2006-03-20
G8 delegitimieren, soziale Bewegungen stärken, Alternativen leben
Erwartungen an den G8-Prozess - ein Diskussionspapier des Arbeitsschwerpunktes Weltwirtschaft
Eine Welle von Vernetzungs- und Kampagnentreffen, die Planung von Camps und Aktionen ist im Gange. Bereits gut ein Jahr bevor sich die "Gruppe der 8" im mecklenburgischen Heiligendamm trifft, richten NGOs, Netzwerke wie Attac und Gruppen des linksradikalen Spektrums ihre Aktivitäten auf das Thema G8 aus, welches quer durch alle Spektren der Linken ein gewaltiges Mobilisierungspotenzial zu besitzen scheint. Das große Bedürfnis nach Protest und Organisierung wird sichtbar. Die inhaltlichen Auseinandersetzungen und Aktionen im Umfeld des G8-Treffens könnten, wie schon in Seattle 1999, Genua 2001 und anderswo, zu einem dynamischen "Kristallisationsmoment" für emanzipative Bewegungen werden.
Dies bietet große Chancen, wirft aber auch einige Fragen auf:
· Wie kann der Gipfel der 8 kritisiert werden, ohne in eine problematische Sicht der "bösen 8 gegen den Rest der Welt" zu verfallen, der den Blick auf dieses scheinbare Machtzentrum verengt und dabei globale Herrschaftsverhältnisse und -systeme ausklammert?
· Wie ist Protest möglich, ohne sich in die Inszenierung des G8 einzufügen, ja sie sogar zu stärken?
· Wie kann die Mobilisierung genutzt werden, um statt einer einmaligen und punktuellen Konzentration der Kräfte dauerhaft handlungsfähige Strukturen zu schaffen? Wie können in der Mobilisierung Alternativen aufgezeigt und aufgebaut werden?
Dieser Text ist Teil eines Diskussionsprozesses innerhalb des Arbeitsschwerpunktes Weltwirtschaft (ASWW) der BUKO. Wir wollen dazu beitragen, eine fundierte Kritik an der G8 als Teil und Ausdruck globaler Herrschaftsverhältnisse zu erarbeiten. Ebenso wichtig finden wir, dass der Protest über das Event Heiligendamm inhaltlich und organisatorisch hinausweist.
1. Die aktuelle Situation
Das neoliberale Projekt steuert in eine Legitimationskrise. Das Versprechen von Glück und Wohlstand für alle, wenn denn Konkurrenz und Marktkräfte uneingeschränkt wirken können, blamiert sich täglich. Selbst die Brosamen, die angeblich bei genügend ökonomischem Wachstum auch unten ankommen - im Vokabular der Herrschenden trickle down genannt - schmecken nach Ausbeutung und Elend, Krieg und Militarisierung, Umweltzerstörung, Rassismus und patriarchalen Verhältnissen, nach Massenentlassungen bei gleichzeitig hohen Gewinnen der Unternehmen, nach der Erhöhung von Risiken im Krankheitsfall oder im Alter durch die "Reform" der sozialen Sicherungssysteme. Garniert wird das neoliberal-imperiale Modell mit Durchhalteparolen, mehr Zwang und Gewalt, aber auch mit offenem Zynismus. Die "unsichtbare Hand des Marktes" benötigt immer stärker die "Faust" des Staates und des Militärs.
Immer mehr Menschen sagen ¡ya basta! (es reicht!). Die Kritik an der liberalen Demokratie und am kapitalistischen Weltmarkt, an den repressiven Antworten der Herrschenden und der zunehmenden Ausgrenzung von Menschen wächst. Die Suche nach Alternativen hat längst begonnen - hier zu Lande entwickelt sie bislang weniger Dynamik, in anderen Gesellschaften ist das jedoch sehr deutlich zu beobachten. Das Suchen ist nicht einheitlich und von Widersprüchen durchzogen.
In Zeiten, in denen ökonomische Krisen unberechenbarer und häufiger werden, sehen die Herrschenden auch ihre Interessen gefährdet. Im Establishment wird um eine Neuausrichtung des neoliberal-imperialen Projekts gerungen, um den globalen Kapitalismus effektiver zu gestalten und zu relegitimieren. Auch wenn die Legitimation schwindet, steckt das neoliberal-imperiale Modell (noch) nicht in einer Funktionskrise, sondern dominiert staatliche Politik nicht nur in den kapitalistischen Metropolen. Die bestehenden Verhältnisse werden- wenn auch oft murrend- akzeptiert und aktiv mitgestaltet. Das Vertrauen in die politischen und ökonomischen EntscheidungsträgerInnen ist noch nicht grundlegend erschüttert. In Deutschland äußert sich Kritik weniger organisiert und emanzipatorisch als vielmehr diffus und im Sinne einer autoritären Sozialstaatlichkeit. Schlimmstenfalls kommt sie im rechtsextremen Gewand daher. Insofern haben wir es mit einer "Diskrepanz zwischen der extremen Beschleunigung des Umbruchs einerseits und nur schwach ausgebildeten Bewegungsansätzen andererseits" (Martin Dieckmann, in: ak 498, 16. September 2005) zu tun.1
In diesem Kontext sind sowohl die Treffen der politisch und ökonomisch mächtigsten Regierungschefs wie auch die Proteste zu verorten. Grundsätzlich unterschiedliche Vorstellungen von der Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse treffen hier aufeinander. Diese Differenzen deutlich zu machen, die herrschende Sichtweise zu schwächen und emanzipatorische Perspektiven zu stärken, das ist ein Anliegen der Proteste.
2. Die G8 als Teil globaler Herrschaftsverhältnisse
Die G8 sind weniger als ein Machtzentrum zu begreifen, von dem aus Entscheidungen globaler Reichweite getroffen werden, sondern bilden einen Knoten im Netzwerk globaler Hegemonie, in dem sich Herrschaftsverhältnisse verdichten und umkonfigurieren. Dieses Netz von Trennlinien und Machtbeziehungen zieht sich durch die gesamte Gesellschaft und lässt sich nicht auf ein einfaches ‚oben' und ‚unten' reduzieren.
Vergegenwärtigt man sich die Geschichte der Gruppe der 8, so wird deutlich, dass die Regierungen sowohl Getriebene innerer und äußerer Gegensätze und Verhältnisse sind, als auch Antreiber einer wirtschaftsliberalen Politik. Ins Leben gerufen wurde die heutige G8 1975 im französischen Rambouillet. Die beteiligten sechs Regierungen2 wollten sich in einem informellen Rahmen über Maßnahmen verständigen, mit denen auf den drastischen Ölpreisanstieg, die ökonomische Rezession und die monetären Turbulenzen, die sich nach der Aufhebung der Goldbindung des Dollars 1971 und der Freigabe der Wechselkurse 1973 ergeben hatten, reagiert werden konnte. Mit der Schuldenkrise 1982/83 wurde die liberale Weltmarktintegration der südlichen Länder und die Liberalisierung der Kapitalmärkte erstmalig explizit gefordert. Spätestens Anfang der 1980er Jahre wurde die G8 zu einer aktiven Vertreterin eines marktförmigen Währungssystems, später dann zu einer Verfechterin von Strukturanpassungsmaßnahmen der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds sowie zur Antreiberin der Welthandelsorganisation.
Seit dem Bestehen der G8 werden die Themen beständig ausgeweitet und den neuen ‚Anforderungen' angepasst. Der bereits Ende der 1970er Jahre thematisierte ‚Kampf gegen den Terrorismus' ist in den letzten Jahren (wieder) Gegenstand der G8-Beratungen. Mit den Themen Entschuldung und Entwicklungsfinanzierung reagieren die beteiligten Regierungen seit Birmingham 1998 auf Kritik an ihrer einseitig wirtschaftsliberalen Ausrichtung. Auf dem Treffen in St. Petersburg 2006 steht der Dauerbrenner ‚Energiesicherheit' wieder im Zentrum.
Allerdings sollten die Abschluss-Kommuniques der G8-Treffen nicht überschätzt werden. Neben dem durch die Medien sichtbaren jährlichen Treffen der Regierungschefs besteht der G8-Mechanismus aus vielen anderen informellen Zusammenkünften, etwa der Außen- und Finanzminister oder der Umwelt- und Entwicklungsminister. Die G8-Finanzminister etwa treffen sich unter anderem im Rahmen der Frühjahrs- und Herbsttagung von IWF und Weltbank. Somit sind die ‚Weltwirtschaftsgipfel' selbst eher eine große P.R.-Veranstaltung. Im Grunde findet innerhalb der G8 ein permanenter Kommunikationsfluss auf den unterschiedlichsten Ebenen statt.
Die Gruppe der 8 erfüllt verschiedene Funktionen: Erstens hat sie zwar als solche keine eigenständige formelle Entscheidungsgewalt, ja noch nicht einmal ein Gründungsdokument. Aber über die mächtigen Regierungen werden die Absprachen in andere internationale Foren eingebracht (etwa in Weltbank, IWF, WTO, OECD) bzw. über nationale Politiken umgesetzt. In den Abschlusserklärungen werden häufig Initiativen in internationalen Organisationen angekündigt oder angemahnt. Die Gruppe der 8 übt zudem über ‚Empfehlungen' oder konkrete Forderungen Druck auf andere Regierungen aus. Sie kann über ihre vielfältigen Mechanismen flexibel agieren, ohne ihre Entscheidungen in demokratischen Prozessen legitimieren zu müssen.
Zweitens werden im Rahmen der G8 Differenzen und Widersprüche zwischen den weltpolitisch und -ökonomisch dominierenden Staaten ausgetragen und bearbeitet. Gemeinsame Interessen der Mitgliedsstaaten werden destilliert, koordiniert und nach außen gebündelt. Beim Verschuldungsmanagement in den 1980ern, den Währungskrisen in den 1990ern sowie bei der heutigen Durchsetzung von Strategien ‚globaler Sicherheit' und der Sicherung der Energieversorgung waren und sind die G8 jeweils ein zentraler Ort der Entwicklung von Strategien des Krisenmanagements. Diese waren stets darauf ausgerichtet, eine inhärent krisenhafte Weltwirtschaft durch politische Rahmenbedingungen zu stabilisieren; im Sinne ‚makroökonomischer Stabilität', aber auch zur Sicherung der bestehenden Machtverhältnisse. Die Bearbeitung von Widersprüchen zwischen den G8-Staaten stößt jedoch auch an Grenzen, wie die gegensätzlichen Positionen zum Irak-Krieg, zu umwelt- und zu handelspolitischen Fragen zeigten.
Drittens entfalten insbesondere die Treffen der Regierungschefs eine hohe symbolische Wirkung. "Schaut her, wir packen die Probleme der Welt zusammen an! Wir sind die Chefs!" Neben der direkten Einflussnahme erfüllt die G8 also die Funktion, Zustimmung für sich zu erzeugen und somit Spielräume für ihre Politik zu schaffen. Die symbolische Inszenierung von Herrschaft und Legitimität verkörpert und stabilisiert die Verhältnisse, da die Gipfel auf dieser Ebene bis in den Verstand und die Gefühle der ‚Beherrschten' wirken. Auf Grund der wachsenden Kritik werden in der Öffentlichkeit weniger grundlegende wirtschaftpolitische Fragen präsentiert, sondern medienwirksam aufbereitete Themen wie Entschuldung und Entwicklungshilfe. Im Rahmen solcher Kampagnen werden auch RegierungsvertreterInnen von Nicht-Mitgliedern eingeladen (etwa aus Afrika) oder von internationalen Organisationen wie der UNO-Generalsekretär. Diese Kampagnen greifen allgemeines Unwohlsein und konsensfähige Forderungen von Teilen der Zivilgesellschaft auf und kanalisieren sie zu scheinbar unumstrittenen Maßnahmen, die letztlich auf eine Relegitimierung der G8 abzielen. Die G8 kann sich hier auf ein fest im Alltagsverstand verankertes Politikverständnis stützen, für das ein Delegieren an Regierungen selbstverständlich ist. Zusammen mit einem vermeintlich neutralen Fokus auf ‚Problemlösung' und einer Ideologie der Effizienz wirkt ein solches Verständnis de-politisierend und verdeckt die bestehenden Herrschaftsverhältnisse.
3. Delegitimierung der G8 und darüber hinaus
Die zentrale Forderung einer internationalistischen Linken kann unseres Erachtens nur die Delegitimierung der G8 sein. Darüber hinaus schlagen wir vor, dass sich im G8-Prozess die verschiedenen emanzipativen Spektren mit ihren Anliegen finden und austauschen und gleichzeitig nach thematischen Zuspitzungen suchen, die einer breiteren Öffentlichkeit verständlich gemacht werden können. Der Protest sollte sich nicht in inhaltlicher Analyse erschöpfen, sondern Raum bieten, Alternativen zu entwickeln und auch zu leben. Schließlich müssen wir uns mit den Strategien von Regierungen und herrschenden Medien auseinander setzen, die oft versuchen, durch eine Aufteilung der Proteste in ‚gut' und ‚böse' Spaltungen hervorzurufen.
a) Delegitimieren
Der G8 mangelt es in zweifacher Hinsicht an Legitimation: Sowohl gemessen an den für viele Menschen katastrophalen Ergebnissen ihrer Politik, als auch gemessen am eklatanten Missverhältnis zwischen den Beteiligten und den Betroffenen der G8-Entscheidungen. Was dieses Missverhältnis angeht, so erfüllt die G8 nicht einmal die selbst gesetzten Standards liberaler Demokratie. Acht Regierungen maßen sich an Beschlüsse zu treffen, deren symbolische und materielle Auswirkungen weltweit zu spüren sind. Die Regierungschefs der G8 sind auf nationalstaatlicher Ebene zwar formal demokratisch legitimiert, faktisch agieren sie aber auf vermachteten Terrains, auf denen nur diejenigen gesellschaftlichen Interessen Wirkung entfalten können, die mit den herrschenden Problemdefinitionen vereinbar sind. Dazu kommt, dass im Falle Putins selbst die formaldemokratische Legitimation in Frage steht und dass politische Herrschaft sich auch in den so genannten westlichen Demokratien ihres liberal-demokratischen Mantels immer weiter entledigt, zunehmend autoritäre Züge annimmt und sich damit gemessen an den eigenen Legitimationsstandards selbst in ein Legitimationsproblem manövriert.
Dass Delegitimierung eine schlagkräftige Forderung sein kann, zeigen die Konflikt- und Mobilisierungsformen in der argentinischen Krise. Die Parole " ¡que se vayan todos!" (sie sollen alle abhauen!) brachte hier eine Strategie der Delegitimierung auf den Punkt, d.h. verdichtete sie in einer griffigen und einleuchtenden Forderung, die eine hohe Mobilisierungswirkung entfalten konnte.
Delegitimierung beinhaltet grundsätzlich drei Elemente: Erstens spricht sie den Regierenden das Recht ab, Entscheidungen in der Form und mit den Inhalten zu treffen, wie sie es tun, weil diejenigen, die die Suppe auslöffeln müssen, nicht mitkochen durften (Element eins: Ihr habt nicht das Recht!). Zweitens macht sie deutlich, dass die gesellschaftlichen Möglichkeiten, ein menschenwürdiges Leben jenseits vom Zwang zu sinnloser Arbeit zu führen, gegeben sind, dass diese Potenziale aber nicht ausgeschöpft, sondern interessengeleitet negiert werden (Element zwei: Es ist genug für alle da!). Drittens verweist sie auf bereits praktizierte bzw. angedachte Alternativen selbstbestimmten und solidarischen Zusammenlebens und postuliert deren Verallgemeinerungsfähigkeit (Element drei: Wir können es besser!).
Eine Herausforderung besteht darin, diese Kritik nicht nur auf die G8 zu beziehen, sondern auf soziale Konflikte in unterschiedlichen Kontexten anzuwenden und radikaldemokratische Alternativen aufzuzeigen. Nicht nur die G8 als ein Ausdruck globaler Herrschaftsverhältnisse muss delegitimiert werden, sondern die zu Grunde liegenden Formen und Definitionen von Politik, Entscheidungsfindung und gesellschaftlicher Struktur. Emanzipatorische Veränderungen müssen sich klar gegen den kapitalistischen und patriarchalen Staat und internationale politische Institutionen, gegen herrschende Politikvorstellungen und Naturverhältnisse positionieren, aber auch gegen sich quer durch die Gesellschaft ziehende Hierarchien in Bezug auf Herkunft, Geschlecht, Klasse und gesellschaftlichen Vorstellungen von Normalität.
b) Zuspitzen und Sichtbarmachen
Der G8-Prozess kann von emanzipatorischer Seite dazu genutzt werden, dass sich unterschiedliche soziale und politische Spektren stärker aufeinander beziehen und nach gemeinsamen Handlungsansätzen suchen: Sozialpolitische Gruppen und Erwerbslosen-Initiativen, gewerkschaftliche Linke, feministische Gruppen, selbstorganisierte MigrantInnen, anti-rassistische und anti-faschistische Gruppen, die Umweltbewegung, Studierende, die Bewegung gegen den Krieg und die für eine andere Globalisierung.
Unterschiedliche Kämpfe in unterschiedlichen Bereichen folgen unterschiedlichen Logiken: Widerstand gegen repressive Migrationspolitik funktioniert anders als der Aufbau betrieblicher Gegenmacht, Politik gegen Nazistrukturen ist etwas anderes als Protest gegen Hartz IV usw. Die Mobilisierung nach Heiligendamm erfordert einen offenen Umgang mit Unterschieden und Widersprüchen, und kann als Experiment mit gemeinsamen thematischen Zuspitzungen dienen.
Einen breiten Konsens könnte es inhaltlich dahingehend geben:
· Wir fordern erstens die Auflösung der Gruppe der 8 und nicht ihre Erweiterung etwa durch die Einbeziehung anderer Länder.
· Wir verweigern uns dem Dialog mit den Regierungen, die im Rahmen der G8 die global herrschenden Interessen koordinieren. Damit laufen wir nicht Gefahr, dem Prozess durch ‚konstruktive Kritik' Legitimität zu verleihen.
· Wir sehen, dass viele Menschen in den Metropolen die herrschenden Verhältnisse entweder passiv-resignierend hinnehmen oder sogar aktiv unterstützen - ein schlichtes ‚die da oben, wir hier unten' geht also nicht auf. Wir benötigen überzeugende Argumente und müssen für interessierte Menschen und Medien ansprechbar sein. Die Kunst besteht darin, radikale Kritik und Forderungen zu formulieren und sich gleichzeitig über den Kreis der ohnehin Überzeugten hinaus zu begeben.
· Unsere Kritik ist berechtigt, auch wenn wir keinen umfassenden Gegenentwurf präsentieren. Wir haben keinen, und wir wollen keinen. Eine andere Welt kann nicht autoritär geplant und durchgesetzt werden, sondern muss in Lernprozessen, durch Erfahrungsaustausch und Beteiligung aller entstehen.
Darüber hinaus muss es ein Teil der Proteste sein, den Unsichtbaren, Stimmlosen und Marginalisierten hier zu Lande und international dazu zu verhelfen, dass sie gesehen und gehört werden und ihre Kritik und Alternativen formulieren können. Das bedeutet, einige Themen systematisch zu bearbeiten und in einer breiteren Öffentlichkeit zu verankern: beispielsweise Migration und die Lebensverhältnisse der Menschen, die aus anderen Ländern nach Westeuropa kommen; die Situation der vielen Ausgegrenzten hierzulande ohne Stimme und ohne Gesicht oder die Lebensverhältnisse in den sogenannten peripheren Gesellschaften.
Diese Themen sollten mit den Politiken im Rahmen der G8, mit Verschuldung und Weltmarktkonkurrenz, aber auch mit den hiesigen Produktions- und Konsumweisen in Verbindung gebracht werden.
Schließlich: Vielleicht gelingt es, Begriffe zu finden, in denen sich die aktuellen Kämpfe und Anliegen verdichten und ihnen eine gemeinsame Perspektive geben. Das zapatistische "¡ya basta!" oder "Eine andere Welt ist möglich!" haben diese Funktion.
c) Gelebte Alternativen
Globaler Protest darf sich nicht in inhaltlicher Kritik erschöpfen, sondern muss sich in einen kreativen Prozess umwandeln. Dabei geht es um das fragende Voranschreiten hin zu einer Veralltäglichung von Widerstand, dem Aufbau und Leben von Alternativen. Die G8-Mobilisierung muss sich als Teil verschiedener Formen des praktizierten sozialen Protests verstehen, in all seiner Widersprüchlichkeit. Ein Bewusstwerden dieser Widersprüche aus einer kritischen Betrachtung der eigenen Bewegungen heraus kann ebenso wie das bewusste Umsetzen alternativer Organisations- und Lebensformen Perspektiven aus dieser Widersprüchlichkeit öffnen. Dieser Prozess muss von vornherein darauf angelegt sein, sich über die thematischen, gesellschaftlichen, nationalen Grenzen hinweg zu erstrecken. Das dissent!-Spektrum kann hierfür in mancher Hinsicht ein Beispiel sein: Vor dem Gipfel in Schottland 2005 gelang eine europaweite Mobilisierung, deren Ausrichtung und Strukturen nun als Basis für die Mobilisierungen gegen die Gipfel in Russland und Deutschland dienen können.
d) Spaltungen vorbeugen
Auf drei Entwicklungen müssen wir gefasst sein. So wird es erstens von herrschender Seite den Versuch geben, die Proteste zu delegitimieren. Die Staatslenker präsentieren sich als die moralisch aufgeklärten RealpolitikerInnen und weisen uns in die Ecke der Spinner.
Zweitens - das lehren die Erfahrungen aus vergangenen Protesten - wird es Versuche geben die Bewegung zu spalten. Bei verschiedenen Gipfeln der letzten Jahre wurde versucht, kritische Stimmen durch eine Strategie der Vereinnahmung zum Schweigen zu bringen. Events wie ‚Live Aid' und die ‚make poverty history'-Kampagne, die den G8 2005 in Gleneagles begleiteten, haben Protest erfolgreich kanalisiert und die G8 so als legitime Adressatin von Forderungen nach einer ‚gerechteren Globalisierung' stilisiert. Den ‚dialogbereiten Globalisierungskritikern' wird zugehört oder gar - wie in Davos mit dem von offizieller Seite so genannten ‚Spielwiesen-Szenario' - ein offenes Forum geschaffen, auf dem sie ihre Anliegen vortragen dürfen. Die anderen werden als ‚Gewaltbereite' diffamiert. Wie erfolgreich die Mobilisierung gegen den Gipfel 2007 wird, hängt auch davon ab, ob es gelingt, auf den Versuch einer solchen Vereinnahmung nicht mit Spaltung und Abgrenzung zu reagieren, sondern die geäußerte Kritik aufzunehmen und zu radikalisieren. Damit zusammenhängend ist es drittens wahrscheinlich, dass gegen die Proteste oder zumindest bestimmte Protestformen repressiv vorgegangen wird. Daher ist es wichtig, dass bereits heute Antirepressions-Kampagnen entstehen und die lokale Bevölkerung gewonnen wird.
Um diesen Strategien zu begegnen, benötigen wir solidarische Diskussionen. Da Diskussionen Zeit brauchen, sollten wir nicht, wie es in der Bewegungslinken immer wieder passiert, unter dem zeitlichen Druck zur Aktion auf Klärung und produktiven Streit verzichten. Vielmehr gilt es, diese zu nutzen, um die Dynamiken des Protests zu reflektieren, aus ihnen zu lernen und so handlungsfähiger zu werden.
Ausblick
Die Bundeskoordination Internationalismus (BUKO) als ein Dachverband internationalistischer Gruppen möchte diesen Prozess der Verständigung und Vernetzung unterstützen und ein Forum bieten, Diskussionen in der nötigen Breite und Pluralität zu führen - unter anderem auf den beiden kommenden Kongressen.3
Der Erfolg der Proteste hängt zum einen davon ab, in wieweit es gelingt, nicht nur inhaltlich, sondern auch in Bezug auf die Organisation über den G8-Gipfel hinaus zu gehen. In der Vergangenheit wurden vielfältigen Erfahrungen in ähnlichen Mobilisierungen gemacht. Diese gilt es kritisch-reflektierend aufzunehmen, anstatt jede Gipfelmobilisierung neu zu erfinden. Ziel muss sein, dauerhafte und konsistente Strukturen aufzubauen, die lokale mit globalen Kämpfen in Verbindung setzen, sozialen Protest vernetzen und stärken. Zugleich heißt es aber auch, keinen ‚Großen Wurf' vorzubereiten, sondern die Mobilisierung als einen offenen Prozess zu betrachten, in dessen Rahmen Alternativen bereits gelebt werden können.
Die Mobilisierung gegen den G8-Gipfel hat viel erreicht: Wenn die herrschenden Verhältnisse klug und kreativ kritisiert und delegitimiert wurden, d.h. die verschiedenen Aktionen und Veranstaltungen gegen den Gipfel breit ausstrahlen; wenn grundlegend emanzipative Perspektiven, d.h. anti-imperiale und kapitalismuskritische, anti-rassistische, feministische und radikalökologische Positionen innerhalb und jenseits des Protestspektrums gestärkt werden; wenn rechte Positionen keine Chance hatten, ihre ‚Kritik' hörbar zu machen; wenn mehr Menschen bereit sind, sich auf vielfältige Weise in ihrem Alltag gegen die wirtschaftsliberalen und repressiven Muster zu verhalten; wenn solidarische Formen politischen, sozialen, kulturellen und ökonomischen Zusammenlebens gestärkt und neue entwickelt werden.
Wenn eine emanzipatorische Linke stärker wird und sich darüber hinaus mit ihren unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungen kritisch-solidarisch aufeinander bezieht - dann können gerechte und freie, friedliche und nachhaltige Verhältnisse geschaffen werden.
Arbeitsschwerpunkt Weltwirtschaft der Bundeskoordination Internationalismus (BUKO), März 2006
Der ASWW möchte mit diesem Text zur Diskussion einladen. Erreichen könnt ihr uns unter asww@buko.info. Auf dem BUKO 29 in Berlin wird es einen Workshop geben, in dem das Papier zur Diskussion gestellt wird. Alle Interessierten sind herzlich eingeladen!
1 Raum für eine Analyse der Bewegung und für vertiefende Auseinandersetzung mit der G8 bietet die demnächst erscheinende Broschüre des ASWW.
2 USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien, Japan; 1976 kam Kanada hinzu, 1977 die EU-Kommission. Die russische Regierung nimmt seit 1994 an den Treffen teil und ist seit 1998 formelles Mitglied (allerdings bis 2006 nicht für alle Bereiche).
3 Der 29. Bundeskongress "re:control. antworten, abweisen, aneignen" findet vom 25. bis zum 28. Mai in Berlin statt. Einer der Schwerpunkte wird die G8 sein, weitere Informationen unter www.buko.info.
[als pdf mit allen Formatierungen unter http://gipfelsoli.org/Heiligendamm/buko/asww_G8.pdf]