2007-06-06 

junge welt: Etwas Mutmachendes

Ein Brief aus dem angeblich verwüsteten Rostock
Von Heike Mai

Ach, Manfred,

hier spielt sich alles noch mal ab, was ich schon 1967/68 und später noch so viele Male erlebt habe. Die Menschen glauben den Me­dienbildern, und ein unglaublicher Haß ist geschürt worden auf die Demonstranten, die doch so bewundernswert gut organisiert in ihren Camps, so selbstlos, so freundlich miteinander und menschenliebend sind. Das müssen sie wohl sein, denn sonst würden sie sich wohl nicht die Mühe machen, tagelang im Kalten auf dem Erdboden zu schlafen, nur um für mehr Gerechtigkeit in der Welt einzutreten. Noch dazu gegen die reichsten Industrieländer der Welt, denen alles gehört, aller Reichtum, alle Staaten, alle Geldreserven, alle Macht, die nur mit dem Finger zu schnipsen brauchen und schon werden für sie Kriege geführt – und gegen diese Mächte stehen die jungen Menschen allen Ernstes auf, wagen das, was keiner wagt, haben dazu nichts anderes als schwarze Kapuzenpullover, verschlissene Jeans, ein Halstuch und einige Steine, die sie nur dann schmeißen, wenn sie angegriffen werden. Ja, sie haben der Spießer Heiligtum berührt, ein Auto. Dafür wollen diese sie nun hängen sehen. Ach, sie erkennen nicht, was Freund und was Feind ist, sie lassen sich aufbringen, gegen die, die ihre Interessen in Wahrheit verteidigen.

Aber die anderen haben so ihren Zaun gerechtfertigt.

In meinem Dorf und auf meiner Arbeit schreien sie genauso, wie die Bild titelt: »Wollt ihr Tote, ihr Chaoten?!« In meinem Dorf sagte heute einer (Hilfsarbeiter, hat bis vor einigen Jahren noch PDS gewählt): »Wenn du mich fragst, Wasserwerfer drauf, zusammenschieben und dann anzünden, das ganze Gesocks« und dabei wird mir die ganze Medienpropaganda ins Ohr geschrien, die ich heute morgen am Kiosk auf großen, rußgeschwärzten Bildern sah. Hat man je einen so schreien hören, als arme und schwarzhäutige Menschen ermordet wurden von rechten Jugendlichen, die sich nur mal einen Spaß machen wollten, die allerdings, nur so zum Spaß versteht sich, weitaus mehr bewaffnet waren als diese? Ach, in Deutschland zählt ein brennendes Auto soviel mehr als ein Mensch. Und Polizisten sind heiliggesprochen, sie darf man niemals berühren, für sie stehen alle auf und wollen sie schützen, denn die Ärmsten haben immer »die Arschkarte gezogen«. Warum eigentlich, kann man sich keinen menschenfreundlicheren Beruf aussuchen? Aber das medienaufgehetzte Volk denkt sich die Welt voll düsterer Rohlinge und die Polizisten als die einzigen Menschenfreunde. Und in Deutschland, da wäre auch jeder gern mal so einer und könnte anderen etwas sagen, und niemand soll ihm dann etwas tun dürfen. Und der es täte, bekäm’s gleich hundertfach zurück, das wär nur gerecht, da halten alle zusammen.

Oh je, alles ist noch genauso leicht faschistisch aufzuheizen, wie früher, wie damals, wie immer schon so lange Zeit im obrigkeitstreuen teutschen Lande. Soll das demnächst den Waffeneinsatz rechtfertigen? Es scheint so.

Aber heute stand dazu ein guter Artikel in der Zeitung: Die Offensivität, mit der der schwarze Block gehandelt hat, ist auch etwas Mutmachendes, natürlich hatten die Bullen angefangen, ich habe es selbst gesehen, mit hoch erhobenen Händen sind die Menschen nebeneinander gehend auf die Polizisten losgegangen, das waren junge Leute, auch aus dem schwarzen Block, haben den Polizisten zeigen wollen, wir haben nichts, machen nichts, laßt uns in Frieden. Dann aber ging es trotzdem los, die Polizisten prügelten, liefen rein, schlugen bevorzugt Frauen – und die Demonstranten reagierten – einmal anders als durch Ducken und Kriechen, einmal anders als durch Stillhalten und Festnehmenlassen, einmal anders als durch Weinen und Schreien, einmal nicht mit Hilflosigkeit.

Ja, und das war wohl auch vorbereitet. Aber die jungen Mädchen haben ihre Väter und Onkel bei der Polizei, den Bruder und Freund bei der »Armee«, was sollen die sagen? Der soll dann lieber seine Waffe ziehen, das sagen sie und andere sagen, man solle eben nicht hingehen auf sowas, wenn man friedliche Absichten habe, da bräuchte man kein Tuch vor dem Mund und keine Einkaufswagen voller Steine.

So sieht’s hier aus. Dabei war das gesamte, angeblich so verwüstete Rostock schon eine Viertelstunde nach der Eskalation, die sich in einer Seitenstraße abseits des Geschehens abspielte, friedlich, ruhig, gemütlich. Überall ziehen liebe Menschen mit Rucksäcken durch die Straßen, suchen nach Eßbarem, und finden sich vor mit Brettern vernagelten Läden, eine tote Stadt, in der Zehntausende demonstrieren, hin und her gehen, etwas suchen, trommeln, singen, lachen und tanzen, aber niemand sieht sie, die Stadt ist ausgestorben schon am ersten Tag, für die Augen der Medien »verwüstet«, an den Ecken meist mit gelangweilt herumstehenden Polizisten übervölkert, die Ohrclips tragen, damit sie nicht hören, wie gut und friedlich gesprochen wird, die meisten übrigens nicht in Kampfmonitur. Und dazu einem Radiofunk, der von Stunde zu Stunde die umliegende Bevölkerung mehr gegen die jungen Menschen aufbringt.

Ich grüße Dich,

Heike

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