2007-06-24
Anmerkungen zur Gewaltdebatte nach dem G8
„Dem Hut soll gleiche Ehre wie ihm selbst geschehen!“ heißt es im Wilhelm Tell. Und wer das Knie vor dem Hut auf der Stange nicht beugte, sah sich aus der Gemeinschaft der Rechtschaffenen ausgegrenzt.
Die Zeiten ändern sich. Verfolgt man die Diskussion bei einigen Sektoren der Linken zu den Gewaltausbrüchen bei der G8-Demonstration am 2. Juni, scheint an die Stelle des Gessler-Huts eine schwarze Kapuze getreten zu sein. „Schluss mit den Distanzierungen“ heißt der Titel eines Papiers, das von der Mehrheitsströmung der Interventionistischen Linken verfasst wurde. Und auf einer Versammlung im Camp erschallte unter rauschendem Beifall: „Wer sich distanziert, spaltet die Bewegung!“ Attacies in den Camps schließlich waren Zielscheibe von Aggressionen – es sei denn sie beugten sich dem Konformitätsdruck, der von den Anti-Distanzierern ausging, und distanzierten sich von ihrer „Führung“.
Die Kampagne der globalisierungskritischen Bewegung gegen den G8 war ein großer Erfolg. Sie hat beträchtlich dazu beigetragen, dass die G8 bis weit in die Mitte der Gesellschaft delegitimiert ist. Auch in der Debatte um die Grundrechte, die im Mai mit den Razzien des BKA begann und mit der Auseinandersetzung um Polizeigewalt in Rostock und dem Einsatz der Bundeswehr beim Gipfel noch andauert, konnte die Bewegung punkten. In den seriösen Medien gab es mit wenigen Ausnahmen eine faire bis freundliche Berichterstattung.
So manche altbekannten Reflexe jedoch findet man in der internen Kontroverse um die Militanz. Daher muss die Diskussion um Gewalt geführt werden. Nicht zuletzt, weil wir bei vielen jungen Leuten eine erfreuliche Politisierungswelle erleben. Der Umgang mit Gewalt ist nicht irgendein Thema unter anderen, sondern eine Grundfrage emanzipatorischer Politik.
Selbstkritik schafft Vertrauen
Dabei ist der Anlass zugegebenermaßen schmerzhaft. Nach allem was bekannt ist begann die Randale in Rostock eindeutig durch Steinwürfe einer Gruppe aus dem Block „Make Capitalism History“ auf ein Fahrzeug der Verkehrspolizei. Nachdem die Scheiben zertrümmert waren, flogen weiter Steine auf die beiden Beamten im Auto. Sie wurden verletzt, konnten dann aber wegfahren. Die ansonsten gern benutzte und häufig wohl auch zutreffende Rechtfertigung mit „Gegengewalt“ zieht in diesem Fall also nicht.
Aber Selbstkritik, gar öffentliche, ist bei manchen Linken nach wie vor tabu. Damit wird die Chance vertan, Vertrauen und Glaubwürdigkeit bei den Menschen zu gewinnen, die man für die eigene Sache überzeugen möchte. Stattdessen verlegt man sich auf den Diskurs von der strukturellen Gewalt, oder auf die These von den Agents Provocateurs, um die Steineschmeißerei mindestens zu relativieren.
Personale – strukturelle Gewalt – ein qualitativer Unterschied
Natürlich gibt es so etwas wie strukturelle Gewalt. Schon Marx sprach von der stummen Gewalt der ökonomischen Verhältnisse und Brecht hat es in eine schöne Metapher gegossen: „Der reißende Fluss wird gewalttätig genannt. Aber das Flussbett, das ihn einengt, nennt keiner gewalttätig.“ 1971 wurde der Ansatz von dem Friedensforscher Galtung zum Begriff der strukturellen Gewalt weiterentwickelt. Gewalt auch als gesellschaftliches Verhältnis zu fassen ist eine sinnvolle Erweiterung des Gewaltbegriffs. Aber wohlgemerkt: Erweiterung, nicht seine Ersetzung.
Der traditionelle Gewaltbegriff hebt auf physische Gewalt ab, die direkt in die körperliche Unversehrtheit eines Individuums eingreift. Der Unterschied zwischen dieser Form von Gewalt und struktureller Gewalt darf nicht eingeebnet werden. Sonst werden in der Nacht eines uferlosen Gewaltbegriffs alle Katzen grau. Es ist und bleibt ein qualitativer Unterschied, ob sich patriarchale Gewalt darin äußert, dass Eltern ihr Kind über ein System aus Belohnungen und nicht-physischen Bestrafungen zu Gehorsam bringen, oder ob sie das mit Prügel erzwingen. Es ist ein qualitativer Unterschied, ob ein Ehemann die traditionelle Rollenteilung lebt, oder ob er seine Frau schlägt oder vergewaltigt. Und es ist ein qualitativer Unterschied, ob ich bei Lidl an der Kasse sitze, unterbezahlt als working poor ausgebeutet werde, oder ob ich mit dem Bajonett im Rücken Zwangsarbeit verrichte.
Auch der Verweis darauf, dass jeden Tag 30.000 Kinder an den Folgen des Kapitalismus sterben, geht hier ins Leere. Als ob von den Steinwürfen in Rostock auch nur ein Kind in Burkina Faso eine Mahlzeit bekäme!
Der auf physischer Gewalt basierende Gewaltbegriff ist darüber hinaus in der Gesellschaft absolut hegemonial. Zurecht, und wir sollten froh sein, wenn dies so bleibt. Daran kann man anknüpfen für die Entwicklung einer emanzipatorische Kultur der Friedfertigkeit. Gewalt ist für fast alle Menschen eine existenzielle Erfahrung. Für die meisten ein Kindheitstrauma. Daher fühlt man sich von Gewalt in besonderem Maße berührt, selbst wenn man sie nur im TV sieht.
Wegen der existentiellen Bedeutung physischer Gewalt stand der Schutz vor dieser Gewalt auch immer an der Spitze der Programmatik emanzipatorischer Bewegungen – und findet sich in allen demokratischen Verfassungen. Die Würde des Menschen besteht zu allererst in der Unverletzlichkeit seiner Person. Von der Erklärung der Menschenrechte der französischen Revolution über die UN-Menschenrechtserklärung bis zum Grundgesetz finden wir das Prinzip: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ (Art. 2,2 GG)
Ob man die Tobin Steuer gut findet oder nicht, ob man für bedingungsloses Grundeinkommen streitet, Oskar mag oder nicht, all das hat Raum in einem linken Pluralismus. Unter den Bedingungen der Bundesrepublik Deutschland anno 2007 physische Gewaltanwendung bei einer Demo zu rechtfertigen, verlässt jedoch den emanzipatorischen Grundkonsens. Das ist „Der Zweck entschuldigt die Mittel“. Das ist Machiavelli, auch Stalin oder Andreas Baader. Für ein wirklich emanzipatorisches Verständnis der Dialektik von Mittel und Zweck ist das nicht akzeptabel. Die Lektion sollten die Linken eigentlich gelernt haben.
Demokratie in der Bewegung
Gewalt übt eine hochambivalente Faszination aus. Gerade wegen dieser Wirkung ist die Versuchung besonders groß, Gewalt politisch zu instrumentalisieren – auf allen Seiten. Man kann damit auf einen Schlag Ziele erreichen, für die man sich sonst in langer Kleinarbeit abmühen müsste. Mit dem Hineintragen von Militanz – der Begriff hat nicht zufällig die gleiche Wurzel wie Militär – in eine soziale Bewegung diktiert man dieser den Charakter der Aktionsformen, ohne sich der Mühe demokratischer Überzeugungsarbeit unterziehen zu müssen.
Zu dieser Leistung sind die Militanten aber keineswegs kraft intellektueller, politischer oder numerischer Stärke in der Lage. So wie beim Judo ein Schmächtiger einen Stärkeren durch die Nutzung von dessen eigener Stärke besiegen kann, so erzielen die Militanten in Wechselwirkung mit dem Polizeiapparat eine Wirkung, die in keinem Verhältnis zu ihrer politischen Bedeutung steht. Weniger nett formuliert, Militanz verhält sich unter den gegenwärtigen Bedingungen parasitär zum staatlichen Gewaltmonopol. Anders als im Sport legen die Militanten allerdings nicht jene, die sie für ihren Gegner halten, aufs Kreuz, sondern die Bewegung, unter deren Schutzmantel sie sich bei Beschwörung der „Einheit“ nach der Demo dann gerne flüchten.
Und die agents provocateurs?
Natürlich gibt es sie, die agents provocateurs. Der NPD-Vorstand war von einem halben Dutzend Verfassungsschutzagenten unterwandert. Deshalb scheiterte das Verbotsverfahren. Und garantiert gibt es sie auch unter schwarzer Kapuze. Bei den Blockadeaktionen wurde einer enttarnt.
Wird damit die Kritik an der Militanz hinfällig? Im Gegenteil. Denn zur Provokation gehören immer zwei. Hätten die Schlapphüte so viel Einfluss auf die Steineschmeißer, müsste man sich erst recht von ihnen distanzieren. Denn die wären dann nicht autonom, sondern nützliche Idioten des Verfassungsschutzes.