2007-06-30
Ein Erlebnisbericht aus Heiligendamm 2007
Samstag, 2.Juni 2007: Demo in Rostock
Wir, eine Gruppe von fünf Leuten, reisten mit dem GEW-Bus ohne Zwischenfälle an. Der Demozug war geprägt von Menschen aus unterschiedlichen Ländern bzw. Nationalitäten und mit verschiedenen politischen Aussagen und Aktionsformen. Die Demo von der Hamburger Allee zum Rostocker Hafen verlief ruhig. Wir gingen ziemlich weit vorn. Die anfänglich trommelnde Gruppe von Pro Asyl war schnell verschwunden und der Musikwagen entfernte sich immer weiter von uns. Wir waren sozusagen schnellen Schrittes. Niemand war mit Megafon in unserer Nähe. Es gab ab und zu einen Sprechchor. Sonst war es eher ein Trauermarsch, so dass wir mit unseren Trillerpfeifen etwas Energie hineingebracht haben. Ein paar Anwohner trauten sich, zumindest aus entsprechender Entfernung das Geschehen zu beobachten. Anders, als gewohnt, wurde der Demozug nicht pozileilich[Anm.d.Red.] begleitet. Das war so ungewöhnlich, dass ich das schon fast vermisst habe.
Am Hafen bzw. Kundgebungsplatz angekommen, waren wir recht irritiert. Glich doch alles dort eher einem Volksfest mit kommerziellen Buden. Und der Aussage einer der Organisatoren "Wir wollen hier ein friedliches Anti-G8-Fest feiern" konnten wir nicht zustimmen. Wir waren jedenfalls nicht zum Feiern gekommen! Die Hubschrauber, die stundenlang über unseren Köpfen hin und her flogen, trugen eher zu einer gereizten Stimmung bei.
Da wir die Eskalation mit dem sogenannten Schwarzen Block nur in kleinen Ausschnitten mitbekommen haben, gehe ich hier nicht näher darauf ein. Wir nutzten die Gelegenheit, mit zwei Technowagen zu den Bussen zurückzukehren, da der "grüne Block" - die Pozilei-Polizei - zu dieser Zeit alle Nebenstraßen abgeriegelt hatten. Wir tanzten uns zu den Bussen, eine große schwarze Rauchwolke im Rücken...
Dienstag, 5. Juni 2007: Ankunft im Camp Wichmannsdorf / Demonstration in Kühlungsborn
Mit neuer Energie reisten Lutz und ich am Dienstag mit dem Motorrad im Camp Wichmannsdorf ohne Zwischenfälle an. Wir waren vom Camp sehr beeindruckt. Verschiedenste politische Gruppen, Menschen aus unterschiedlichen Ländern und die "Clownsarmee" ließen sich auf der großen Wiese mit Blick auf die Ostsee nieder. Dieses ökologische Camp entsprach voll und ganz unseren Vorstellungen zu einer alternativen Lebensart, beispielsweise mit seinen Komposttoiletten und zwei Volxküchen.
Nachdem wir aufgebaut hatten, ging es mit den Motorrädern (Kuhle Wampe) ab nach Kühlungsborn zur Demonstration für eine objektive staatsunabhängige Presse. Wir kamen aber nicht weit, da die Pozilei die Zufahrtsstraßen abriegelte. Die "gefährliche" Clownsarmee, eine subversive Spaßguerilla, führte bei ihnen zu Irritationen, da die Clowns es wagten, ihre Waffen zu berühren oder über den Köpfen der Polizisten Volleyball zu spielen. Im Gegensatz zu uns fanden die Uniformierten das nicht lustig. Nicht jeder kann eben Spaß verstehen, und sie waren ja auch nicht zum Spaß da. Wir haben es nach ca. einer Stunde geschafft, eine Straße zu finden, die nicht abgeriegelt war. Somit kamen wir als erste Gruppe in Kühlungsborn an, um der sich dort versammelten bürgerlichen Presse, die sich vom Staat beeinflussen und kaufen lässt, zu zeigen, was wir von ihnen halten. Für sie gab es sogar ein Luxusbuffet zur Stärkung der Motivation einer meinungsmachenden systemunterstützenden Hofberichterstattung u.a. mit dem Ziel der Kriminalisierung und Spaltung der globalisierungkritischen Bewegung. Die Demo und die Kundgebung verlief friedlich. Die Pozilei zeigte hier nur ihre überflüssige Präsenz.
Im Camp angekommen konnten wir uns an der Vokü stärken und Energien für den nächsten Tag sammeln.
Mittwoch, 6. Juni 2007: Erlebnistour im weißen Mazda / Flughafen / Alternativgipfel
Am Mittwoch wechselten wir unsere Bewegungsform. Das Motorrad blieb stehen, und wir fuhren zu fünft mit einem weißen Mazda. Diese Bezugsgruppe konnte u.a. aus den Erfahrungen beim G8-Gipfel in Genua 2001 zurückgreifen. Unser erstes Ziel war die Kundgebung am Flughafen Rostock Laage. Wieder kamen wir nicht weit. Alle Zufahrtsstraßen waren gesperrt und auch ein recht schlammiger und löchriger Waldweg führte uns nur in eine Sackgasse. Somit fuhren wir zu der abgeriegelten Straße, durch die wir nach ausgiebiger Personen und Fahrzeugkontrolle passieren konnten. Auf direktem Weg zum Flughafen zu gelangen, war nicht möglich. Gesperrte Straßen zwangen uns immer wieder zur Umkehr oder zu anderen Routen, da wir in Orte, die wir gerade verließen - trotz Presseausweis - nicht wieder hineinfahren durften. Nach einer ausgiebigen Erlebnistour durch Mecklenburg Vorpommern konnten wir endlich in die Nähe des Flughafens gelangen. Auch hier wieder Personenkontrolle und Durchsuchung nach Waffen. Dabei gab es Zwischenfälle, wobei die Pozilei Demonstranten schikanierte und angriff. Die schnelle Präsenz der Presse sorgte für Deeskalation.
Am Kundgebungsort befanden sich ca. 50 Leute, die sich relaxt auf dem Platz verteilten. Hier erfuhren wir, dass es mittlerweile zwei Zaunblockaden mit 2000 bzw. 4000 Menschen gab. Das steigerte unsere Motivation. Wir gingen nach ca. 30 Minuten zu unserem Auto zurück. Die unfreiwillige Landerkundung ging weiter. Unser Ziel war jetzt der Alternativgipfel in Rostock.
Wir besuchten einen Vortrag zur Situation in Venezuela. Leider wussten wir nicht vorher, dass er von den orthodoxen Trotzkisten der SAV gehalten wurde. Besonders mir als ehemalige DDR-Bürgerin fiel es schwer, meinen Respekt vor der Referentin der SAV zu behalten. Da ich aber ein Mensch bin, dem freie Meinungsäußerung sehr wichtig ist, konnte ich mich zusammenreißen und bin der Sprecherin nicht ins Wort gefallen oder aufgestanden und rausgegangen (was ja auch eine Alternative gewesen wäre). Ich wollte noch den Sprecher aus Venezuela zur aktuellen Situation hören. Somit habe ich das leninistische und trotzkistische Gequatsche brav erduldet. Der Stuhl, an dem ich mich festhielt, war dabei eine große Hilfe. Den wirklich spannenden Vortrag erlebten wir mit drei Vertreterinnen aus der zapatistischen Bewegung in Mexiko, bzw. der sozialen Bewegung in Argentinien.
Danach fuhren wir zum Rostocker Camp, um uns Infos zu holen. Kurz nach unserem Eintreffen, fuhren vier Hundertschaften auf. Sie präsentierten sich vorm Eingang, auf der Hauptstraße sowie den Nebenstraßen. Wir verließen das Camp, um die Sache von außen zu beobachten, damit wir notfalls unterstützend wirken konnten. Die Campleitung reagierte super, indem sie zur Ruhe aufrief. Einzelne Schergen durchforsteten das Camp.
Als sich die Einsatzwagen zurückgezogen hatten, fuhren wir zurück zu unserem Camp, um beim Grillen und Bierchen Kraft für den nächsten Tag zu sammeln.
Donnerstag, 7. Juni 2007: Blockaden
Unser Motto hieß für diesen Tag "BLOCKIEREN". Wieder wechselten wir die Bewegungsform. Wir gingen zu Fuß. Eine Stunde nachdem die zweite und letzte große Gruppe mit ungefähr 60 Menschen[1] das Camp verlassen hatte, gingen wir zu viert (gestrige Bezugsgruppe, T. ging mit der letzten großen Gruppe mit), versorgt mit Essen, Trinken und einer Karte los. Quer durch den Wald, vor den Hubschraubern versteckend, suchten wir den Weg nach dem Westtor im Zaun von Heiligendamm. Etwas desorientiert begegneten wir auf einem Feld am Waldrand einem Bauern, der uns freundlich den Weg zeigte. Wieder im Wald (überall Pozileifahrzeuge, auch zivil auf den Straßen verteilt) trafen wir auf eine dreiköpfige Gruppe. Somit waren wir schon sieben. Wir kletterten über Gehölz, Äste und Bäche; wir liefen durch Sümpfe und robbten über Felder - immer auf der Hut vor der Pozilei und auf der Suche nach einem Schlupfloch, um über die Straße zu kommen. Endlich eine Möglichkeit - aber ein Zivilauto stand am Straßenrand.
Wir hatten Geduld! Und tatsächlich, es fuhr weg. Unsere Chance! Andere Fahrzeuge konnten wir vorher meilenweit hören. Aber Bezugsgruppen müssen ja zusammenbleiben. Unsere Chance, aber eine Person erledigte gerade ihr Geschäft. Also startete erst Mal die Dreiergruppe, um auf der anderen Seite (Wald) auf uns zu warten. Sie waren gerade wieder in Sicherheit und der Zivilwagen war wieder da. Ich dachte nur, das war es jetzt. Unser Vorhaben würde am natürlichen Bedürfnis scheitern. Aber nicht nur das. Was nützt all das Schleichen und Verstecken, wenn zwei aus der Gruppe - vom Heuschnupfen geplagt - durch den Wald schallend um die Wette niesen? Der Zivilwagen blieb zum Glück nicht lange, so dass wir es über die Straße schafften, wo uns die anderen erwarteten. Jetzt waren wir wieder sieben und bald darauf begegneten wir einer größeren Gruppe. Somit waren wir ca. 60 Personen. Über weitere Felder gelangten wir zur Blockade. Dort waren schon ca. 3000-4000 Menschen.
Die Pozilei mit ihrer Einschüchterungstaktik stand mit Hunden und Wasserwerfern bereit. Wiederum konnten durch Präsenz der Presse Situationen entschärft werden. Um nicht die Clownsarmee sowie später auch die "Pink Silver" zu vergessen! Es gab u.a. eine "Sitzschriftaktion" - No G8 und andere Spielchen mit der Pozilei, damit sie sich ausbreiten, ihre Kräfte ausdünnen musste. Trotz vielfachen Heranfliegens mit Hubschraubern, in denen der Nachschub saß, wurden die Staatsorgane lange Zeit nicht Herr der Lage. Selbst die Volxküche (NL), schaffte es zur Blockade zu kommen, um die Leute mit Getränken und Essen zu versorgen. Im Vorfeld brachten verschiedene Leuten Wasser mit. Die Polizisten hatten nicht so eine gute Logistik: Sie standen in voller Montur über Stunden ohne Wasser in der prallen Sonne!
Aber die Strategie der Pozilei ging auf. Sie warteten, bis sich die Zahl der Blockierer drastisch verkleinerte (max. noch 1000, wenn überhaupt), dann schlugen sie los. Mit neun (!) Wasserwerfern, Einsatz von Pfefferspray und Knüppeln drängten sie die Blockierer nach und nach zurück. Als es keinen Sinn mehr hatte zu bleiben, da die Zahl der Demonstranten immer kleiner wurde (wer lässt sich schon so einfach einsammeln), gingen auch wir zurück, um im Camp Reddelich neue Infos zu holen. Auf der Hauptstraße beim Camp angekommen, näherten sich zwei Einsatzwagen im Schrittempo - (Straße war voll mit Fußgängern), Demonstranten riefen zur Sitzblockade auf. Ein kleiner Teil (ca. 20) setzte sich spontan auf die Straße, ein größerer Teil veranstaltete in Kürze hinter den Pozileifahrzeugen eine Rave-Party. Sitzen oder Tanzen, wir hatten die Wahl. Einige entfalteten ihre Kreativität und veränderten Aussehen und Funktion der Fahrzeuge (meiner Meinung nach zum Vorteil). Ein Wagen war geschmückt mit Blumen und einem Schild "Artgerechte Bullenhaltung", der andere mit Klebeband ringsum zugeklebt, Signalleuchte und Nummernschilder fehlten usw. Aber wir blockierten nicht als einzige. Längst vorher wurden mehrere große Straßenblockaden errichtet, um die Wasserwerfer nicht durchzulassen. Deshalb lösten wir unsere kleine Blockade auf: die Fahrzeuge kamen ja nicht weit. Da wir vom Wasserwerfer durchnässt waren und kaputt vom ca. 30-km-Marsch, konnten wir dem Angebot, mit dem PKW zu unserem Camp gefahren zu werden, nicht widerstehen.
Freitag, 8. Juli 2007: Demo / Kundgebung in Rostock
Letzter Tag, letzte Energiereserven. T. ist wieder da! Nach 18-stündiger Gewahrsamnahme in Käfig-Haltung, an den Händen gefesselt, ohne Versorgung mit Wasser, ohne Telefon und Toilette (möglich erst nach vielen Stunden). Unser letztes Ziel, Demo und Kundgebung in Rostock. Also Frühstück bei der Vokü, Zeltabbau, Beladen der Fahrzeuge und los! Diesmal mit Auto und Motorrad. Wir parkten in einer Nebenstraße, beluden das Auto mit unseren Sachen, zogen uns um (raus aus den dicken Klamotten) und ab zum Hafen. Demo war schon unterwegs. Auf dem Weg wieder starke Pozileipräsenz, Schikanierung und willkürliche Festnahmen. Auf dem Platz warteten alle auf den Demozug und eine Moderatorin der Veranstaltungsleitung schickte die Pozilei ins Wochenende, da sie hier überflüssig sei - wir hätten in den letzten Tagen bewiesen, dass wir einen friedlichen Verlauf der Demonstrationen viel besser organisieren konnten als sie. Sie sollten doch ihre Niederlage mit Fassung tragen und uns in Ruhe lassen.
Wieder Übergriffe der Pozilei auf Demonstranten, Festnahmen und Schikanen. Die Moderatorin rief die Presse und Politiker zur Unterstützung auf. Die Presse reagierte, Situationen konnten entschärft werden. Der Demozug von ca. 2000 Leuten traf ein, die Kundgebung begann. Es gab Infos bzw. Redebeiträge z.B. über Verletzte und Gefangene; Verletzungen von Grund- und Menschenrechten, Willkür, Lügen, eingeschleuste Gewalttäter in den sogenannten Schwarzen Block und Gewalt seitens der Pozilei; den Blockaden, Camps usw. sowie Dank an die solidarische Bevölkerung, die 18 Volxküchen und alle anderen, die den Widerstand unterstützt hatten. Leider wurden nicht alle Beiträge übersetzt, trotz des mehrheitlichen Wunsches der Teilnehmer.
Eins ist klar: Wir haben einen großen Sieg zu verbuchen! Wir haben erfolgreich blockiert und mit vielfältigen, ideenreichen Aktionen gegenüber der Pozilei gewonnen, waren noch am Ende 18.000 Globalisierungskritiker (mehr als erwartet)[2] und haben die Aufmerksamkeit auf uns gezogen! Jetzt heißt es für uns Aufklärung in der Bevölkerung darüber, wie und was wirklich passierte. Es bleibt abzuwarten, ob die auf der Kundgebung angekündigte "neue Zeit" für den internationalen Widerstand gegen die zur Zeit vorherrschende Weltordnung tatsächlich gekommen ist.
Anmerkungen:
[Anm.d. Redaktion] Es handelt sich nicht um einen orthographischen, sondern leibhaftigen Makel. Die Orthographie folgt diesem Umstand in einem pejorativen Sinne, d.h. als invers euphemistische Koseform. Vielleicht aber ist es auch nur ein Tippfehler.
[1] Leider wurden diese Gruppen u.a. (ca. 300) von 3000 im Wald aufgestellten Polizisten in "Käfighaltung" genommen. Dadurch konnten allerdings andere Gruppen bis zur Blockade gelangen.
[2] Am 2. Juni 2007 demonstrierten 80.000 Menschen.
Beate ist bei Kuhle Wampe und in anderen Gruppen politisch aktiv. Lutz ist Mitglied in der Kuhlen Wampe.
[http://www.sopos.org/aufsaetze/4676b16802f3e/1.phtml]