korrekt, ermöglicht es aber auch den sichtbareren linken Strömungen die Erfolge zu 'ernten'.
Medien
Eine davon getrennte Diskussion gab es über die Medien und das von ihnen produzierte Image (der G8 wie der AktivistInnen), sowie die Möglichkeiten ein Gegengewicht dazu zu schaffen. Einer der Beiträge dazu war von niederländischer Seite gewesen einen speziellen Bus für MedienaktivistInnen zur Verfügung zu stellen. Er wurde fortwährend von der Polizei behindert und einmal sogar für 24 Stunden konfisziert. Die Organisierung eines solchen Projektes stellte sich als ganz schöne Aufgabe heraus, die nicht immer perfekt gelaufen ist und bei der es viel zu lernen gab. Andererseits wurde eine große Menge Bilder und Berichte produziert, von denen einige beim Auswerten gezeigt wurden.
Was vielen Leuten auffiel, ist, dass es im Unterschied zu anderen Gipfeln so gut wie keine Konvoys der 8 teilnehmenden Staaten gesichtet wurden. Und wenn die Delegierten einfach auf dem Luift- oder Seeweg zu ihrem Ziel gebracht werden können, werden dann Straßenblockaden nicht zu einem rein symbolischer Akt? Und wie viele Leute werden durch symbolische Handlungen wie diese motiviert? Es gab eine Weile eine Diskussion über Möglichkeiten den Flug- und Schiffsverkehr zu blockieren, kamen aber schnell zu dem Schluss, dass wir dafür nicht über die nötigen Mittel verfügen. Auch hatten wir den Eindruck, dass viele der niederen G8-Ränge nicht nach Heiligendamm gekommen waren, sondern sich an anderen Orten trafen. Sie waren nicht im Visier der DemonstrantInnen, was mit dem Konzept von Blockaden zu tun hat, die sich stets darauf konzentrieren, ein spezifisches Ziel einzukreisen. Die Debatte endete hoffnungsfroh: mit genug Informationen und einem guten Kommuniationssystem wäre es möglich gewesen, die von ihnen benutzten Häfen zu blockieren. Tatsächlich gab es einige kleine Blockaden am Hafen von Rostock.
Wie weiter
Zur Frage, wie es weiter gehen soll gab es (unabhängig von den internationalen Plänen und der Auswertung in Limoges) einige Vorschläge. Die Ideen reichten von der Besetzung einer befreiten Zone (zapatistas - Niederlande?) zur Organisierung einer Infotour, um die Ergebnisse der G8-Aktionen vorzustellen. Ein weiterer Vorschlag war es, sich monatlich jeweils in einer anderen Stadt zu treffen, Informationen über Bezugsgruppen und effektive Selbst-Organisierung zu verbreiten, und eine Präsentation für das nächste 2.Dh5 Festival Ende November in Nijmegen vorzubereiten. Da sich die TeilnehmerInnen nicht auf einen gemeinsamen Plan einigen konnten, wurde verabredet für September ein weiteres Treffen zu organisieren.
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Zeugen_innen gesucht: Sexualisierte Polizeigewalt während der G8 Proteste in Heiligendamm 2007
Bericht von der Antisexist Contact- and Awarenessgroup
Während der G8 Proteste rund um Heiligendamm kam es wiederholt zu Sexismus, sexualisierter Polizeigewalt und zur Androhung von sexualisierter Polizeigewalt. Wir suchen Zeugen_innen, einmal um einen internen Austausch und eine gegenseitige Stärkung der Betroffenen zu erreichen, zum anderen damit in anonymisierter Form eine Betroffenengruppe auftreten kann. Dies ist wichtig, damit das Thema politisch ans Tageslicht kommt, denn sexualisierte Polizeigewalt wird meistens nicht und schon gar nicht in der Öffentlichkeit benannt. Dies ist auch für den zu erwartenden Untersuchungsausschuss von Bedeutung. Wichtig ist uns hierbei noch darauf hinzuweisen, dass es auch innerhalb der Anti-G8-Protestbewegung zu Sexismus und sexualisierter Gewalt kam, damit nicht mit dem Blick auf die Polizei die sexualisierte Gewalt innerhalb der Bewegung nach Hinten rutscht.
Doch bevor wir konkreter werden erst einmal zur Einordnung von Sexismus und sexualisierter Gewalt allgemein. Die Einteilung der Menschen in zwei Geschlechter und die Hierarchisierung von Geschlecht ist die Herstellung eines Machtgefälles auf dem unsere Gesellschaft aufbaut. Darüber werden Ein- und Ausschlüsse, bestimmte Zuschreibungen und Aufgaben zugeordnet, von gesellschaftlicher Arbeitsteilung bis zu z.B. Redeverhalten. Zur Aufrechterhaltung dieses Machtgefälles muss dieses immer wieder aktiv hergestellt werden. Sexismus und sexualisierte Gewalt sind in diesem gesellschaftlichen Prozess ein Machtmittel, um diese Gewaltverhältnisse aufzubauen und aufrechtzuerhalten und um Hierarchien und Abhängigkeiten herzustellen und aufrechtzuerhalten. Also eine alltägliche Praxis zur Herstellung von hierarchischen Geschlechterverhältnissen.
Nun zu Sexismus und sexualisierter Gewalt als Praktiken von staatlichen Zwangsinstitutionen, wie der Polizei und der Armee:
Sexismus und sexualisierte Gewalt und speziell Vergewaltigungen sind u.a. in Kriegssituationen als bewusst eingesetztes und z.T. befohlenes Mittel der Zerstörung, Machtausübung und Demütigung des so genannten Feindes bekannt. Doch auch in so genannten Friedenszeiten wird strukturelle Gewalt durch Sexismus und sexualisierte Gewalt hergestellt. Im herrschenden Diskus wird immer wieder suggeriert, dass es sich bei sexualisierter Gewalt und Vergewaltigung um Ausnahmezustände und exponierte Einzelfälle handelt. Die Realität ist jedoch, dass Sexismus und sexualisierte Gewalt ein alltäglicher Zustand sind, also der Regelfall. Sexismus und sexualisierte Gewalt wirkt in diesem Zusammenhang wie eine Waffe und ist ein gezielt eingesetztes Mittel der Gewaltanwendung und Unterwerfung. Dies hat Kontinuität, so ist z.B. in Genua nach dem Überfall auf die Diaz-Schule mehreren Frauen mit Vergewaltigung gedroht worden.
Sexualisierte Gewalt übergeht das Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Personen völlig. Es greift die körperliche und psychische Integrität an und wirkt traumatisierend.
Zu der schrecklichen Erfahrung von Gewalt, Ohnmacht und Demütigung kommt für Opfer sexueller Gewalt zusätzlich die Belastung durch eigene Gefühle von Scham und Schuld mit denen Betroffene meist zu kämpfen haben. Darüber hinaus ist es bis heute ein ungeheures Stigma, sich selbst als Opfer sexualisierte Gewalt zu bezeichnen. Also den Schritt zu gehen sich selbst darin wahrzunehmen, die Gewalterfahrung zu formulieren, zu politisieren, Täter zu benennen und anzuklagen. Aus all diesen Gründen kann sexualisierte Gewalt öffentlich meist nicht als solche benannt werden. Es sind enorme Ressourcen wie Unterstützung durch Freund_innen, Beratungsstellen oder Unterstützer_innen-Kreise nötig, um diesen Schritt der Benennung zu wagen. Doch selbst wenn die Betroffene die Kraft findet, über das Erlebte zu sprechen, kommt es meist zu sekundärer Viktimisierung, also zu weiteren Verletzungen in Folge. Zu dieser Belastung, immer wieder über traumatische Erlebnisse sprechen zu müssen, kommen die meist katastrophalen Reaktionen von Außen hinzu: Entweder wird der Frau nicht geglaubt, es werden detaillierte Informationen eingefordert, ihr wird eine Mitschuld zugewiesen oder sie wird pathologisiert, d.h. als krank, verrückt oder hysterisch diffamiert.
Dies sind u.a. Gründe, warum es Betroffene nicht wagen rechtliche Schritte einzuleiten. Sei es, dass bei ihnen der Glaube an das Rechtssystem erschüttert ist oder sie sich nicht stark genug fühlen, diesen Weg gehen zu können oder sie der Stigmatisierung durch andere zu entgehen versuchen. Der größte Teil der Vorfälle wird nicht zur Anzeige gebracht und auch wir als Unterstützungsgruppe von Betroffenen raten meist von Anzeigen ab.
Auf der anderen Seite reagieren Betroffene auch aus der Stärke heraus, dass ihnen im Vorfeld bewusst ist, dass es zu Repression kommen kann und Sexismus und sexualisierte Gewalt ein Teil darin ist, sie sich davon nicht einschüchtern lassen und sich innerlich dagegen wappnen. Die Stärke und Entschlossenheit der Bewegung wurde hier von ihnen genutzt, um Gewalterfahrungen nicht so stark an sich ranzulassen und dem voll Selbstvertrauen zu begegnen.
Die Vorkommnisse mit denen Menschen sich an uns wandten reichen z.B. von der Verweigerung von Tampons über Kontrollen, bei denen die Betroffenen in den Schritt oder an die Brust gefasst wurden, z.T. begleitet von anzüglichen Geräuschen über Kontrollen oder ID Behandlungen, bei denen sich Betroffene vollständig oder halb nackt ausziehen mussten und fotografiert wurden bis zu Androhungen von Vergewaltigung in Gefangenensammelstellen.
Alle diese hier beschriebenen Situationen fanden in einem Kontext statt, in dem die Polizei oft willkürlich ihren Macht- und Souveränitätsanspruch demonstrierte und durch Zwang und Gewalt durchsetzte. AktivistInnen sahen sich zum Teil schwarz vermummten und gepanzerten Polizeikräften gegenüber. Aber allein schon eine willkürliche Durchsuchung, erst Recht eine willkürliche Ingewahrsamnahme zur sogenannten "Gefahrenabwehr", ist von der symbolischen Grammatik mehr als eindeutig ein: WIR HABEN DIE MACHT - IHR NICHT.
Sexismus und sexualisierte Gewalt wie in den beschriebenen Beispielen stehen immer in diesem Kontext. Sie werden bewusst und gezielt eingesetzt, um die symbolisch ohnehin schon inszenierte Demütigungs- bzw. Unterwerfungspraxis zu verstärken.