2007-06-07
Am Donnerstag, dem 7. Juni brach ich ebenso wie viele andere Bewohner des Camps Wichmannsdorf am frühen Morgen auf, um zu den für diesen Tag geplanten Aktionen und Demonstrationen zu gelangen. Nachdem am Vortag umfassende Polizeikontrollen sämtlicher Zufahrtsstraßen ein Verlassen des Camps teilweise um Stunden verzögert hatten, entschied ich mich wie ein Großteil der Aufbrechenden für den Weg durch das Kühlung genannte Waldstück oberhalb des Camps. Es waren verschiedene größere und kleinere Gruppen, die sich auf unterschiedlichen Wegen durch den Wald bewegten. Nach einiger Zeit traf die Gruppe, der ich mich anschloss, auf andere, die von massiven Polizeikontrollen und gewaltsamen Festnahmen berichteten. Kurz darauf ertönten hinter uns – aus südlicher Richtung - laute Rufe und unmittelbar danach sah ich, wie vermummte Polizisten in schwarzer Kampfmontur und mit gezogenem Schlagstock den Hügel hinter uns in unsere Richtung hinunter liefen. In meiner Gruppe und in der Umgebung brach Panik aus, Menschen rannten ungezielt vor den martialisch wirkenden Polizisten davon. Wir hasteten über die hohen Hügel durchs Unterholz, wobei zwischen den Bäumen nun auch von vorne und von der Seite immer mehr Polizisten – manche in grüner, manche vermummt in schwarzer Panzerung - auftauchten. In der ungewissen Hoffnung, auf diese Weise einem ungezielten Schlagstockeinsatz zu entgehen, wie ich ihn auf dem Kundgebungsplatz am Rostocker Hafen während der Auftaktdemonstration wiederholt erlebt hatte, gesellte ich mich zu einer Gruppe von drei Personen, die sich auf den Waldboden gesetzt hatten. Wir wurden rasch von Polizisten umstellt, die uns anschrien und Gewalt androhten, sollten wir uns bewegen. Als eine Frau eine Wasserflasche aus ihrem Rucksack holen wollte, wurde sie grob gestoßen und erneut bedroht: „Fass das noch einmal an und du kriegst aufs Maul“.
Nach einigen Minuten wurden wir aus dem Wald heraus auf ein Feld geführt, wo wir zusammen mit anderen Festgenommenen einer grün gepanzerten Einheit übergeben und von dieser abgeführt wurden. Vielen Personen, insbesondere den meisten Männern, waren die Hände bei der Festnahme mit einfachen Kabelbindern so auf dem Rücken zusammengebunden worden, dass sie tief ins Fleisch schnitten. Bei einem Mann waren die Kabelbinder so fest gezogen worden, dass seine Hände bereits blau anliefen. Mehrere Personen hatten Blessuren von der Festnahme, eine Frau lange blutige Kratzer am Hals.
Unsere ca. 20 Personen umfassende Gruppe wurde auf einen Weg gebracht, wo wir nach und nach aufwendig einzeln durchsucht und fotografiert wurden. Wir hatten Glück, durften uns teilweise in den Schatten setzen und den gefesselten wurden die Kabelbinder wieder abgenommen. Eine zweite Gruppe von ebenfalls etwa 20 Personen wurde von Mitgliedern einer Beweis- und Festnahmeeinheit (BFE-Einheit) durchsucht, die während der gesamten Zeit weiterhin vermummt blieben. Die Festgenommenen wurden teilweise gezwungen, sich in der prallen Sonne auf den Boden zu knien, durften sich nicht bewegen, blieben teilweise bis zu ihrer Durchsuchung gefesselt und durften nichts trinken. Vor dem Abtransport dieser Gruppe wurden den männlichen Personen erneut die Hände gefesselt. Als ich später in der Zelle einigen aus dieser Gruppe wieder begegnete, erfuhr ich, dass drei Männer gezwungen wurden, sich im Gefangenentransporter auf den Boden vor den Zellen zu Knien und während der gesamten Fahrt in dieser Haltung zu verharren. Auch wurde diese Gruppe bis zum Eintreffen in der Gefangenensammelstelle trotz brüllender Hitze in den Transportern nicht mit Wasser versorgt.
Wie die meisten in meiner Gruppe legte ich Widerspruch gegen die gesamte, in meinen Augen vollkommen widerrechtliche Maßnahme ein und verlangte, einen Anwalt zu sprechen. Darauf wurde erwidert, dass ich dazu in der Gefangenensammelstelle Gelegenheit haben würde. Auf Anfrage wurde mir mitgeteilt, dass ich in Gewahrsam genommen würde, eine Rechtsbelehrung erhielt ich nicht. Mir wurde ein „Kurzbericht“ überschriebenes Blatt ausgehändigt, in dem als „Polizeilicher Anlass“ der Maßnahme „Demonstrative Aktionen anlässlich G8-Gipfel“ eingetragen war. Auf dem regulären Polizeibericht, von dem mir keine Kopie ausgehändigt wurde, hieß es hingegen u.a. „Beteiligung an einer brennenden Barrikade“ und „Flucht vor der Polizei“. Die meisten Angehörigen in meiner Festgenommenengruppe berichteten das gleiche, unser Protest gegen diese völlig widersprüchlichen Angaben wurde aber einfach ignoriert. Ein älterer Beamter sagte mir „das wird da jetzt erstmal so rein geschrieben, was später daraus wird, steht auf einem ganz anderen Blatt“. Der Einsatzleiter (Herr Linz) sagte uns, wir würden zur Gefangenensammelstelle nach Kröpelin gebracht und dort alles erhalten – Essen, Wasser, medizinische Versorgung und Gelegenheit, mit Anwälten zu sprechen.
Mit Gefangenentransportern wurden wir zum Bauhof eines Straßenbauamtes in oder bei Kröpelin gebracht, das anscheinend übergangsweise zur Gefangenensammelstelle umfunktioniert worden war. Dort mussten wir uns zunächst in der prallen Sonne in die Mitte des Hofes setzen. Obwohl ich und mehrere andere Personen vom Vormittag im Gewahrsam einen Sonnenbrand, Kopfschmerzen und Schwindelgefühle hatten, durfte sich keiner in den Schatten setzen. Auch ein Sanitäter wurde uns zunächst verweigert, die Verletzungen seien ja wohl nicht so schlimm. Erst nach langwierigen Diskussionen und lautem Protest unsererseits wurde schließlich ein Sanitäter geholt. Anwaltsgespräche und Essen wurden uns verweigert, auch unser nochmaliger Protest gegen die widersprüchlichen Angaben auf dem Kurzbericht und dem uns nicht ausgehändigten Polizeibericht wurde weiterhin ignoriert. Stattdessen wurden wir in die Garagen des Bauhofes gesperrt. Den Männern wurden zuvor erneut die Hände gefesselt und zwar mit einfachen Kabelbindern und viel zu fest, so dass sie ins Fleisch schnitten und die Handgelenke stark schmerzten. Obwohl unsere Gruppe zu keinem Zeitpunkt aggressiv aufgetreten war, wurde als Grund „Eigensicherung“ angegeben. Nach ungefähr einer Stunde wurden wir wieder in die Gefangenentransporter gepfercht, wobei zuvor die Fesselung mit einfachen Kabelbindern durch doppelte Kabelbinder ersetzt wurde. Dann wurden wir in die Gefangenensammelstelle nach Rostock verbracht. Ein Grund für den Zwischenstopp in Kröpelin wurde uns nicht genannt.
Gegen 15 Uhr kamen wir in der Gefangenensammelstelle Industriestraße in Rostock an. Bei der Aufnahme wurde der mich begleitende oder bewachende Polizist gefragt, ob es „gerichtsfeste Beweise“ für die gegen mich erhobenen Vorwürfe gebe. Der Beamte verneinte dies, trotzdem wurden in der schriftlichen Rechtsbelehrung, die ich nun endlich erhielt, als Gründe für die Ingewahrsamnahme „Gefahrenabwehr“ und „Strafverfolgung“ angekreuzt. Den meisten Mitgefangenen in der Zelle, in die ich gebracht wurde, ging es ähnlich. Es folgten mehrere Stunden in einer der 25 m² großen Käfige der Sammelstelle. Bei der mit Neonlampen ausgeleuchtete geschlossene Halle nahm mir schon nach kurzer Dauer das Zeitempfinden, die ununterbrochene Geräuschkulisse von Propellern und Lüftungsanlagen sorgte für ein ständiges, penetrantes Rauschen, das mir das Hören erschwerte und das Denken beeinträchtigte. Toilettengänge wurden verzögert, manchmal sogar verweigert. Essen wurde mal verzögert, mal verweigert . Als Zöliakie-Betroffener erhielt ich keine ausreichende Verpflegung, stattdessen wurde mir angeblich „veganes“ Essen gebracht: eine Scheibe trockenes Brot und zwei Äpfel. Ein französischsprachiger Häftling wurde vor die Wahl gestellt entweder zu rauchen oder zu essen, beides ginge nicht. Erst nach Protesten anderer Käfiginsassen und nach längerer Verzögerung wurde ihm Essen gebracht. Überhaupt waren die nicht deutschsprachigen Häftlinge zusätzlichen Schikanen ausgesetzt: Mit einer Ausnahme wurden keine Übersetzer geholt und Polizeibeamten, denen es keine Probleme bereitete, nicht deutschsprachige Gefangene auf englisch zu beschimpfen behaupteten, sich nicht mit ihnen verständigen zu können, weil sie nicht Englisch sprächen. Trotz wiederholter Aufforderung wurde mir und anderen jeglicher Anwaltkontakt verweigert, wobei immer neue Gründe genannt wurden: Mal hieß es, es seine keine Anwälte da, mal wieder dass die Anwälte zu beschäftigt seien" und schließlich: "Die Zellenverwaltung (sic!) sagt, nur wer konkret belastet wird, darf einen Anwalt sehen". Gespräche mit Vorgesetzten wurden verweigert. Einige Personen durften gar nicht telefonieren, andere wie ich erst lange, nachdem wir in den Käfig gekommen waren. Mindestens eine Person aus dem Käfig wurde ohne anwaltlichen Beistand einem Haftrichter vorgeführt.
Gegen 2 Uhr Nachts wurde ich mit einer großen Anzahl weiterer Personen überraschend entlassen. Entlassungspapiere wurden uns nicht ausgehändigt, auf Nachfrage wurde die Aushändigung verweigert. Wir wurden mit einem Linienbus mitten in der Nacht im Hafengebiet ausgesetzt und uns selbst überlassen. Nur dank der Unterstützung von Fahrern aus dem Camp kam ich noch in der Nacht nach Wichmannsdorf zurück.
Am nächsten morgen stellte sich heraus, dass rund 200 Personen von den willkürlichen Festnahmen im gesamten Waldgebiet der „Kühlung“ betroffen waren. Alle Festnahmen fanden außerhalb des erweiterten Maßnahmeraumes statt. Allen, mit denen ich gesprochen habe, wurde laut Polizeiprotokoll der Vorwurf der „Beteiligung an einer brennenden Barrikade“ gemacht, keinem wurde dieses Protokoll ausgehändigt. Die durchschnittliche Dauer des Gewahrsams betrug 18 Stunden ohne Strafnachweis oder Anwaltskontakt. Viele Betroffene wollen wegen der in ihren Augen widerrechtlichen Ingewahrsamnahme, mit der unser Demonstrationsrecht an diesem Tag effektiv aufgehoben wurde, sowie gegen die Behandlung durch die Polizei und die Zustände in der Gefangenensammelstelle eine Sammelklage einreichen. Aus diesem Grund haben wir Kontakt zum Republikanischen Anwaltsverein aufgenommen.