2006-04-08 

8.4.2006 Genua

Wolf-Dieter Narr Berlin, den 28.3.2006

Beobachtung der Prozesse in Genua am 23.und 24. März 2006 in Sachen Polizeibrutalitäten im Umkreis der Demonstrationen gegen den G 8 - Gipfel im Juli 2001

1. Am Donnerstagmorgen, den 23.3. 2006 nahm ich von 10 Uhr bis ca.12.30 Uhr, dem Ende Gerichtstages an Anhörungen und Befragungen von zwei italienische Zeugen teil, die als Zeugen der Anklage von ihren Beobachtungen um und in der "Diaz-Schule" berichteten. In dieser hatten nicht zuletzt viele deutsche Teilnehmende am demonstrativen Geschehen Unterkunft gefunden.
Am Freitagmorgen, den 24.3. 2006 war ich bei der Befragung zweier italienischer Zeugen zwischen 9.30 und 12 Uhr zugegen, abzüglich einer halbstündigen Pause von 11 - 11.30 Uhr, die sich in der zur polizeilichen Haftanstalt umfunktionierten Bozaneto-Kaserne aufhielten. Am 12 Uhr musste ich mit meiner terminlich anders gebundenen Übersetzerin meine Anhörung der Anhörung beenden.

2. Mein Bericht beschränkt sich aus drei Gründen auf wenige Aspekte. Zum einen bestätigten die Zeugen, soweit ich das spontan beurteilen konnte und ohne genaue Lektüre der Einlassungen auch Tage danach kann, die gesammelten Beobachtungen derjenigen, die polizeilich in der Diaz-Schule und im Bolzaneto verängstigt, in die Flucht getrieben, geschlagen, gestoßen, geknebelt und bis an die Foltergrenze misshandelt worden sind. Ohnehin nicht legitime Gründe dafür wurden von den Zeugen nicht vorgetragen. Zum zweiten konnte ich infolge der mir nur punktuell (brocken- oder brosamenhaft) zugänglichen Simultanübersetzung nur die hauptsächlichen Informationshappen der Zeugen mitbekommen, nicht jedoch dem genauen Duktus der Befragung, einschließlich der Fragen der RechtsanwältInnen beider Seiten insgesamt folgen. Zum dritten werden die Protokolle, wie ich annehme, den AnwältInnen der Anklage bald zur Verfügung stehen, sodass sie auch von denjenigen genutzt werden können, die die beiden Verfahren begleiten und zugunsten der Klagenden auswerten. Diese Auswertung wird sehr wichtig, wenn nicht ausschlaggebend dafür sein, ob es gelingt, das sich lang-weilig dahinziehende Verfahren immer erneut politisch zu stauen und politisierend auszubeuten - damit die pauschale Entschuldung misslinge, die in der Art des Verfahrens angelegt ist, selbst wenn die Klagenden schließlich und endlich irgendwann in der Zukunft "Recht" bekommen sollten.

3. Das gerichtliche Arrangement
a) Der Einlass in den modernen Palazzo di Guistizia, vor dessen Türen andauernd ein reges Kommen und Gehen aller möglichen Leute und Interessenten quillt, ist wider mein eigenes �bundesdeutsch� geschultes Erwarten denkbar einfach. Das, was man dabei hat, legt man in das an Flughäfen, ander- und eben auch gerichtswärts übliche "Röntgengerät" mit durchlaufendem Band. Danach musste ich nur am Donnerstag, nicht jedoch am Freitag meinen Pass vorlegen. Und schon kann man weiter zum Gerichtsraum schreiten. Infolge meiner Erfahrungen vom Donnerstag nahm ich am Freitag meinen gesamten propenvollen Reiserucksack mit, in dem sich außerdem noch am Abend zuvor geschenkte Genueser Steine befanden. Nicht einmal eine Nachfrage hielt mich auf. Also kam ich mit immerhin 5 bis 10 steinigen Wurfgeschossen in den Gerichtssaal. In der BRD, jedenfalls in irgendwie entfernt politisch angehauchten Strafverfahren an denen ich selbst teilgenommen habe - von Stuttgart-Stammheim bis Berlin-Moabit -, wäre das schlechterdings ausgeschlossen gewesen. Anlässlich meiner letzten Prozessbeobachtung in Moabit durfte ich froh sein, wenigstens einen Bleistift, keinesfalls einen Kugelschreiber und ein weißes Blatt Papier in den Zuschauersaal mitnehmen zu können (mein Protest blieb unerwidert).

b) Der sich links nach dem Durchgang ebenerdig befindliche rechtseckige Gerichtssaal mutet groß und betonern schmucklos an, an den Seiten unauffällig schwarze, an der Stirnseite graue und darunter rote Plattenverkleidungen. Von den mit beweglichen Eisengestellen abgetrennten Zuschauern aus gesehen, für die an beiden Tagen nur ca. zwanzig, ihrerseits kaum wahrgenommene Plätze nahe dem Eingang reserviert worden waren, fiel an der Stirnseite des Saals zur Rechten nur eine Christusfigur auf (in Italien gibt es also noch eine Justitia Crucis wie lange in der BRD, jedenfalls in ihren primär katholischen Ländern; dort z.T. mutmaßlich heute noch. Angeklagt und anwaltlich sollte man das m.E. nicht einfach hinnehmen auch und gerade, wenn man sich als überzeugter Christ(in) fühlt). Leicht erhöht hatte der jeweils vorsitzende Richter mit zwei Beisitzerinnen - habe ich das recht wahrgenommen - auf der Stirnseite Platz genommen. Zwischen ihm und den spärlich präsenten, weggestellten Zuschauenden erstreckten sich, in zwei kleinere Rechtecke aufgeteilt, die Plätze der AnwältInnen beider Seiten. Nach ihnen weiteten sich ca. 10 Sitzreihen unmittelbar bis zu den abgesperrten Zuschauersitzen. Auf ihnen saßen am Donnerstag Frau RA Cordula Proescher und ich (Frau Proescher hatte sich freundlicherweise erboten beim Übersetzen behilflich zu sein); am Freitag harrten sie leer ihrer Besetzung. Die beiden rechtsanwaltlich bald fülliger, bald spärlicher wahrgenommen Anwaltsrechtecke frontal zum Gericht, strikt parallelisiert, fielen dadurch auf, dass sich fragend allenfalls eine oder ein Rechtsanwalt engagierten. Alle sonst beteiligten Gerichtsakteure kamen und gingen, unterhielten sich, zogen ihre mit besonderen Kordeln ausgezeichneten Anwaltkutten an und aus - insgesamt von außen betrachtet ein reges Anwaltstreiben, das mit dem aktuellen Verfahren allenfalls im Sinne der Gesichtspflege zu tun zu haben schien (dieses eher ethnologische Verwundern meinerseits kann aufgrund genauerer Kenntnis der italienischen Gerichtsordnung und des Strafprozessrechts gewiss leicht aufgeklärt werden. Ich will mich also nicht im geringsten eines teutonischen Vorurteils schuldig machen).

c) Die Zeugenaussagen am Donnerstag unterschieden sich von denen am Freitag nicht nur durch die unterschiedlichen Orte fragwürdiger polizeilicher Tätigkeit im Kontext des 2001er G 8-Gipfels und seiner antiglobalistischen Demonstrationen (Diaz-Schule hier, Bolzaneto-Kaserne dort). An der donnerstäglichen Zeugenbefragung nahmen, wenn auch nicht in stichomythischer Hektik, beide Anwaltseiten teil. Am Freitag schienen sich die die Polizei/den Staat verteidigenden AnwältInnen um die Beschreibungen der Zeugen, die massive Brutalitätsschuld der Polizei unerkenntlicher Verursachung belegten, nicht zu kümmern. Am Donnerstag schaltete sich der vorsitzende Richter ab und an, auf Kürzung oder Klärung pochend ein - soweit ich das mitbekommen habe -; am Freitag verkündete er vor allem die auf 10 Minuten begrenzte, dann die dreifache Länge erreichende Pause zwischen den Befragungen, nachdem der 1. Zeuge zu Ende gesprochen, mitnichten informationell ausgequetscht worden war.

d) Selbstverständlich habe ich mir auch substantielle Aspekte der Ereignisschilderung durch die Zeugen notiert. Das gilt insbesondere für die ausgezeichneten, auch in seinem Nichtwissen genauen Aussagen eines Arztes - den Namen haben ich nicht genau gehört und vergaß zu fragen- , der in der Diazschule den Sanitätsdienst organisiert hat. Allein seine Aussagen, so sie zusätzlich bestätigbar oder umgekehrt nicht widerlegbar sein sollten, müssten für eine Verurteilung nota bene nicht einzelner PolizistInnen, sondern der Polizei- und - das gilt es u.a. anwaltlich herauszufinden - hinter ihr der Politik führen. Ich notierte jedoch meine gehörten Ereignisbrosamen- und Brocken für andere lesbar nur - siehe meine Bemerkungen oben -, wenn sie irgendeinen auch nur geringen Nutzen erbringen könnten. Meine Notizzettel bewahre ich selbstredend auf.

4. Ich schließe mir einer großen Bitte. Alle, die Zeugenaussagen machen, insbesondere bundesdeutsch an der Demo Beteiligte und alle, die den Prozess an dieser oder jener Stelle in den nächsten Wochen und Monaten beobachten, möchten umgehend ihre Aussagen und Beobachtungen in gebotener Kürze und Ausführlichkeit notieren (so die zuerst Genannten dies hoffentlich nicht schon längst unmittelbar nach der Demo im August 2001 getan haben). Dann könnte es zusammen mit anderen Dokumenten und Kontextkenntnissen gelingen, aus dem diesjährigen Abschnitt des Verfahrens für die Klagenden (und seinerzeit Geschlagenen) zuerst, aber auch politisch weitergehend bis zur Globalisierungskritik politische Funken menschenrechtlich demokratischer Qualität zu schlagen (die herrschende Form der Globalisierung, der Konferenzen der kapitalistisch und etatistisch im unterstützenden Wechselspiel Herrschenden und die sicherheitsstaatlichen Totalitarismen ergänzen sich).

Berlin, den 28.3.2006

Wolf-Dieter Narr