2007-06-05 

[a:ka] göttingen: Unten bleiben!

Warum Kommunisten beim Anti-G8-Gipfelsturm nichts verloren haben

"Die Aktualität des Kommunismus behauptet sich in der Wahrheit, daß es keine Ermächtigung ist, das Falsche zu tun, nur weil das Richtige nicht, noch nicht, gehen mag. Der Kommunismus, daran gehindert von der theoretischen in die praktische Kritik von Kapital und Staat umzuschlagen, findet seine unfreiwillige Praxis in der Denunziation des Falschen."

ISF Freiburg
Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, was vor dem G8-Gipfel in den Köpfen der Sportfraktion vor sich geht: Da laufen heroische Filme ab von vergangenen Riots in Prag, in Stockholm oder in Genua; da entstehen Bilder von der schönsten Randale, der Konfrontation mit den Bütteln des Weltkapitalismus, der größten Medienöffentlichkeit, die Linke sich nur wünschen können.

Klügere Antifagruppen haben schon angemerkt, dass bei all der Vorfreude auf den großen Knall die Reflexion nicht vollständig geopfert werden sollte, dass schließlich nicht acht Staats- und Regierungschefs den Kapitalismus machten, und dass es - horribile dictu - gar antisemitisch sei, sich den Sturm auf das Großkopferten-Meeting als Sturm auf das Kapital als gesellschaftliches Verhältnis zurechtzubiegen. Aber auch die Kritiker einer allzu platten Globalisierungskritik finden noch Gründe, warum es trotzdem sinnvoll und wichtig sein soll, sich in Heiligendamm mit den anwesenden Uniformierten zu prügeln.
Auch wir haben uns entschieden, zum Boykott aufzurufen - aber nicht zum Boykott des Gipfels, sondern des Widerstands. Die Forderung lautet: Unten bleiben! Kommunisten und andere Kritiker der falschen Gesellschaft haben beim Gipfelsturm nichts verloren! Wir wollen diese Haltung begründen und beginnen mit der Kritik des Kapitals. Denn die ist von der Kritik seiner falschen Gegner nicht zu trennen.

"Das Ganze ist das Unwahre"
T.W. Adorno

" Das Ganze ist das Unwahre" - Dieser Satz von Adorno ist wohl einer der meistzitierten und am häufigsten missbrauchten der Kritischen Theorie. In linken Flugblättern findet man ihn vorzugsweise ohne Erwähnung des Kontextes, in den er von Adorno gestellt wurde, und ohne diesen Kontext verkommt er zur Binsenweisheit. Bei Adorno ist der Satz eine Replik auf den Schluss aus Hegels dialektischem System, wonach das Wahre das Ganze sei; die Synthese also von Besonderem und Allgemeinem, von Individuum und Gesellschaft. Adorno hält Hegel entgegen, dass das Besondere in dieser Konstellation untergehe, die Individuen zur Existenz als Anhängsel der Gesellschaft verurteilt seien. Konkreter: Nicht der Einzelne und sein Glück sind Zweck kapitalistischer Gesellschaft, sondern das Kapital kennt als Zweck nur die Verwertung des Werts, deren Stoffwechsel den Menschen zwar als Arbeitskraftbehälter und Konsumenten braucht (ganz so, wie sie Maschinen und Supermärkte braucht), die ihn aber überflüssig macht, wenn sie für seine Arbeitskraft keine Verwendung hat und er kein Geld, um am Konsum teilzuhaben. Die bürgerliche Gesellschaft, auch die spät- oder postbürgerliche, ist deshalb keine menschliche im doppelten Sinne des Begriffs: Zum einen ist eine Gesellschaft, für die Hunger kein Grund zur Produktion ist, beim besten Willen nicht als human zu bezeichnen. Zum anderen sind es nicht die Menschen, die ihre Verhältnisse beherrschen; die Verhältnisse beherrschen statt dessen die Menschen - weder ihre Gegenwart noch ihre Zukunft liegen wirklich in ihrer Hand.
Das Kapital kann bei Strafe des eigenen Untergangs nicht aufhören, Reichtum anzuhäufen und gleichzeitig die Widersprüche und Krisen zu reproduzieren, die die Menschheit in den Abgrund stürzen können. Dieses Kapital ist nicht das Guthaben auf dem Konto der Unternehmer, nicht der Besitztitel auf ihre Fabriken und schon gar kein geheimer Club weißer, heterosexueller Männer, der sich gegen den Rest der Welt verschworen hat. Es ist gesellschaftlicher Prozess - und damit Alles und Nichts. Alles ist das Kapital, weil es die Beziehungen zwischen den Menschen diktiert und es heute weltweit allein dazu in der Lage ist, Gebrauchsgüter zu produzieren und das Geld zu vermehren, das es zwischen die Bedürfnisse der Menschen und deren Befriedigung geschaltet hat. Nichts ist das Kapital aber genauso: Es lässt sich nicht dingfest machen, es ist reine Abstraktion, abstrakter Reichtum, der nur als Bewegung und Verwandlung existiert und sich im Stillstand in ein Logikwölkchen auflöste. Warentausch und Wert, Lohnarbeit, Markt und Geld - das sind alles nur Momente dieser Bewegung; nur Durchgangsstadien, über die das Kapital sich reproduziert. Gleichzeitig sind es aber auch nichts als Beziehungen zwischen den Individuen, nichts als zwischenmenschliche Interaktion. Das Kapital setzt die Voraussetzungen selbst, die wiederum das Kapital in die Welt setzen, und es zwingt die Einzelnen auf diese Weise, seine Erfordernisse zu ihren Bedürfnissen zu machen; seinen Bedarf nach der Verwertung der Arbeit etwa zu ihrem Interesse am Verkauf ihrer Arbeitskraft. In dieser Verkehrung von Ursache und Resultat macht der Prozess die Individuen zu Teilen des Kapitals, setzt sie als Teil des Ganzen ihm gleich. Diese Identität ist real, aber unwahr, ist falsche Identität, weil die Individuen eben nicht per se mit dem Kapital identisch sind, sondern sich seinem Zwang anpassen müssen. Das aber verlangt ihnen ab, sich zu verhalten, als ob sie doch nichts anderes wären als Teile des Ganzen, und deshalb kann das Ganze fortbestehen: Das Kapital ist reine Praxis - und zwar die Praxis derer, die ihr unterworfen sind.
Als reine Abstraktion, als reines Verhältnis braucht das Kapital eine konkrete Instanz, die seine Existenz sichert: den Staat. Ohne ihn würde die allseitige Konkurrenz, in die das Kapital die Menschen gesetzt hat, in einem gewaltigen Hauen und Stechen enden, und nicht in einem Gesellschaftszusammenhang, der so total ist, dass er den Menschen zur zweiten Natur wird. Der Staat erzwingt, dass die Einzelnen die Verträge, die sie abschließen, auch wirklich einhalten - und das sind viele, selbst beim Zahlen im Supermarkt. Dadurch macht er den Äquivalententausch zu der notwendigen Umgangsform der Menschen untereinander, auf der das Kapital beruht: Auf jeden Gegenstand gibt es einen Eigentumstitel, und wenn ein Gegenstand den Besitzer wechseln soll, dann muss er getauscht werden - Im Ergebnis können die Menschen nur noch dann ihre Bedürfnisse befriedigen, wenn sie am Tauschprozess teilhaben; und damit erlangt das Kapital seine Macht über sie.

Dieser Zusammenhang macht den Staat zum Staat des Kapitals; er macht ihn nicht zum Staat der Kapitalisten. Für den Staat existieren überhaupt keine Klassen, sondern nur Bürger, und er garantiert deren Rechte. Vor allem schützt er ihr Eigentum, ob das nun in einem Stahlwerk bestehen mag, oder in der eigenen Arbeitskraft. Er bestraft den Stahlwerksbesitzer, wenn der für die Arbeit des Arbeitskraftbesitzers nicht zahlt, und er bestraft den Arbeitskraftbesitzer, wenn der das Stahlwerk selbst in Besitz zu nehmen versucht. Der Klassengegensatz, die soziale Ungleichheit, ist also nicht die Folge einer Ungleichbehandlung durch "die Herrschenden"; er ist vielmehr Ergebnis der Gleichbehandlung eines Jeden vor dem Gesetz.
Allerdings: Es ist richtig, von "dem Kapital" zu sprechen, weil der Kapitalprozess an jedem Ort und zu jeder Zeit derselbe ist - solange er existiert. Von "dem Staat" zu sprechen verbietet sich genaugenommen, weil kein Staat mit dem anderen identisch ist und keiner je in seiner Funktion als Staat des Kapitals aufginge. Staaten sind immer auch Träger von Ideologie, und das bedeutet für ihr konkretes Handeln einen Unterschied ums Ganze. Die oben vorgenommene Bestimmung dient nur dazu, die Rolle der Staaten im Bezug auf den Kapitalprozess festzuhalten. Dass diese Bestimmung eigentlich zu abstrakt ist, dass zeigt sich auch hier später noch, wenn von der Differenz der Staaten und ihres Selbstverständnisses am Verhandlungstisch in Heiligendamm die Rede ist.

Ihr seid die Wahnsinnigen

Die Antiglobalisierungsbewegung verdankt ihre Massenbasis vor allem der Tatsache, dass sie weder einen konkreten noch einen abstrakten Begriff vom Staat hat; geschweige denn eine Vorstellung davon, was das Kapital eigentlich ist. Von der Bewegung zu sprechen, ist dabei durchaus legitim, auch wenn sie selbst soviel Wert auf ihre Heterogenität legt: Die Trennlinie zwischen "friedlich" und "militant", zwischen "reformistisch" und "radikal" ist so absolut nicht, wie die jeweiligen Seiten glauben machen wollen. Beide Seiten wissen, dass sie in Heiligendamm den Gipfel nicht verhindern werden, und sie wissen genauso, dass das eigentlich nichts macht - Demos, Blockaden und Randale sind Symbolpolitik, die nur so tut, als sei sie politische Praxis. Ein Teil der Antiglobalisierer scheint das Spiel ernstzunehmen, und tut, als sei eine Prügelei am Sperrzaun eine militärische Konfrontation mit dem Imperialismus; der andere Teil fände seinen Traum von einer "anderen Welt" verwirklicht, wenn Christian Ströbele US-Präsident würde - beide Seiten aber eint ein Weltbild, dass sie insgeheim schon darauf vorbereitet, bei einer NGO, bei den Grünen oder bei der UNO konstruktiv mitwirken zu können an der Verwaltung des Kapitalprozesses. Sie müssten dazu nicht einmal ihre Ressentiments aufgeben - es reicht, sie salonfähig zu frisieren, und dann können sie Anti-Israel-Resolutionen in die UN-Vollversammlung einbringen, im Bundestag Sanktionen gegen den Iran verhindern oder bei Amnesty International ideologische Schützenhilfe für die Hamas organisieren. Wer seinen Protest heute noch mit Mollis zum Ausdruck bringt statt mit Unterschriftensammlungen, der mag zwar einen weiteren Weg haben, bis er im Establishment gelandet ist; dieser Weg aber reicht bekanntlich bis zum Chefsessel im Auswärtigen Amt.

Ob die Antiglobs nur Weltfrieden, keynesianistische Wirtschaftspolitik und Tobin-Steuer fordern oder Unversöhnlichkeit gegenüber dem System propagieren - sie müssen alle für ihr Denken davon ausgehen, Politik könne die Verhältnisse machen, statt sie nur verwalten zu können. Sie machen sich Illusionen über den Einfluss der Politik auf die Kapitalverwertung; und wären sie selbst an der Stelle der Staats- und Regierungschefs, dann würden sie natürlich den Zweck der Politik anders setzen und die Armut beseitigen. Sie begreifen nicht, dass sie das nicht könnten, weil auch ihnen die Zwecke schon vorgegeben wären, nach denen sie sich zu richten hätten. An diesem Punkt schlägt die globalisierungskritische Ideologie um in Wahn, in pathische Projektion: Die Globalisierungsgegner müssen glauben, alles ließe sich auch in dieser Gesellschaft schon ganz anders machen, selbst wenn sie die Revolution fordern, und deshalb müssen sie gleichzeitig davon ausgehen, es stecke ein böser Wille hinter der Tatsache, dass immer alles gleich bleibt. Und diesen bösen Willen machen sie dann dingfest in den westlich dominierten Institutionen Weltbank, Währungsfond und G8. Warum hungert Afrika? Weil die Regierungen des Westens bei den G8-Treffen Schuldenerlasse verhindern/weil die imperialistischen Staaten die armen Länder ausbeuten wollen! Warum globalisiert sich die Welt? Weil der Westen/der Imperialismus davon profitiert!

Beides macht der Westen ja wirklich (und das verleiht dem Wahn Scheinplausibilität), beides ist aber keine korrekte Antwort auf die gestellten Fragen. Tatsächlich ist die sogenannte Globalisierung keine Erfindung des Westens zur Unterdrückung des Trikonts, sondern ein notwendiger Teil des Kapitalprozesses. Das Kapital ist eine Gesellschaftsmaschine, die davon zehrt, Geld in die Produktion zu stecken und die Produkte durch Tausch wieder in Geld zu verwandeln. Dieser Prozess macht nur Sinn, wenn am Ende mehr Geld da ist als am Anfang; und selbst ein Globalisierungsgegner investiert keine hundert Euro um nach Aufwand, Stress und Risiko wieder hundert Euro herauszubekommen. Also muss das Kapital ständig seine Basis verbreitern - es unterwirft sich immer neue Lebensbereiche und es verleibt sich immer neue Gesellschaften ein. Zu Lenins Zeiten war das der Imperialismus, heute ist es die Globalisierung; und damals wie heute können die Staaten diesen Prozess vielleicht in einem gewissen Rahmen steuern und ihn durch Verträge und Abkommen in Konventionen fassen; sie können als Feuerwehr auftreten, wenn mal wieder eine Volkswirtschaft kollabiert und als Weltpolizei, wenn Djihadisten ihren Wahn mit Suicide Bombing und Massenmord ausagieren - sie können den Prozess der Globalisierung aber so wenig anhalten oder umkehren, wie sie ihn einst in Gang gesetzt haben.

Der Globalisierungkritiker unter den Staaten
Nicht nur die G8-Gegner begreifen das nicht; auch die Staaten selbst können den Prozess nicht durchschauen - und kommen zu unterschiedlichen Schlüssen: Die Amerikaner haben zwar keinen Schimmer, woher der Rahmen kommt, der ihnen die Stoßrichtung diktiert; sie stellen sich aber darauf ein und verfolgen bei den G8-Treffen das Ziel, den Interessen der USA Geltung zu verschaffen. Das ist klassische bürgerliche Ideologie: Handeln nach Maßgabe der Zweck-Mittel-Rationalität und unter Berücksichtigung der als naturgegeben verstandenen Zwänge des Kapitals. Die Deutschen dagegen folgen seit Schröder wieder einer Weltsicht, die diese Zwänge ausblendet; die sich einredet, mit ihrem guten Willen die Welt retten zu können; und die sich das fortdauernde Elend nur mit dem bösen Willen der Anderen erklären kann. Es scheint deutschen Gutmenschen deshalb folgerichtig, dass ägyptische Bürgerkinder mit Studienplatz in Hamburg Amerika vernichten wollen, weil sie deren Ressentiment teilen. Sie gerieren sich antikapitalistisch und schauen anklagend auf den Westen; sich selbst aber nehmen sie ihres guten Willens wegen von der Verantwortung aus: Sie schauen ja so moralisch auf die Welt, wie sollten sie dabei das Elend verursachen? Das ist das Antiglob-Credo in der Schröderversion, die bis heute ideologische Basis des deutschen Selbstbildes ist: Warum hungert Afrika? Weil die Amis soviel haben, dass für die anderen nichts übrig bleibt, aber wir sind dagegen! Warum globalisiert sich die Welt? Weil die US-Regierung die Ressourcen benötigt, damit die Amis noch mehr kriegen, aber wir sind dagegen! Profitiert Deutschland nicht genauso vom Handelsgefälle mit der Dritten Welt, wie die USA? Wir würden ja gern anders, aber Bush sabotiert die Abkommen!

Obwohl natürlich auch der deutsche Staat in der Staatenkonkurrenz steht und in Heiligendamm seine Interessen durchsetzen muss, geriert sich sein Personal als "ehrlicher Makler" (Bismarck) für das Weltgewissen, als Globalisierungskritiker am Verhandlungstisch. Er tut das auch dann noch, wenn wenn seine Sicherheitsorgane aus Angst vor Bildern wie in Genua hysterisch um sich beißen und 1984 spielen. Das ist die repressive Antwort eines autoritären Polizeiapparates unter autoritärer Führung; die politische Antwort auf die G8-Gegner aber sieht anders aus und ist auch unter der Großen Koalition noch von jener Neuen Deutschen Ideologie geprägt, die unter Schröder und Fischer Staatsräson wurde: Ausgerechnet Wolfgang Schäuble ließ verlauten, dass die Bundesregierung Demonstrationen gegen den Gipfel grundsätzlich begrüße (als Gastgeber!), und dass es wichtig sei, auf die Lage in Afrika und auf die Klimakatastrophe aufmerksam zu machen. Will heißen, dass Deutschland die weltweit ausgestrahlten Proteste nutzen will, um gegen die interessensgeleitete Politik der USA Front zu machen; sich der Welt als Globalisierungskritiker unter den Staaten zu empfehlen. "Ob friedlich oder militant - mit Deutschland immer Hand in Hand", könnte man reimen, wenn die Regierung offen zugibt, ihre vermeintlichen Gegner zur Durchsetzung ihrer Politik einszupannen.

Insgeheim teilt die deutsche Regierung samt eines großen Teils der deutschen Medien und der Öffentlichkeit die Ressentiments der Globalisierungsgegner - mit dem Unterschied, dass sich die Projektionsfläche verschiebt: Schuld am Zustand der Welt ist für einen Herrn Müntefering als Chefheuschreckenvernichter der Bundesregierung natürlich nicht der Westen als Ganzes, schuld sind die USA als Hort des Finanzkapitals mit dessen willfähriger Regierung, die er natürlich immer "Administration" nennt, weil das in deutschen Ohren so hübsch abstrakt und bedrohlich klingt. Die Projektionsfläche verschiebt sich ein Stück, die Projektion bleibt die gleiche; und eigentlich werfen die Globalisierungsgegner den Europäern unter den G8 ja auch nur vor, dass sie mit den USA gemeinsame Sache machten. Der Antiamerikanismus mit seinen antisemitischen Projektionsschablonen - das ist es, was beim G8-Gipfel in Heiligendamm die Gastgeber und die Störer vereint.

"Mitnichten eine Schaltstelle des globalen Kapitalismus"

redical M zum G8-Gipfel
Unser Appell, Heiligendamm fern zu bleiben, richtet sich nicht an die beiden beschriebenen Teile der Gipfelstürmer, die faktisch entweder die Sache der Hamas betreiben oder im Interesse der Bundesregierung handeln. Wir meinen eine dritte Fraktion, die aus der Bewegung heraussticht. Es handelt sich dabei um jene recht reflektierten Linksradikalen, die gern Kommunismus sagen, mit der Bezeichnung "Globalisierungskritiker" wenig anfangen können, und die eigentlich schon sehr genau wissen, wie bescheuert es ist, mit den anderen beiden Haufen gemeinsame Sache zu machen. Deren Rationalisierungsleistung besteht weniger darin, die G8 für angreifbare Weltherrscher und Generalkapitalisten zu halten; sie besteht darin, ausgerechnet im Gipfelsturm einen Anlass zu finden, die Kritik am Kapital vorantreiben zu wollen.

Es handelt sich bei diesen Gruppen in der Regel um Antifas, an denen die Auseinandersetzung um den Antisemitismus in der Linken nicht spurlos vorbeigegangen ist: Sie schreiben in ihre Flugblätter, dass die G8 nicht das Kapital sind und nicht einmal eine Schaltstelle zu seinem Vollzug. Sie registrieren sogar, dass sich die Antisemiten und Antiamerikaner in der Antiglobalisierungsbewegung tummeln wie deutsche Touristen am Strand von El Arenal: auf jedem Platz schon ein Handtuch. Was diese Bereitschaft zur Kritik dann aber wieder zunichte macht, ist der Unwille zur Konsequenz: Statt aus ihren Erkenntnissen den Schluss zu ziehen, dass an diesem Strand für kritische Intervention wohl kein Platz mehr ist, und lieber zuhause zu bleiben, machen sie gleich Reisebüros für Heiligendammtourismus auf und beteiligen sich an bundesweiten Mobilisierungsbündnissen.
Was haben haben die linken Kritiker der Antiglobs in Heiligendamm zu suchen? Warum sollten sie sich als Statisten für ein erbärmliches Schauspiel von Staatenlenkern, Globalisierungskritikern und Medien zur Verfügung stellen, aus dem alle ihren Vorteil ziehen, außer den Kritikern selbst? Kritische Theorie hat in der Lagerfeuerromantik der Aktivistencamps so wenig eine Chance, jemanden zu erreichen, wie ein T-Bone-Steak eine Chance hat, auf den Grill der Volxküche zu kommen; und die radikale Kritik der Verhältnisse interessiert die Antiglob-Funktionäre höchstens als Negativfolie, von der sie sich distanzieren können. Utopieworkshops werden sie veranstalten, kreativ werden sie sein, Märkte der Möglichkeiten werden sie anbieten - und in Abgrenzung von denen, die beweisen, dass unter den Verhältnissen des Marktes eben nichts möglich ist; in der Abgrenzung von kommunistischer Kritik also, werden sie sich der Zivilgesellschaft empfehlen und eine gerechte Globalisierung "von unten" fordern. Angela Merkel fordert unterdessen schon jetzt "eine gerechte, menschliche" Globalisierung und äußert "Respekt vor dem Engagement und dem Idealismus" der G8-Gegner. Man kann sich offenbar schnell einig werden, wenn man, wie Frau Merkel und die Globalisierungskritiker, die "Globalisierung" nicht begreift als quasi-naturhafte Auswirkung des Kapitalprozesses, sondern rein als Ergebnis politischer Entscheidungen: Eine andere Welt ist möglich - unter deutscher Führung und im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, versteht sich!

Es ist ihr hoffnungsloser Praxisfetisch, der selbst klügere, durchaus kritische Antifagruppen dazu bringt, eben doch mitzumachen bei einer Unternehmung, bei der sie nichts zu gewinnen haben, und die dem Zweck radikaler Gesellschaftskritik diametral entgegen steht: Weil dort Zehntausende protestieren, vielleicht gar weit über Hunderttausend, weil das Fernsehen so unglaublich beeindruckende Bilder von Hunderten von Vermummten liefern wird, weil man sich im Schein einer vermeintlichen gesellschaftlichen Relevanz sonnen kann, wenn selbst die Nachrichten in Australien Bilder zeigen, wie man im Nebel einer explodierten Rauchgranate gegen den Zaun vordringt, deshalb kann man gar nicht anders als bei aller Kritik doch mitzumischen und zusätzlich Masse zu stellen. Tatsächlich machen sich die vermeintlichen Kritiker so zu Komplizen ihrer Gegner. Für die Kritik der Gesellschaft trägt ihre Anwesenheit nichts aus bzw. sie schadet sogar - die durchaus fundierte Antisemitismuskritik, die jener dritte Teil der Bewegung vorzutragen hat, kann im Zweifelsfall noch von jedem Attac-Funktionär als Feigenblatt für die israelfeindlichen Ausfälle seines eigenen Vereins missbraucht werden: Bei uns wird das Problem schließlich diskutiert!
So radikal der Bruch mit der Gesellschaft zu sein hat, die man kritsiert, so radikal müsste auch der Bruch mit jener Bewegung sein, die in der Öffentlichkeit spätestens seit Genua das Monopol hat auf Begriffe wie Antikapitalismus und Gesellschaftskritik; die sich aufführt als hätte sie die Lösung parat für den Hunger in Afrika, die Klassengegensätze und die Umweltzerstörung, und die doch nichts anderes macht, als uralte Ressentiments im linken Gewand neu aufzuwärmen. Das sind Feinde der Kritik in kommunistischer Absicht, und mit denen spielt man nicht.

"Kommunistisches Begehren: Dass alles endlich anders wird"

Bini Adamczak
Weil sich die Verteidiger einer revolutionär auftrumpfenden Pseudopraxis nicht eingestehen können, dass eine gesellschaftliche Bewegung nicht mehr existiert, die tatsächlich die Abschaffung des Kapitals und die Errichtung einer staaten- und klassenlosen Weltgesellschaft betriebe, rationalisieren sie ihre Beteiligung an und ihre Organisation von Demonstrationen als Ersatz einer solchen Bewegung. Kritiker solch falscher Praxis bekommen den Vorwurf zurück, sie hätten in Wahrheit resigniert, hätten sich zurückgezogen in die Welt der Bücher und des intellektuellen Lamentos. Wer die unmittelbare Praxis aufgebe, der gäbe auch die Hoffnung auf, dass alles anders werden könne. Adorno schrieb zu diesem Vorwurf schon vor 40 Jahren: "Die repressive Intoleranz gegen den Gedanken, dem nicht sogleich die Anweisung zur Aktion beigesellt ist, gründet in Angst. Man muss den ungegängelten Gedanken und muss die Haltung, die ihn nicht sich abmarkten lässt, fürchten, weil man zutiefst weiß, was man sich nicht eingestehen darf: dass der Gedanke recht hat." Gegen eine Praxis jenseits der Kritik wäre Kritik als Praxis ins Feld zu führen: Die kritische Durchdringung der falschen Gesellschaft ist der letzte Weg, der den KritikerInnen bleibt, wenn der Umschlag in unmittelbare, emanzipatorische Praxis ausbleibt.
Solche Kritik in kommunistischer Absicht zielt auf eine Gesellschaft, in der die Menschen endlich in die Lage versetzt wären, die Beziehungen untereinander vernünftig einzurichten und ihr Potential bewusst zu nutzen. Um die Übermacht des Zustands zu durchbrechen, der die Menschen von dieser Fähigkeit trennt, müsste man mit den Mitteln der Kritik ihren ideologischen Panzer angreifen; müsste begreifbar machen, worin der Zwangscharakter dieses Zustands besteht. Adorno schreibt, die Fortdauer der verkehrten Gesellschaft zwinge den kritischen Gedanken "zu erkennen, warum die Welt, die in jedem Augenblick das Paradies sein könnte, in jedem Augenblick zur Hölle werden kann." Diesen Widerspruch zu reflektieren, nötigt nicht die Gesellschaft den Individuen auf, sondern die Kritik an ihr - als Vorraussetzung ihres Erfolges.
Dass kaum jemand diese Kritik in Angriff nimmt, dass der "kollektive Kritiker" des Kapitals also bis auf Weiteres nicht auf den Plan treten kann, das müsste die Hauptsorge jener sein, die sich Kapitalkritik ins Flugblatt schreiben. Sie werden nichts erreichen, wenn sie, statt die Kritik ernst zu nehmen, lieber in Heiligendamm mit den Politkaspern spielen.

[a:ka] göttingen, im mai 2007