2007-06-05
BERLIN/ROSTOCK/HEILIGENDAMM
(Eigener Bericht) - Mit umfassenden Grenzkontrollen riegelt Deutschland den freien Zugang zu Protesten gegen den morgen beginnenden G8-Gipfel ab. Nach Informationen dieser Redaktion wurden bis Mitternacht etwa 800.000 Reisende erfasst. Eine unbekannte Anzahl ausländischer Besucher ist verhaftet worden, anderen bleibt der Aufenthalt in der Bundesrepublik untersagt. Am G8-Tagungsort wurde ein faktisches Demonstrationsverbot verhängt. Oppositionelle sollen 24 Stunden vor Erscheinen an beabsichtigten Demonstrationsplätzen ihre Personalien der Polizei übergeben. Gruppierungen von mehr als 15 Personen werden am Sperrzaun vor dem Tagungsgelände nicht geduldet. In eigens eingerichteten Auffanglagern warten polizeiliche Spezialkräfte auf die Festsetzung großer Menschenmengen. Die Unterdrückung von Grundrechten führt zu Gewaltexzessen. Wie Presseaufnahmen zeigen, gehen staatliche Greiftrupps im Sturmschritt gegen passive Demonstrantengruppen vor und treten auf hilflose Personen ein. Teile der deutschen Regierung verlangen eine Verschärfung des Repressionskurses, der ein Schlaglicht auf den inneren Zustand der Bundesrepublik wirft.
Ungeschnittene Videobänder vom Montag zeigen polizeiliche Greiftrupps in martialischer Uniform, die gegen passive Demonstranten vorgehen.[1] Die im Laufschritt vorstürmenden Uniformierten dringen in Ansammlungen ein und versuchen Festnahmen durchzusetzen. Trotz erhobener Hände oder deutlicher Distanzgebärden werden Personen zu Boden geworfen und geschlagen. Soweit auf den Videobändern erkennbar, handelt es sich um Einsatzgruppen und Sonderkommandos der Berliner Polizei mit den Kennzahlen 24.
Hysterisierung
Institutionelle Provokationen im Vorfeld der Proteste vom Wochenende heizen die Atmosphäre seit Tagen auf. So wird die freie Zufahrt in Richtung Rostock (Bundesland Mecklenburg-Vorpommern) durch Polizeisperren behindert, Fahrzeuge können nicht passieren, Insassen müssen sich langwierige Kontrollen gefallen lassen. Ein aus Hamburg kommender Personenzug wurde gestoppt, da die Reisenden "massiv auffällig geworden seien", heißt es in der deutschen Presse verharmlosend über die Unterdrückung der Freizügigkeit.[2] Wer die Demonstrationsorte trotzdem erreicht, sieht sich mit niedrig fliegenden Hubschraubern konfrontiert, deren Rotorenlärm Ansprachen der Veranstalter unmöglich macht und zur Hysterisierung der Polizeitrupps maßgeblich beiträgt. Demonstranten werden stundenlang eingekesselt. Es kommt zum wiederholten Einsatz von Wasserwerfern und Tränengas.
Prügelorgien
Zur Eskalation trägt auch die Pressepolitik der Berliner Regierung bei. Nachdem Berichterstatter von den deutschen Geheimdiensten sogenannten Sicherheitsüberprüfungen unterzogen wurden und anschließend ihre Akkreditierung verloren [3], werden die zugelassenen Pressevertreter jetzt mit teils einseitigen, teils dramatisierenden Informationen versorgt. Über die Anzahl der Demonstrationsteilnehmer bringen die Verantwortlichen Ziffern in Umlauf, die einer objektiven Nachprüfung nicht standhalten und das Protestpotential zu minimieren suchen. Umgekehrt nennen die behördlichen Pressestäbe hohe Zahlen, sobald von verletzten Polizisten die Rede ist. Verlautbarungen über nicht-staatliche Opfer werden den Demonstranten überlassen. Diese konfrontative Pressepolitik mit deutlichem Gegnerprofil zielt nicht nur auf die deutsche Öffentlichkeit; gleichzeitig wird das eigene Repressionspersonal angesprochen. Nachrichten über angebliche Opfer unter den Beamten sind geeignet, staatliche Gewalttäter stärker zu motivieren und ihre Hemmschwellen zu senken. Diese Eskalationsmethode wurde von der deutschen Polizei in der Vergangenheit mehrfach eingesetzt und begünstigte Prügelorgien und Schusswaffengebrauch gegen friedliche Demonstranten.[4]
Gewaltpotentaten
Möglichen Todesopfern bei den kommenden G8-Protesten greifen die deutschen Medien bereits vor. So heißt es in einem Kommentar des "Kölner Stadt Anzeiger", es sei "nur ein glücklicher Zufall", dass am 2. Juni 2007 in Rostock "kein Polizist von Demonstranten ermordet wurde".[5] "Wollt ihr Tote, ihr Chaoten?", titelt die Boulevardpresse. Diese fantasiereichen Projektionen heizen die Auseinandersetzungen weiter an. Besondere Aufmerksamkeit gilt ausländischen Teilnehmern, von denen eine besondere Gefahr auszugehen scheint. Sie seien "aus allen Ecken Europas angereist" [6], so "aus Italien, Belgien, Polen und den Niederlanden". Die Anwesenheit von "Ukrainern" und "Russen" wird als auffällig beschrieben. "16 Ausländer aus zwölf Staaten" habe man festnehmen müssen, schreibt die Berliner Hauptstadt-Presse. Einzelne Protestgruppen werden mit "Terroristen" verglichen, deren Verhalten "die Demokratie" bedrohe. Unberücksichtigt bleibt die weit verbreitete Empörung über das G8-Treffen, dessen Teilnehmern offene Wut entgegenschlägt. Als Repräsentanten der großen Industrienationen haben sie Kriegsereignisse mit unzähligen Todesopfern und das tägliche Ende Hunderter Hungernder zu verantworten. Angesichts des Zusammentreffens dieser Gewaltpotentaten in Heiligendamm wird der Aufruf zur Friedfertigkeit von etlichen Teilnehmern der G8-Proteste als Heuchelei empfunden.
Die alte Tölpelei
Bereits jetzt zeichnet sich ab, dass der G8-Gipfel keines seiner angeblichen Ziele realisieren wird und in ein innenpolitisches Fiasko übergeht. Die überbordende Repression führt zu Auseinandersetzungen zwischen den Regierungsparteien und entwertet das Schaubild von den friedlichen Zuständen in der deutschen Musterdemokratie. Wie es in mehreren Berichten deutscher Diplomaten im Ausland heißt, ist der Eindruck in den Gastländern "negativ" bis "katastrophal". In Deutschland, schreibt der Londoner "Independent", kehrt eine "Polizeistrategie der harten Hand" zurück - "die alte, deutsche Tölpelei".[7]
[1] Erneut Zusammenstöße zwischen Polizei und Autonomen - vier Festnahmen; Spiegel TV, 04.06.2007, 18:43 Uhr
[2] Randale in Rostock - 430 verletzte Polizisten; Spiegel online 02.06.2007
[3] s. dazu Nationaler Sicherheitsrat
[4] "Zynischer ging's nicht"; Süddeutsche Zeitung 02.06.2007
[5] Franz Sommerfeld: Rostock und die Demokratie; Kölner Stadt-Anzeiger 03.06.2007
[6] Ein Tag, der eigentlich ganz friedlich begann; Berliner Morgenpost 02.06.2007
[7] Pressestimmen: "Deutsche Tölpelei"; Der Standard 05.06.2007