2007-06-21
Welche Menschenwürde? Nicht nur die Polizeigewalt in Rostock gefährdet das Grundgesetz
Von Edeltraut Felfe
Am zweiten Juni kreiste über dem Rostocker Stadthafen während der Kundgebung der etwa 80000 Demonstranten gegen die G-8-Politik ein Hubschrauber, so daß ich die Redner auf der Tribüne nur teilweise verstehen konnte. Etwas später heulten Polizei- und Feuerwehrsirenen, ein paar Meter von uns am Straßenrand stieg eine schwarze Rauchwolke auf, und dann traten Wasserwerfer in Aktion, nicht auf den Brandherd gerichtet, sondern auf die Kundgebungsteilnehmer in der Nähe der Tribüne.
Mittlerweile sind massenweise Verletzungen grundgesetzlich verankerter Bürgerrechte dokumentiert. Die »unantastbare Menschenwürde« aus Art.1 Grundgesetz wurde buchstäblich mit Füßen getreten. Im Zusammenhang mit dem G-8-Gipfel wurde der Rechtsstaat systematisch eingeschränkt.
Meinungsmache
Neben den ständigen Verletzungen des Grundgesetzes durch Polizei, Justiz, Gesetzgebung soll eine entsprechende »öffentliche Meinung« erzeugt und sollen legale Wege zur schrittweisen ganzheitlichen Anpassung des Grundgesetzes an veränderte Kräfteverhältnisse und Strategien des Kapitals eröffnet werden.
Eine wichtige Rolle kommt dabei der Interpretation des Art.1, Abs.1 Grundgesetz zur »Unantastbarkeit« und zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde durch alle staatliche Gewalt zu. 2003 hat der Richter am Bundesverfassungsgericht Matthias Herdegen im Gegensatz zur bisherigen Kommentierung zu Art.1, Abs.1 im führenden Grundgesetz-Kommentar der Bundesrepublik ausgeführt, daß »der absolute Vorrang des Würdeanspruchs gegenüber kollidierenden Grundrechtsbelangen« nicht länger durchzuhalten sei. Insbesondere könne die Menschenwürde vor dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art.2, Abs.2) keinen unbeschränkten Vorzug genießen (Maunz/Dürig 2003, Randnummern 20, 22, 26). Nun war ja die Menschenwürde auch zuvor nicht unantastbar, aber Art. 1, Abs.1 galt als oberstes Verfassungsprinzip und Grundlage ihres Wertesystems. Menschenwürde sollte durch die anderen Grundrechte konkretisiert und ausgefüllt, nicht relativierbar und nicht gegen ein anderes Grundrecht abwägbar oder einschränkbar sein.
Würde abschaffen
Mit der neuen »Abwägungsoffenheit« hat Herdegen selbst Folter, Verabreichung von Drogen etc. nicht mehr als Verletzung des »Würdeanspruchs« charakterisiert, wenn es letztlich um Schutz von Leib und Leben Dritter ginge (Randnummern 90, 45). Der an der Bundeswehruniversität in München lehrende Michael Wolffsohn sprach sich öffentlich dafür aus, Folter als Mittel »im Kampf gegen den Terrorismus« zu legitimieren. Er durfte weiter lehren. Freilich werden auch andere Auffassungen geäußert. Für den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, ist jede Form von Folter unvereinbar mit der Menschenwürde. Doch diese »Debatte« wird weitergeführt. Es gibt auch »Diskussionen« um die »fehlende Personalität«, das heißt um die damit fehlende Menschenwürde von behinderten Säuglingen. In diesen inhumanen Bemühungen, die Menschenwürde im Grundgesetz neu zu interpretieren, verbindet sich die Aushöhlung des Rechtsstaates mit dem Abbau des Sozialstaates: ein Nachvollzug der realen gesellschaftlichen Entwicklung. So schreibt der Richter des Bundesverfassungsgerichts Udo Di Fabio in seiner Einführung zu einer neuen Ausgabe des Grundgesetzes (dtv, Sonderausgabe 2007): »Die Würde des Menschen ist kein Argumentationsschatz, aus dem man sich beliebig bedienen kann, etwa um einen gut ausgebauten Sozialstaat, Mindesteinkommen oder staatlich befohlene Solidarversicherungen zu verlangen...«.
Sozialstaat entsorgen
Der »Sozialstaat« wird dann auch nicht – gemäß der noch herrschenden Auffassung – als eine im Rahmen dieses Grundgesetzes nicht aufhebbare – Fundamentalnorm charakterisiert. Dies korrespondiert mit dem gegenwärtig vorliegenden Entwurf des Verfassungsvertrages für die EU, der laut Di Fabio »womöglich« Änderungen des Grundgesetzes nahelege.
Das Menschenbild des Grundgesetzes sei dadurch bestimmt, daß sich jeder in einer freien und offenen Gesellschaft eigenverantwortlich und risikofreudig die notwendigen Mittel selbst beschaffen müsse, um gut zu leben. Freiheit, Bürgerstolz und das Selbstbewußtsein moderner Individualität seien die Idee der Grundrechte, und ihr dürften auch demokratische Mehrheiten keinen Schaden zufügen. Mit den Grundrechten könnte auch »die Mehrheitsentscheidung der Volksvertretung in die Schranken verwiesen werden, damit ein ausreichender Raum an freier Entfaltung der Bürger in der Gesellschaft bleibt«. (Di Fabio) Folgerichtig werden also selbst grundgesetzliche formal-demokratische Gestaltungsprinzipien des Staates in Frage gestellt. Je mehr das Grundgesetz selber gefährdet ist, desto deutlicher wird seine Wichtigkeit für demokratische und soziale Kämpfe.
[http://www.jungewelt.de/2007/06-16/012.php]