2007-06-04
· Fast 1000 Verletzte bei Großdemo · Vermummte jagten Polizisten · Friedliche Demonstranten fassungslos · Kanzlerin Merkel verurteilt Krawalle · Heftige Kritik an Polizei-Einsatz
Rostock (OZ/AP/dpa) Mit einer Bilanz des Schreckens endete am Wochenende die Großdemonstration von Globalisierungsgegnern in Rostock. Fast 1000 Verletzte, ausgebrannte Autos, kaputte Scheiben. Die Polizei sprach von 433 verletzten Beamten, die Demo-Leitung berichtete von 530 verletzten Teilnehmern. 30 Polizisten und 20 Demonstranten kamen mit schweren Verletzungen in Kliniken. Es handelt sich um die schlimmsten Krawalle in Deutschland seit mehr als 20 Jahren.
128 Verdächtige – laut Demo-Leitung sogar 164 – wurden festgenommen. Gegen zehn wurde Haftbefehl beantragt wegen schweren Landfriedensbruchs und gefährlicher Körperverletzung.
Am Sonnabendvormittag war die Demonstration, zu der laut Polizei 25 000 und laut Organisatoren 80 000 Menschen gekommen waren, mit einem fröhlichen karnevalistischen Umzug gestartet. Ein Bündnis von G8-Kritikern protestierte unter dem Motto „Eine andere Welt ist möglich“ gegen die bisherige Politik der führenden Wirtschaftsmächte.
Im Verlauf der Demo kam es immer wieder zu Gewaltattacken aus dem sogenannten schwarzen Block von 2000 gewaltbereiten Autonomen. Die Gewalt eskalierte schließlich auf dem Gelände des Stadthafens, wo sich vermummte Demonstranten und Polizei stundenlang eine Straßenschlacht lieferten. Unter den festgenommenen Krawallmachern waren etliche Ausländer, so aus Spanien, Frankreich, Belgien und der Ukraine.
Am Abend war der Tag mit einem bunten Konzertprogramm am Stadthafen zu Ende gegangen. Es traten unter anderem die Gruppen „Juli“ und „Wir sind Helden“ auf. In der Nacht zum Sonntag blieb es in der Hansestadt weitgehend ruhig.
Politiker aller Parteien zeigten sich entsetzt über die Explosion der Gewalt in Rostock. So hat Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) die Krawalle scharf verurteilt. „Die Gewalt ist mit nichts zu rechtfertigen“, sagte sie gestern in der ARD. Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsident Harald Ringstorff (SPD) erklärte, „diese gewalttätigen Autonomen“ hätten dem Anliegen der friedlichen Globalisierungskritiker einen Bärendienst erwiesen.
Indes warf der sächsische Innenminister Albrecht Buttolo (CDU) seinem Parteifreund Wolfgang Schäuble vor, als Bundesinnenminister eine Mitschuld an den Ausschreitungen in Rostock zu tragen. Schäuble hätte die Länder bei der Gefahrenabwehr allein gelassen.
Auch unter den Globalisierungsgegnern sitzt der Schock von Rostock tief. Attac-Sprecher Peter Wahl kündigte gestern in der Hansestadt an, das G8-kritische Netzwerk wolle die gewaltbereite Autonomen-Szene nicht mehr auf Demonstrationen haben. „Die haben mit uns nichts zu tun.“
Der Bundeschef der Gewerkschaft der Polizei, Konrad Freiberg, übte scharfe Kritik am Vorgehen der Polizei. Er fordert eine gründliche Überprüfung des Polizeieinsatzes, denn der Einsatz sei schief gegangen. So müsse sich die Führung fragen lassen, warum schon während des Protestzuges die Täter Steine in Einkaufswagen sammeln konnten.
Bei einem Gottesdienst gestern im Münster von Bad Doberan erinnerten 800 Teilnehmer die G8-Staaten an ihre Verantwortung für die Welt. Mehrere hundert Kerzen hatten das Innere des Münsters in ein Lichtermeer verwandelt.
Nach dem Verbot einer Kundgebung in Schwerin wichen hunderte Anhänger der rechtsextremen NPD am Sonnabend auf neun andere Städte in mehreren Bundesländern aus. Insgesamt nahmen an den unangemeldeten Aufzügen mehr als 1600 Rechtsextreme teil.
Rund 5000 Menschen haben sich gestern in Rostock nach Veranstalterangaben an Protestaktionen gegen den Einsatz von Gentechnik in der Landwirtschaft beteiligt. Nach den heftigen Krawallen von Sonnabend blieben sämtliche Veranstaltungen nach Polizeiangaben friedlich. Begonnen hatte der Tag mit einem Zug durch die Rostocker City. Nach der Kundgebung fuhren rund 2000 Demonstranten ins 15 Kilometer entfernte Groß Lüsewitz (Bad Doberan). Dort ist das Agrobiotechnikum beheimatet, das Zentrum für Forschung an grüner Gentechnik in MV.
Gegen das Demonstrationsverbot rund um Heiligendamm werden die Globalisierungskritiker Verfassungsbeschwerde einlegen. Der Eilantrag werde heute beim Bundesverfassungsgericht eingehen, kündigten die Organisatoren des verbotenen Sternmarsches zum Gipfel-Ort gestern an.
[http://www.ostsee-zeitung.de/archiv/index.phtml?Param=DB-Artikel&ID=2711768]