2006-01-25 

25.1.2006 Genua

- Erste deutsche Zeugen in Genua
- Zweiter Auftritt in Genua
- Ich entschuldige mich für den Toten von Genua
- "Ich bin nur ein Mensch - wie Jesus ein Mensch war"

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Erste deutsche Zeugen in Genua

Prozess gegen 28 Polizeibeamte wegen Misshandlung von Gipfelgegnern geht weiter ROM taz Mit der Anhörung eines britischen Journalisten und voraussichtlich zweier deutscher Zeugen geht heute der Prozess gegen 28 Polizisten in Genua weiter. Die Beamten sind angeklagt, am Rande des G-8-Gipfels von Genua am 21. Juli 2001 beim Sturm auf die von Gipfelgegnern als Schlafstätte genutzte Diaz-Schule zahlreiche Demonstranten misshandelt und einige schwer verletzt zu haben. Zudem haben die Einsatzleiter Beweise gefälscht: Sie brachten zwei Molotowcocktails mit, die sie dann in der Schule gefunden haben wollten, waren aber von einem Fernsehteam gefilmt worden.
Der mitternächtliche Einsatz war von großer Brutalität geprägt. Mehrere hundert Polizisten waren in die Schule eingedrungen, hatten die schon Schlafenden zusammengeknüppelt und in den Treppenhäusern eine wahre Menschenjagd veranstaltet. Am Ende mussten mehr als 60 Personen in Krankenhäuser eingeliefert werden. Einige waren - mit Lungenrissen, Schädelprellungen, ausgeschlagenen Zähnen, Rippen- und Armbrüchen - schwer verletzt.
Gegen 93 Personen wollte die Polizei Haftbefehl erwirken: Der Fund der Mollis wurde zum "Beweis", dass in der Schule eine "kriminelle Vereinigung" genächtigt habe. Schnell aber stellte sich heraus, wer die wirklichen Täter waren bei diesem Schlusspunkt unter die polizeiliche Gewaltorgie von Genua, der auch der von einem Beamten erschossene Carlo Giuliani zum Opfer gefallen war.
Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage gegen 28 Polizisten. Seit Wochen nun laufen die Zeugenvernehmungen. Am letzten Mittwoch sagte eine Britin aus, wie sie und ihr Freund am Boden liegend zusammengeschlagen wurden. Das Mädchen trug einen Armbruch davon und ist wegen Angstzuständen noch heute in psychologischer Behandlung.
Heute nun soll zunächst der britische Journalist Mark Covell zu Wort kommen. Er war der Polizei noch vor dem Sturm auf die Schule auf offener Straße in die Hände gefallen. Obwohl er keine Gegenwehr leistete, wurde er zusammengeknüppelt und -getreten. Covell schwebte im Krankenhaus mehrere Tage zwischen Leben und Tod. Nach ihm sollen dann auch die ersten der 46 deutschen Zeugen vernommen werden, um über ihre Erlebnisse in der Schule zu berichten.
Angesichts der mehr als eindeutigen Beweislage dürfen die Angeklagten kaum auf Freisprüche hoffen. Eine letztinstanzliche Verurteilung müssen sie aber nicht befürchten: Die von Berlusconi durchgesetzte Verkürzung der Verjährungsfristen dürfte dem Verfahren spätestens nach der ersten Instanz den Garaus machen.

taz vom 25.1.2006

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Zweiter Auftritt in Genua

Im Prozess um die Übergriffe von Polizisten beim G-8-Gipfel in Genua vor mehr als vier Jahren sagen ab heute Berliner Demonstranten aus. Einige von ihnen wurden damals brutal verprügelt

Im Prozess um die blutigen Ausschreitungen am Rande des G-8-Gipfels in Genua vor viereinhalb Jahren sagen ab heute 20 Berliner Globalisierungskritiker aus. Angeklagt sind 28 italienische zum Teil hochrangige Polizisten wegen schwerer Körperverletzung, widerrechtlicher Durchsuchung und Nötigung. Die Beamten müssen sich verantworten für einen Prügel-Überfall auf globalisierungskritische Gruppen in der Genueser Diaz-Schule in der Nacht des 21. Juli 2001. Damals stürmten vermummte Polizeieinheiten das Gebäude, in dem die Demonstranten übernachteten, verprügelten sie und verletzten 61 schwer. Bis zum 13. März werden in Genua insgesamt 49 deutsche Zeugen vernommen.
Im Februar wird die Berlinerin Kirsten Wagenstein vor dem Gericht aussagen. "Nach all der Vertuschung und des Hinhaltens wollen wir zeigen, dass wir nicht locker lassen", sagt die 37-jährige Journalistin. Sie hielt sich während des Polizeieinsatzes in der Schule auf, blieb aber unverletzt, weil sie in eine Besenkammer flüchten konnte. Von dort habe sie Schläge und die Schreie der Verletzten gehört: "Nach einer halben Stunde haben sie mich aus meinem Versteck gezerrt." Ihr bot sich ein schreckliches Bild: "Sanitäter waren gekommen, überall war Blut, auf dem Boden lagen Verletzte."
Einer von ihnen war Daniel Albrecht. Mit Knüppeln habe ihn die Polizei blutig geprügelt, erzählt der 26-jährige Berliner. Eine schwere Hirnblutung, Operation und zehn Tage Krankenhaus waren die Folgen. Weil er so stark verletzt wurde, hat ihn das Gericht bereits im November vernommen. "Auch wenn die Verteidigung unsere Glaubwürdigkeit anzweifelt, glaube ich, dass der Prozess aufdecken wird, was damals wirklich passiert ist", sagt Albrecht. "Wir sind einfach zu viele gute Zeugen."
Miriam Braermann ist sich da nicht so sicher. Sie hat durch die Ereignisse ihren Glauben an rechtsstaatliche Strukturen verloren, sagt die 26-Jährige. Sie blieb damals unverletzt. "Ich habe mich so ohnmächtig und gleichzeitig schuldig gefühlt, dass mir nichts passiert ist." Braermann wird im März nach Genua fahren, um auszusagen.
Die Zeugenaussagen zwingen die Betroffenen dazu, sich genau zu erinnern - an die Bilder, die sie am liebsten aus ihrem Kopf verbannen würden. "Ich habe drei Monate lang mit anderen aus der Diaz-Schule ein Anti-Trauma-Training gemacht", erzählt Wagenstein. Auch Albrecht leidet noch unter Albträumen. Mit einer Entschädigung rechne er nicht. Trotzdem lohne sich der Weg nach Genua. "Wenn die Polizisten verurteilt werden sollten, ist das eine echte Genugtuung."
Auch Mitglieder des Bundestages zeigen Interesse am Prozess. Einige wollen nach Genua fahren, unter ihnen Anna Lührmann (Grüne) und Paul Schäfer (Linkspartei). Den Prozess vor Ort beobachten wird auch der Politologe Wolf-Dieter Narr vom Komitee für Grundrechte und Demokratie. Er hält die Vorfälle in der Schule "menschenrechtlich für einen Skandal".

taz Berlin lokal vom 25.1.2006, S. 24, 101 Z. (TAZ-Bericht), SANDRA COURANT

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Ich entschuldige mich für den Toten von Genua

Falscher Berlusconi nimmt in Davos Preis für seinen Ministerpräsidenten entgegen Silvio Berlusconi erhält heute am Rande des Weltwirtschaftsforums in Davos den Pinocchio-Preis für unverantwortliches unternehmerisches Handeln. Sein Doppelgänger Maurizio Antonini, 63, spricht die Dankesrede.

25.1.2006 taz

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"Ich bin nur ein Mensch - wie Jesus ein Mensch war"

Silvio Berlusconi erhält heute auf einer Gegenveranstaltung zum Weltwirtschaftsforum in Davos den Public Eyes Award. Erstmals wird ein führender Politiker in Europa als unverantwortlichster Unternehmer des Jahres ausgezeichnet. Stellvertretend für den italienischen Ministerpräsidenten nimmt Maurizio Antonini den Preis entgegen. Die taz dokumentiert vorab seine Dankesrede

Verehrte Gäste des Weltwirtschaftsforums in Davos, sehr geehrte Damen und Herren.
Ich bin sehr froh, hier in Davos zu sein. In den nächsten Tagen werden wir - im engen Austausch zwischen Politik und Wirtschaft - die aktuellen Herausforderungen unseres Planeten diskutieren und wichtige und richtungweisende Entscheidungen für die Zukunft treffen.
Das Weltwirtschaftsforum versucht als eine der wenigen internationalen Veranstaltungen nicht die künstliche und verlogene Trennung zwischen Wirtschaft und Politik. Sondern sie bringt die politischen und wirtschaftlichen Führer an einen Tisch und lässt sie ohne bürokratische Kontrollgremien in Ruhe über die Themen unserer Zeit reden und wichtige internationale Geschäfte abschließen.
Das entspricht einem zeitgemäßen und richtigen Bild von Politik und Wirtschaft. Denn Politik und Wirtschaft sind keinesfalls konkurrierende Konzepte, sondern sich gegenseitige wunderbar befruchtende Disziplinen. Die erfolgreiche Zukunft der westlichen Welt, aber auch der internationalen Staatengemeinschaft liegt deshalb maßgeblich in der erfolgreichen Kooperation. Politik und Wirtschaft sollten Komplizen sein.
Und um diese zeitgemäße unternehmerische Verantwortung der Politik bzw. die zeitgemäße politische Verantwortung der Wirtschaft geht es nicht nur auf dem Weltwirtschaftsforum, sondern auch auf dieser kritischen Gegenveranstaltung - dem Public Eye Awards 2006. Hier werden heute besonders unverantwortliche Unternehmen hervorgehoben. Diese Awards und Ihr aller Engagement dafür sind eine sehr wichtige und gute Sache. Die Welt soll von den Ungerechtigkeiten einiger schwarzen Schafe der internationalen Wirtschaft erfahren. Diese schwarzen Schafe darf man allerdings nicht mit der allgemeinen Realität verwechseln. Schwarze Schafe gibt es überall. In unserer internationalen Wirtschaftswelt sind sie allerdings, Gott sei Dank, die Ausnahme. Und sie sind keinerlei Beweis dafür, dass die zunehmende Verquickung von Politik und Wirtschaft etwas Schlechtes ist. So wie es viele Linke und Globalisierungskritiker heute behaupten. Im Gegenteil führt der wirtschaftliche Eigennutz eines jeden bekanntermaßen in der Summe zu einem politischen Gleichgewicht. Und eine klare politische Linie ermöglicht es jedem einzelnen, seinen Eigennutz ohne Schaden für Dritte zu optimieren.
In den letzten Jahren musste ich immer wieder die gleichen Vorwürfe aus dem Lager der Linken hören: "Berlusconi ist nur an der Macht, um seine eigenen Interessen durchzusetzen und sein Imperium zu vergrößern." Oder "Berlusconi hat in seiner Regierungszeit ein Vermögen von 29 Milliarden Euro angehäuft und ist damit unter den sieben reichsten Männern der Welt!" Aber was soll das heißen? Dass ein Politiker vom wirtschaftlichen Erfolg ausgeschlossen bleiben muss? Dass es eine Sünde ist, wenn die eigenen Firmen um jährlich 30 Prozent wachsen und die Wirtschaft des Landes nur um 0,1 Prozent? Hier zeigen sich der Neid der Linken und ihr fehlendes Verständnis für wirtschaftliche Zusammenhänge. Denn wie können solche Zahlen stimmen? Wie kann Italiens Wirtschaft auf der Stelle treten, während der mit Abstand reichste Mann des Landes sein wirtschaftliches Ergebnis mehr als verdoppelt? Diese ideologisch gefärbte Rechnung stimmt hinten und vorne nicht.
Aber ich bin nicht hierher gekommen, um italienischen Wahlkampf zu betreiben. Das habe ich nicht nötig. Ich bin hierher gekommen, um Ihnen als Zeichen des Dankes für den Public Eyes Award 2006 zu beweisen, dass ich sehr wohl die Verantwortung für mein Handeln übernehme. Denn als verantwortungsvolle Führungsperson nehme ich meine Verantwortung sehr ernst und lerne aus meinen Fehlern.
Ich gebe Ihnen ein ehrliches Beispiel: Mit dem Abstand von über vier Jahren muss ich heute sagen, dass die Polizeistrategie der repressiven Deeskalation während des G-8-Gipfels in Genua falsch war. Damals war ich davon überzeugt, dass eine einschüchternde Polizeimacht die beste Möglichkeit war, um die Proteste im Keim zu ersticken und eine Gewaltspirale zu verhindern. Das sehe ich heute anders. Die Gewalt der Polizei in Genua war falsch. Ich entschuldige mich für den Toten von Genua. Ja, ich bitte Sie dafür um Verzeihung, die ganze Welt und Gott - weil ich ein Mensch bin, so wie Jesus ein Mensch war, und weil jeder Mensch das Recht hat, zu fehlen.
Als verantwortungsvolle Führungsperson übernehme ich Verantwortung und ziehe meine Konsequenzen. Diese verantwortungsvolle Führerschaft verlange ich aber auch von allen anderen politischen und wirtschaftlichen Führern, ob links oder rechts, ob erfolgreich oder nicht. Denn wenn alle die Verantwortung für ihr Handeln übernehmen, dann werden wir die Herausforderungen der Zukunft gemeinsam meistern. Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen.

25.1.2006 taz tazzwei