2007-06-10 

junge Welt: »Priorität hat stets die Ereignisnähe«

Warum Fernsehjournalisten in ihren Berichten zum G-8-Protest häufig zur Ordnungsmacht halten. Ein Interview mit Martin Kessler
Interview: Gitta Düperthal
Martin Kessler ist Dokumentarfilmer, freier Fernsehjournalist aus Frankfurt am Main und Autor von »Neue Wut«

Wie kommt es, daß die Wahrnehmung von aktuell berichtenden Fernsehjournalisten oft auf die Polizeiversion hinausläuft?

Ich möchte das an einem Beispiel schildern. Selbst der Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele sagt, daß er nach dem G-8-Gipfel 2001 in Genua vermutete, daß verdeckte Provokateure von der Polizei unter den Demonstranten waren. Was sich im Nachhinein bestätigte. Ströbele und andere halten das auch in bezug auf Rostock für möglich und fordern eine intensive Untersuchung. Die Frage ist, warum werfen eigentlich Journalisten hierzulande nicht ein kritischeres Auge auf solche Vorgänge und recherchieren. Meiner Ansicht nach gibt es folgendes Problem: Aktuell berichtende Fernsehjournalisten müssen ständig die Themen wechseln. Priorität hat stets nur die Ereignisnähe. Viele haben sich beispielsweise mit politischem Widerstand, zivilem Ungehorsam und demokratischem Protest nicht wirklich auseinandergesetzt. Oft fehlt das Hintergrundwissen, die Zeit für Recherchen und die kritische Sichtweise.

Mißtrauen Globalisierungskritiker grundsätzlich den Journalisten?

Wer heute auf eine Demonstration geht, wird permanent von der Polizei gefilmt. Dadurch haben viele schon eine Art Video-Kamera-Phobie. Hinzu kommen Ängste, daß jemand mit der Kamera in der Hand und dem Presseausweis um den Hals nicht unbedingt Journalist ist. Zudem verstehen einige Pressevertreter nicht, daß solche Demonstrationen sich häufig in einer spontanen Weise organisieren. Wenn die Leute in den Camps beim G 8 ihre Vorgehensweise diskutieren, wollen sie nicht, daß Medien dabei sind. Leute, die sowieso schon Verfahren am Hals haben, weil sie beispielsweise in der Auseinandersetzung um Studiengebühren Autobahnen blockiert haben, möchten nicht gefilmt werden. Sie befürchten, erneut kriminalisiert zu werden. Das muß man respektieren. Hinzu kommt, wenn Journalisten wie etwa bei »Heute« im ZDF zu den Rostocker Ereignissen nur die Zahlen der Polizei wiedergeben, wird das als unfair empfunden. In der Sendung hieß es, lediglich 25000 Demonstranten seien zum G-8-Protest gekommen. Das wurde als objektive Tatsache hingestellt. Die Zahl von 80000, die die Veranstalter benannten, wurde gar nicht erwähnt.

Sind die Beamten nicht informiert, welche Rolle die Presse hat?

Ich habe den Eindruck, das ist immer weniger der Fall. Genauso wie zahlreiche Kollegen habe ich erleben müssen, daß gezielte Regelverstöße gegenüber Pressevertretern seitens der Polizei erfolgten. Journalisten werden anscheinend gezielt mit Kameras beobachtet, die Aufnahmen werden offenbar polizeilich ausgewertet. Oft wurden wir geschubst, verbal bedroht und bei unserer Arbeit behindert. Es gab Bemerkungen wie »Sie sind mir schon viermal unangenehm aufgefallen«, in dem Sinn, daß man auf seine Rechte mehrfach beharrt hat.

Einige Reporter klagten über Übergriffe von Demonstranten.

Wenn das passiert, finde ich dies nicht in Ordnung. Auch einigen Demonstranten scheint die Rolle der Presse nicht klar zu sein. Auf der anderen Seite muß man verstehen, daß viele durch die ständigen Beobachtungen durch die Polizei emotional aufgeheizt sind. Gerade nach der teilweise einseitigen Berichterstattung über die Ereignisse in Rostock hatten viele Demonstranten das Vertrauen in eine faire Berichterstattung verloren. Denn sie fanden sich selbst und ihre Inhalte nicht wieder.