2007-06-21 

Christine Buchholz: Staatsmacht, Ohnmacht und bürgerliche Medien – Rostock und die Gewaltfrage

Die globalisierungskritische Bewegung feierte mit den Mobilisierungen gegen den G8-Gipfel
in Heiligendamm einen großen Erfolg. Nie zuvor gelang es, einen G8-Gipfel massenhaft und
gewaltfrei zu blockieren. Gleichzeitig tummelten sich unter den Teilnehmerinnen und
Teilnehmern der Anhörung der Linksfraktion in Bad Doberan und unter den mehr als 2 000
Gästen des parallel zu den Blockaden stattfindenden Alternativgipfels viele Rostockerinnen
und Rostocker.

Zum Auftakt am 2. Juni reisten 80.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern zur größten
globalisierungskritischen Demonstration in der Bundesrepublik nach Rostock. Allerdings
löste die Straßenschlacht zwischen einigen hundert Autonomen des so genannten
„Schwarzen Blocks“ unmittelbar nach der Großdemonstration eine kontroverse Debatte in
der Linken aus: Manche beließen es nicht bei einer Kritik der „Steinewerfer“ und
distanzierten sich sehr schnell von ihnen. Das war unnötig und hilft nicht bei der politischen
Bewältigung der Vorfälle.

Sowohl innerhalb des Demonstrationsbündnisses als auch bei attac forderten manche, den
„Schwarzen Block“ aus dem Anti-G8-Aktionsbündnis auszuschließen. Viele sprachen
nebenbei die Staatsgewalt im Großen und Ganzen frei: Die Polizei trage keine Schuld an der
Entstehung der Gewalt, habe sich tadellos verhalten und sei bei dem Konzept der
Deeskalation und der Kooperation geblieben.
Ähnlich äußern sich Michael Brie und Lutz Brangsch von der Rosa-Luxemburg-Stiftung. In
ihrem Papier „In der Sackgasse – oder: Mittel beherrschen Ziele“ (rls standpunkte 9/2007)
fordern sie, „Grenzen zu ziehen“ und schlussfolgern: „Eine gemeinsame Demonstration ist
nicht mehr möglich.“ Brie und Brangsch fordern nicht nur den „Bruch“ des Aktionsbündnisses
mit den Autonomen. Sie sprechen von einem „Sieg der Unvernunft und Inhumanität“ und
fragen: „Wo liegt der Unterschied zu dem, wogegen demonstriert wird?“
Michael Brie antwortete am 9. Juni im „Neuen Deutschland“ selbst auf seine polemische
Frage, wo der Unterschied zu unseren Gegnern hinter dem Zaun noch liege, wenn aus
unseren Reihen Polizisten mit Steinen beworfen würden. Die USA seien zur „Hauptgefahr
der internationalen Sicherheit geworden.“ Allein durch den Irakkrieg sind 700.000 Tote und
1,5 Millionen Flüchtlinge zu beklagen. Jean Ziegler, UN-Sonderberichterstatter für das Recht
auf Nahrung, hat Recht, wenn er die Steine von Rostock mit einem Verweis auf das tägliche
Massaker des Hungers relativiert.

Auch angesichts einer Welle von Medienempörung über die Steinewerfer aus dem
„Schwarzen Block“ dürfen wir nicht den kühlen Kopf verlieren. Peter Strutynski vom Kasseler
Friedensratschlag geht mit gutem Beispiel voran, wenn er in seinem am 5.6. veröffentlichten
Papier „Gewaltverhältnisse – Rostock und die Folgen“ fordert: „Den eifernden
Ordnungspolitikern aller Couleur, die jetzt auf der Woge der Gewaltverurteilung daher
kommen, muss der Spiegel vorgehalten werden, der die wahren Gewaltverhältnisse wieder
ins richtige Licht rückt.“ Die Demonstration in Rostock habe das zunächst vorbildlich getan
und daran gelte es jetzt anzuknüpfen.
Inhuman verhalten sich die Heerscharen von Journalisten, die den Unterschied ausblenden
zwischen Unrecht, Gewalt und Kriegen der Herrschenden und der ungeduldigen Empörung
darüber.

Peter Strutynski meint über den „Schwarzen Block“: „Manche von ihren streben den
sofortigen Erfolg an, die punktuelle Auseinandersetzung mit den Repräsentanten der
Staatsmacht und den Hauptverantwortlichen für die ungerechten Gewaltverhältnisse in der
Welt.“

Die Steine aus den Reihen des „Schwarzen Blocks“ drücken Wut und Ohnmacht aus. Hier
liegt der schwere politische Irrtum der Steinewerfer, wenn sie diese Form des Protestes mit
Macht oder Gegenmacht verwechseln.
Aber wir leisten dem Aufbau des Widerstands einen Bärendienst, wenn wir erklären, dass wir
den „Schwarzen Block“ aus unseren Bündnissen ausschließen wollen. Denn wer ist der
„Schwarze Block“? Die Leute, die Steine geworfen haben, waren nie offizieller Teil des
Bündnisses. Sie haben keine Vorsitzenden und keine Geschäftsstelle, wo wir uns
beschweren könnten. Die Interventionistische Linke, in deren Block Steinewerfer mitgelaufen
sind, ist nicht für jeden einzelnen Fehltritt einer Person, die in ihrem Block gelaufen ist,
verantwortlich. Im Gegenteil: Sie hat viele eingebunden in einen großen, bunten, politischen
Block und von daher eine weitere Eskalation verhindern geholfen.
Wenn sich die globalisierungskritische Bewegung erst für Steinwürfe verantwortlich machen
lässt und dann beansprucht, sie in Zukunft zu verhindern, besteht der einzig sichere Ausweg
darin, gar nicht mehr zu demonstrieren. Und genau das ist das Ziel der „eifernden
Ordnungspolitiker“ und vieler Kommentatoren in den Massenmedien: Unsere Bewegung zu
zerstören.
Über die Stöckchen, die sie uns hinhalten, darf die Protestbewegung nicht springen. Wir
kritisieren die Steinewerfer, aber distanzieren uns nicht von ihnen. Ihre Ohnmacht ist auch
unsere Ohnmacht. Es liegt an uns, einen anderen Ausweg aus der Inhumanität der
herrschenden Verhältnisse zu eröffnen.

Die Hafenarbeiter, die Telekom-Streikenden, die Drucker und Bauarbeiter – die meisten von
ihnen fehlten in Rostock obwohl der globale Kapitalismus ihre Zukunft mindestens genauso
bedroht wie die von autonomen Jugendlichen. Anders gesagt: Die Ungeduld der Autonomen,
ihr Verlangen nach „sofortigem Erfolg“, drückt nicht nur eine falsche politische Strategie aus,
sondern auch unsere eigene Schwäche. Noch schwächelt das Bündnis zwischen
globalisierungskritischer Bewegung und Gewerkschaften. Dabei brauchen die
Gewerkschaften die globalisierungskritische Bewegung, um der Logik der
Standortkonkurrenz einen neuen Internationalismus und eine alternative Strategie für die
gewerkschaftliche Gegenwehr entgegenzusetzen. Die globalisierungskritische Bewegung
braucht die organisierte Arbeiterklasse, weil sie ansonsten – trotz erfolgreicher Blockaden,
phantasievoller Proteste und kluger Köpfe – kein Potential hat, Gegenmacht zu entwickeln.
Daran gilt es zu arbeiten und hier kommt gerade der LINKEN eine wichtige Bedeutung zu.
Erinnern wir uns an die Wut der Hafenarbeiter, die in Straßburg gegen das „Port Package II“
demonstrierten und dabei auch Steine warfen. Niemandem kam es ernsthaft in den Sinn,
diese Gewalt auf eine Stufe zu stellen mit der strukturellen, stillen Gewalt der Europäischen
Kommission und der Konzerne, die mit ihrem neoliberalen Feldzug Löhne und
Arbeitsbedingungen in den europäischen Häfen ruinieren wollten. Der Straßenkampf in
Straßburg stellte den Endpunkt eines erfolgreichen europaweiten Streiks in den Wochen
zuvor dar. Der einzige Unterschied zwischen den Hafenarbeitern und den Rostocker
Steinewerfern bestand darin, dass die Hafenarbeiter die Fähigkeit hatten, mit ihrem Streik
realen Druck zu erzeugen.

Inzwischen wurde bekannt, dass Polizeieinheiten in Rostock brutal in die Demonstration
intervenierten und Zivilbeamte Eskalationen provozierten. Menschenrechtsorganisationen
brachten harte Kritik am Verhalten der Polizei hervor. Die LINKE kritisierte stets die
Eskalation von beiden Seiten. Viele Mitglieder von WASG und Linkspartei beteiligten sich
aktiv an der Deeskalation der Situation am 2.6. und riskierten dabei ihre Unversehrtheit.
Dass Teile der Bewegung sich vorschnell und reflexhaft vom „Schwarzen Block“
distanzierten, spiegelt ein zweifelhaftes politisches Kalkül wider, dass darauf setzt, es sich
nicht mit den bürgerlichen Medien oder dem Staatsapparat zu verscherzen.
Auf der Eröffnung der Anhörung der Linksfraktion in Bad Doberan am Tag nach der
Demonstration forderte Oskar Lafontaine eine Demokratisierung der Medien: „Es gibt den
gewaltigen Irrtum, in den westlichen Industriestaaten seien die Medien demokratisch. Das ist
ein gewaltiger Irrtum. Sie sind frei von staatlichem Einfluss, jawohl, überwiegend. Sie sind
aber in der Hand der Wirtschaft. Und eine freie Presse kann nicht in der Hand der Wirtschaft
sein.“

Zum Glück ging die Strategie der Regierung und der Medien nicht auf, mit den gewollten
Gewaltbildern die Proteste zu diskreditieren, weil die Mehrheit der Protestbewegung
besonnen und diszipliniert ihren Protest fortsetzte. Das war die Quelle des Erfolges von
Rostock.
Nicht ein „anderer Protest“ (Brie/Brangsch) ist nötig, sondern eine Ausweitung der
Bündnisse, des Protestes und eine bessere Verzahnung mit sozialen Bewegungen und
Gewerkschaften. Eine bündnisinterne Diskussion wie mit Eskalation und Steinewerfern
umzugehen ist nötig und eine unaufgeregte Auseinandersetzung mit der Unzulänglichkeit
autonomer Strategie und Taktik.

Literaturhinweise:

*Christine Buchholz war an der Vorbereitung und Durchführung der G8-Proteste beteiligt. Sie
ist Mitglied im geschäftsführenden Vorstand der Partei DIE LINKE.

christine.buchholz@web.de