2006-05-16 

16.5.2006 Genua

G8-Gipfel vor Gericht
Genua-Prozesse kommen ins Rollen

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G8-Gipfel vor Gericht

Juristisches Verwirrspiel um die Repression in Genua 2001
von Anneke Halbroth mit Supporto Legale Genua

Seit dem G8-Gipfel in Genua im Sommer 2001 sind fast fünf Jahre vergangen, und geblieben sind nicht nur die Bilder von kraftvollen Protesten, sondern auch die Erinnerungen an einen Gipfel, der viel Polizeigewalt und Repression mit sich brachte.

Die öffentliche Aufregung hat sich gelegt, in Italien und anderswo; und die Vorgänge der Tage im Juli beschäftigen zur Zeit vor allem die Justiz. Derzeit werden vor dem Genueser Gericht mehrere Prozesse verhandelt. Davon sind in drei Prozessen Polizisten, aber auch Ärzte und Pflegepersonal angeklagt; in einem vierten Prozess stehen 25 italienische AktivistInnen vor Gericht.
- Das Perugini-Verfahren gegen sieben Polizisten ist wegen seiner eindeutigen Beweislage fast abgeschlossen.
- Daneben gibt es einen Prozess gegen die Beteiligten an den Misshandlungen in der Polizeikaserne Bolzaneto, einer Art temporäre Gefangenensammelstelle, in der die Verhafteten vor ihrem Transport in verschiedene Gefängnisse festgehalten wurden.
- Im sog. Diaz-Prozess müssen sich seit April 2005 29 Polizisten und ihre (teils hochrangigen) Vorgesetzten wegen des Überfalls auf die beiden Diaz-Schulen nach Ende der Demonstrationen verantworten.
- Im ersten großen Prozess gegen AktivistInnen wird 25 italienischen DemonstrantInnen gemeinschaftliche Verwüstung und Plünderung vorgeworfen (obwohl sie sich zum Teil bis zum Prozessbeginn überhaupt nicht kannten).

Der Perugini-Prozess

Die DIGOS ist die politische Abteilung der Polizei, die sowohl strafrechtliche Ermittlungen führen, als auch Prävention betreiben soll. Ihr Tätigkeitsfeld reicht von den von Hooligans über Bewegungen der Linken und Rechtsextremismus bis zu islamistischem und anderem Terrorismus. Sieben Polizisten dieser Einheit stehen im Perugini-Verfahren vor Gericht. Sie haben am Nachmittag des 21. Juli 2001 eine Gruppe junger Leute angegriffen und misshandelt, die am Rande der Hauptdemonstration saßen. Sie schlugen ohne jede Vorwarnung los, weil diese sie angeschrieen hatten.

Die Video-Aufnahmen von diesem Vorfall sind so eindeutig, dass die Verteidigung dem Hauptzeugen nicht eine einzige Frage während seiner Aussage stellte. Gezeigt wurde bei dieser Gelegenheit eine Videoaufnahme, auf der ein sehr junger Mann, vielleicht 15 Jahre alt, zu sehen ist, der von Polizisten verprügelt wird. Einige halten ihn fest, einer tritt ihm ins Gesicht. Der junge Mann blickt dann in die Kamera, und es ist deutlich zu sehen, dass seine Kiefer- und Augenknochen gebrochen sind.

In diesem Prozess, der wesentlich zügiger vorangetrieben wurde als die anderen, hat ein Polizist aus Mailand (Giuseppe De Rosa) seine Schuld bereits eingestanden und wurde zu einem Jahr und acht Monaten Haft sowie 10.000 Euro Geldstrafe verurteilt. Die Urteile für die anderen sechs werden in Kürze erwartet. Unter ihnen sind auch je ein Angeklagter im Diaz- und im Bolzaneto-Prozess.

Der Bolzaneto-Prozess

Die Bolzaneto-Kaserne ist normalerweise eine Kaserne der Carabinieri, die im strikten Sinne keine eigene Form der italienischen Polizei sind, sondern neben Marine, Luft- und Bodenstreitkräften die 4. Armee des italienischen Militärs bilden. Die tatsächlichen Aufgaben der Carabinieri unterscheiden sich allerdings von denen der Polizei (Polizia di Stato) faktisch nicht. Für die vielen Verletzten unter den etwa 300 Menschen, die während und nach dem G8-Gipfel in der temporären Gefangenensammelstelle Bolzaneto interniert waren, bedeutete dies, mit Militärärzten, -pflegerInnen und -wachpersonal konfrontiert zu sein. Nach einigen Tagen wurden alle nach der Anhörung durch den Haftrichter in verschiedene Gefängnisse verlegt.

Der Aufenthalt in Bolzaneto wurde von vielen, die dort waren, als traumatisch beschrieben. Fast alle sind massiv misshandelt und psychisch unter Druck gesetzt worden. Dazu gehörten teilweise bis zu 18 Stunden Stehenmüssen, Schlafentzug, Verweigerung des Toilettenbesuchs, Toilettenbesuch unter direkter Aufsicht, Spießrutenlauf mit erheblicher Gewaltanwendung, permanente Androhung weiterer physischer Gewalt, Androhung sexueller Gewalt, Erniedrigung insbesondere in Verbindung mit dem Zwang, sich ausziehen zu müssen, das Anhören und Singenmüssen faschistischer Lieder, Mussolini-Bilder an der Wänden. Auch die teils schwer Verletzten, die direkt aus dem Krankenhaus in die Kaserne transportiert wurden, wurden kaum oder gar nicht medizinisch versorgt und waren denselben Misshandlungen ausgesetzt.

Im Prozess sind insgesamt 45 Personen angeklagt, die in Bolzaneto an den Misshandlungen beteiligt waren oder sie zumindest nicht verhindert haben: PolizistInnen (Carabinieri und DIGOS), Aufseher, Ärzte, darunter der oberste Arzt der Kaserne, und das medizinische Pflegepersonal.

Kaum jemand geht davon aus, dass dieses Verfahren überhaupt zu Ende geführt wird. Es gilt eine Verjährungsfrist von nur 7,5 Jahren und dabei spielt bizarrerweise überhaupt keine Rolle, dass das Verfahren bereits läuft. Das bedeutet, dass es innerhalb der nächsten zweieinhalb Jahre abgeschlossen werden müsste, und das ist angesichts der großen Zahl von Angeklagten und Hunderten von ZeugInnen vollkommen unwahrscheinlich.

Italien hat die UNO-Konvention gegen Folter nicht ratifiziert, und damit ist die Bandbreite der im Prozess möglichen Anklagen stark eingeschränkt. Drei Tage lang waren diejenigen, die in Genua verhaftet worden waren, ohne Kontakt zur Außenwelt, zu AnwältInnen oder ihren Familien, vollkommener Willkür ausgesetzt. Die Vorgänge in der Kaserne sind allgemein bekannt. Vieles von dem, was die ZeugInnen Woche für Woche aussagen, dürfte jedoch unter den Tisch des Strafrechts fallen. Verhandelt werden Körperverletzungen und Verletzung der Amtspflicht, aber nicht die psychischen Misshandlungen, der Schlafentzug, das stundenlange Stehen und etliches andere, das als systematische körperliche Misshandlung im Amt zweifellos als Folter bezeichnet werden muss. Der Prozess wird dadurch erschwert, dass im Unterschied zu allen anderen Verfahren kein Video- oder Fotomaterial existiert und die ZeugInnen damit bei der Identifikation ihrer Peiniger ausschließlich auf ihr Gedächtnis angewiesen sind.

Der Diaz-Prozess

Der �Diaz-Prozess' ist das Verfahren, das den nächtlichen Übergriff mehrerer Polizeieinheiten auf zwei gegenüberliegende Schulen, die gemeinsam �Diaz-Schule' heißen, juristisch zumindest teilweise aufarbeitet. In der einen, der Pertini-Schule, wurden in der Nacht vom 21. auf den 22. Juli 2001 nach einem beispiellosen Gewaltexzess der Polizei 93 Menschen festgenommen - alle, die sich in der Schule aufhielten und denen es nicht gelungen war, zu flüchten. Fast alle waren verletzt, 63 mussten im Krankenhaus behandelt werden. Mehrere waren lebensgefährlich verletzt, einige lagen im Koma, viele leiden bis heute unter den physischen und psychischen Folgen des Übergriffs. Die Pertini-Schule war vom Genua Sozialforum (GSF) als Übernachtungsort für die Dauer des G8-Gipfels angemietet worden; tagsüber fanden hier Versammlungen und bspw. Anti-Gewalt-Trainings statt.

In der gegenüberliegenden Pascoli-Schule waren die Büros des Sozialforums, der AnwältInnen, der SanitäterInnen und das unabhängige Medienzentrum Indymedia untergebracht. Auch diese Schule stürmte die Polizei. Hier wurde aber mit wenigen Ausnahmen niemand geschlagen. Allerdings mussten sich alle Anwesenden teils auf den Bauch legen, auf den Boden setzen oder an die Wand stellen. Es war ihnen etwa eine Stunde lang nicht erlaubt zu sprechen oder zu telefonieren. Die Möglichkeit des Einsatzes derselben brutalen Gewalt wie sie gegenüber angewendet worden war, schwebte in der Luft, und die Schreie waren deutlich zu hören. Für alle, die in der Schule waren, gilt, dass sie rechtswidrig und ohne Angabe von Gründen festgehalten wurden. Insbesondere Video-Aufnahmen wurden entwendet und die Computer der AnwältInnen des Genua Legal Forum zerstört.

Vorwand für den Einsatz war ein angeblicher Angriff auf einen Polizei-PKW, der am frühen Abend durch die sehr enge Strasse zwischen den beiden Schulen gefahren war. Dabei kam es zu Rufen und möglicherweise zum Wurf einer Flasche, die allerdings keinen Schaden anrichtete. Die Polizei beschreibt den Vorfall als massiven und bedrohlichen Angriff auf die im Wagen sitzenden Beamten. Es sei erforderlich gewesen, den sich in der Diaz-(Pertini-)Schule aufhaltenden �Black Bloc' dingfest zu machen. Diese Begründung löste die spontane Planung einer Operation aus, an der verschiedene Einheiten der Carabinieri, der DIGOS und der Bereitschaftspolizeien beteiligt waren.

Auf einer Pressekonferenz am Tag darauf präsentierte die Polizei zahlreiche Waffen, darunter zwei Molotov-Cocktails, als die angeblichen Ergebnisse ihrer Razzia gegen den "Schwarzen Block". Die Polizei-Einheiten, die die "Razzia" durchführten, seien massiv angegriffen worden, als sie sich der Schule näherten. Ein Polizist sei sogar mit einem Messer attackiert worden.

Es ist der jahrelangen Arbeit der AnwältInnen des Genua Legal Forum, den AktivistInnen im Büro der Segreteria Legale [1] und den Genueser Staatsanwälten Zucca und Cardona [2] zu verdanken, dass einige der tatsächlichen Geschehnisse dieser Nacht ans Licht kamen und dass heute Polizisten und nicht DemonstrantInnen vor Gericht stehen. Alle 93 Festgenommen waren zunächst der Mitgliedschaft in der kriminellen Vereinigung "Black Bloc" angeklagt und mit einem fünfjähriges Einreiseverbot für Italien belegt worden. Diese Klagen sind inzwischen alle eingestellt.

Die polizeiliche Rechtfertigung von damals ist heute als Lügenkonstrukt entlarvt: Die Waffen? Waren Zeltstangen, Hausmeisterwerkzeug und Baumaterial, denn die Schule war eingerüstet und wurde gerade saniert. Der Angriff auf die Polizei? Hat, dokumentiert durch Video-Aufnahmen, nie stattgefunden. Im Gegenteil haben die wenigen, die überhaupt wach waren, verzweifelt versucht, andere zu wecken und nach hinten aus der Schule zu flüchten. Die Molotow-Cocktails? Sind von der Polizei selbst mitgebracht worden. (Der entscheidende Zeuge, der als einziger bei seiner Aussage blieb, hatte sechs Tage vor Prozessbeginn einen schweren Motorradunfall.) Der Messerangriff, belegt durch Stiche in einer Uniformjacke? Hat auf einem Polizei-Tisch stattgefunden, gegen die Jacke, allerdings ohne den Beamten darin.

Wahrscheinlich handelt es sich bei Massimo Nucera, dem angeblich angegriffenen Beamten, um den einzigen unter den in diesem Verfahren vor Gericht stehenden Polizisten, der vermutlich selbst zu den Prügelnden gehörte. Allerdings ist er nicht der Körperverletzung angeklagt, denn die ist ihm nicht individuell nachzuweisen, sondern - wie die anderen 28 Polizisten - der Beihilfe zur Körperverletzung. Die weiteren Vorwürfe lauten: Verleumdung und unrechtmäßige Anklage, Fälschung von Beweisen sowie Nicht-Verhinderung von Straftaten.

Unter den Angeklagten finden sich auch die Polizeiführer, denen nachgewiesen werden konnte, dass sie an der Planung des Einsatzes beteiligt waren und/oder deren Anwesenheit vor Ort dokumentiert ist:
- Gianni Luperi, Vize-Chef des UCIGOS (Zentrale Koordination der politischen Polizeiabteilungen und DIGOS-Koordinationsbüro) und während des G8 verantwortlich für die "Sala Internazionale delle Polizie" (ein spezieller Saal in der Einsatzzentrale, der eigens für die Zusammenarbeit mit ausländischen Polizeien eingerichtet wurde). Luperi ist heute ministerieller Beamter im DCPP (Dipartimento Centrale Polizia di Prevenzione), dem vom obersten Polizeichef Gianni De Gennaro zur Zentralisierung der polizeilichen Informationsgewinnung gegründeten "italienischen FBI";
- Francesco Gratteri, im Jahre 2001 Chef des Servizio Centrale Operativa SCO (Zentrale Operative Einheit - Bereitschaftspolizei), Antiterrorismus-Experte, rechte Hand von De Gennaro; heute weiterhin mit speziellen Aufgaben bei der Terrorismus-Bekämpfung betraut und Quästor (Polizeichef) von Bari;
- Gilberto Calderozzi, Gratteris Stellvertreter;
- Vincenzo Canterini und sein Vize Fournier. Canterini war 2001 Leiter der 7. Abteilung des römischen Reparto Mobile, einem Sondereinsatzkommando mit 1.000 Bereitschaftspolizisten, das speziell für Demonstrations- und Protestbegleitung ausgebildet ist. Am Abend des Überfalls auf die Diaz-Schule war er an der Spitze einer 70-köpfigen Sondereinheit aus dieser Abteilung, die einige Zeit zuvor als eine Art "Pilotprojekt" gegründet wurde und die Schwerpunkte Nahkampf und Aufstandsbekämpfung hatte.
- Präfekt (Vertreter der Zentralregierung in der Provinz) Arnaldo La Barbera, Chef des UCIGOS, historische Figur in der Geschichte der "Squadre Mobili" (mobile Kriminalpolizeieinheiten), inzwischen gestorben;
- Spartaco Mortola, der Chef einer Genueser DIGOS-Einheit;
- Nicht angeklagt, aber auf einer Reihe von Video-Aufnahmen des Überfalls deutlich zu erkennen ist Lorenzo Murgolo, der im Sommer 2001 Vize-Quästor von Bologna und Chef der DIGOS-Einheiten dieser Stadt war. Der Mann steht dem damaligen nationalen Vize-Polizeichef Andreassi, der heute Vize-Chef eines der italienischen Geheimdienste (SISDE) ist, sehr nahe.
Unter den übrigen Angeklagten sind ferner eine Reihe von Zugführern des Reparto Mobile, der Squadre Mobili, drei Beteiligte und Verantwortliche für den Überfall auf die Pascoli-Schule und Beteiligte am Transport der beiden Molotow-Cocktails.

Alle im Diaz-Prozess angeklagten Beamten sind inzwischen in Positionen befördert worden, die ranghöher als ihre vorherigen sind, aber auch weniger Aufsehen erregen. Bis heute wurde niemand vom Dienst suspendiert.

Die prügelnden Polizisten selbst sind jedoch immer noch nicht identifiziert. Sie waren maskiert und trugen Uniform, und ihre Chefs können sich offenbar leisten, darüber zu schweigen, wer sie sind. Damit ist es nicht möglich, die eigentlich relevanten Anklagen wegen Körperverletzung und versuchtem Totschlag zu verhandeln, denn die müssen konkret handelnden Personen zugeordnet werden können. Verhandelt wird ein Gewirr aus Falschaussagen und Verantwortlichkeiten: Alle wollen die Schule als letzte betreten haben, niemand war aktiv daran beteiligt, den Überfall zu planen und umzusetzen, obwohl doch nachgewiesen ist, dass der Überfall auf die Diaz-Schule von vielen gemeinsam ausgedacht war, um nach den Demonstrationen pressewirksam ein "Erfolgserlebnis" präsentieren zu können. Der Vize der italienischen Antiterror-Einheiten wurde mit den Molotow-Cocktails in der Hand gefilmt - er behält die Namen der beteiligten Schläger für sich und bleibt im Amt.

Bis zu Beginn dieses Jahres schien der Prozess noch durch eine Reform der Verjährungsfristen gefährdet, die nun zwar verabschiedet ist, aber die schon laufenden Verfahren nicht mehr betreffen wird. So gilt im Diaz-Schul-Prozess (anders als im Bolzaneto-Verfahren) mehrheitlich eine Verjährungsfrist von 15 Jahren - genügend Zeit also, um das Verfahren zuende zu führen.

Seit Januar sagen in Genua 46 in Deutschland lebende ZeugInnen aus, die in der Schule waren oder den Überfall von gegenüber beobachtet haben.

Der 25er Prozess

Seit März 2004 findet der erste große Prozess gegen 25 italienische AktivistInnen statt, die an den Demonstrationen am 20. und 21. Juli 2001 in Genua beteiligt waren. Sie sind gemeinsam sowohl der Bildung einer "Kriminellen Vereinigung" als auch der "Verwüstung und Plünderung" angeklagt. Dabei spielt keine Rolle, dass das, was ihnen vorgeworfen wird, zu ganz unterschiedlichen Zeitpunkten und an unterschiedlichen Orten stattgefunden hat. Bei einigen Angeklagten besteht der einzige Vorwurf darin, dass sie sich in der Nähe der Demonstration aufgehalten haben. Für die (schon der Definition nach gemeinschaftlich begangene) "Verwüstung und Plünderung" ist lediglich relevant, dass die Angeklagten psychisch beteiligt waren, d.h. anwesend und grundsätzlich mit der Tat einverstanden. Der zugrunde liegende Paragraf war zuvor ausschließlich kurz nach dem Zweiten Weltkrieg angewendet worden, als in einer rechtlich unklaren Situation in verschiedenen Städten Italiens bürgerkriegsartige Szenarien abgewendet werden sollten. Entsprechend hoch sind die vorgesehenen Strafen: 8-15 Jahre Haft.

Inzwischen scheint die italienische Justiz Geschmack an diesem Instrument gefunden zu haben: In einem Verfahren gegen Fussballhooligans kam es wegen des gleichen Straftatbestandes zu einer Verurteilung. Noch nicht formal eröffnet sind die Hauptverfahren gegen AktivistInnen in Turin und gegen 25 im März dieses Jahres festgenommene Beteiligte an einer Demonstration, die sich gegen einen Aufmarsch von Faschisten in Mailand richtete.

Im Genueser 25er Verfahren bemüht sich die Verteidigung zur Zeit nachzuweisen, dass die Gewalttätigkeit der Demonstrationen am Freitag und Samstag des G8-Gipfels vom Verhalten der Polizei ausgelöst wurde, und die DemonstrantInnen von ihrem legitimen Recht auf Notwehr Gebrauch gemacht haben. Dazu hat die Verteidigung in aufwändiger Arbeit im Prozess eingebrachtes Beweismaterial neu zusammengesetzt: Videoaufnahmen der Polizei, die teilweise mit an den Kameras angebrachten Helmen gefilmt worden waren, wurden auf eine Weise mit Videomaterial von AktivistInnen, Polizeifunkmitschnitten etc. in Verbindung gebracht, dass sie einen vernünftigen Zusammenhang ergaben. Inzwischen konnte so belegt werden, dass mindestens eine Einheit der Polizei vollkommen entgegen ihren Anweisungen die angemeldete große Demonstration der Tute Bianche unrechtmäßig aufgehalten und angegriffen hat. Dies fand statt an einer Stelle, die den DemonstrantInnen keine Möglichkeit bot, auszuweichen. Die entsprechende Einheit gehört zu den speziell für das Eindämmen von Ausschreitungen bei Demonstrationen ausgebildeten CCIR (Compagnie Di Contenimento e Intervento Risolutivo) und sollte kurz vor Beginn der Auseinandersetzungen (ohne überhaupt direkt mit der Demonstrationsspitze in Berührung zu kommen) an eine andere Stelle verlegt werden.

Der Ausgang des Prozesses gegen die 25 ist gegenwärtig schwer einzuschätzen, es ist aber anzunehmen, dass die Angeklagten mehrjährige Haftstrafen erwarten. Viele andere DemonstrantInnen aus Italien und anderen Ländern, die während und nach den Demonstrationen festgenommen wurden, leben seit Jahren mit der Unsicherheit, dass eventuell doch noch ein Gerichtsverfahren gegen sie eröffnet wird, ohne auch nur zu wissen, wessen sie angeklagt werden.

Keine Aufklärung vor Gericht

Was es bis heute in Italien (wie auch anderswo) überhaupt nicht gibt, ist eine Aufarbeitung dessen, was in den Tagen des Gipfels von Genua tatsächlich passiert ist, wer daran beteiligt war und wie. Bereits jetzt ist deutlich, dass die derzeit stattfindenden Prozesse eine derart umfassende Aufklärung nicht leisten werden. Vorläufig ist es alleinige Aufgabe der wenigen Unermüdlichen des spendenfinanzierten Rechtshilfe-Büros Segreteria Legale, die wöchentlichen Verhandlungen zu beobachten und zu dokumentieren.

Es bleibt die vage Hoffnung, dass sich die Mitte-Links-Regierung nach der Wahl an ihr im Wahlkampf gern wiederholtes Versprechen erinnert, endlich eine Untersuchungskommission damit zu beauftragen, die Vorfälle von Genua aufzuarbeiten.

Spendenkonto:
Banca di credito cooperativo di Casalgrasso e Sant'Albano Stura - Torino - C.so V.Emanuele
Kontonummer: 000130108433
Kontoinhaber: Associazione Culturale dei Ciompi onlus
IBAN: IT62 E088 3301 0000 0013 0108 433
SWIFT CODE: ICRAITMMN50
Zahlungszweck: supportolegale (unbedingt angeben)

www.supportolegale.org
info@supportolegale.org

[1] Die Segreteria Legale ist ein kleines, mit Spenden finanziertes Büro von AktivistInnen, hartnäckigen VerfolgerInnen der Rechtsbrüche von Genua, die den AnwältInnen technisch und inhaltlich zuarbeiten.
[2] Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Staatsanwälte im Diaz-Prozess nebenbei auch noch andere Prozesse zu führen haben, während die StaatsanwältInnen im sog. 25er Prozess gegen italienische DemonstrantInnen von allem anderen freigestellt sind.

[Bürgerrechte & Polizei/CILIP 83 (1/2006)]

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Genua-Prozesse kommen ins Rollen

Nachdem der G8-Gipfel in Genua vom Juli 2001 fast fünf Jahre zurückliegt, kommen nun die sich aus den Geschehnissen ergebenden Strafprozesse in Gang. Neben einem Verfahren gegen 25 italienische Aktivisten sind dies vor allem zwei große Prozesse gegen Polizisten und Gefängnisbedienstete, die den Überfall auf die "Diaz-Schule" betreffen. Hier haben Anfang des Jahres auch zahlreiche deutsche Opfer und Zeugen ihre Aussagen gemacht.

Was ist geschehen?

In der Nacht vom 21. auf den 22. Juli 2001 überfielen bewaffnete Spezialeinheiten der Polizei die Diaz-Schule in Genua, in der zu diesem Zeitpunkt knapp hundert Demonstranten schliefen, unter ihnen zahlreiche Deutsche. Die Schlafenden wurden verprügelt und anschließend festgenommen. Nachdem die 61 teilweise schwer verletzten Demonstranten in Krankenhäusern notdürftig behandelt worden waren, wurden fast alle noch in der Nacht oder in den Morgenstunden in die Polizeikaserne Bolzaneto gebracht, die am Stadtrand Genuas liegt. Dort wurden sie bis zum nächsten Morgen festgehalten und erneut Opfer polizeilicher Übergriffe, wie schon zahlreiche Teilnehmer der Demonstrationen an den Vortagen. Anschließend wurden die Betroffenen in die Gefängnisse Marassi, Voghera und Pavia gebracht, wo man sie zwei Tage später Haftrichtern vorführte. Hier hatten sie erstmals Gelegenheit, mit Anwälten und so mit der Außenwelt Kontakt aufzunehmen. Angesichts der schockierenden Schilderungen vor den Richtern begannen hier formal die Ermittlungen gegen die beteiligten Polizisten.

Parallel wurde ein Verfahren gegen die 93 festgenommenen Demonstranten eingeleitet. Neben der Beteiligung an einer umstürzlerischen Vereinigung namens "Black bloc", Widerstands, Waffenbesitzes etc. warf man Ihnen auch den Straftatbestand "Plünderung und Verwüstung" vor. Erst mit einem richterlichen Freispruch von allen Vorwürfen im Februar 2004 wurde ein endgültiger Schlussstrich unter diese Ermittlungen gezogen.

Hauptverhandlungen gegen Polizei erst nach vier Jahren

Im Frühjahr 2004 wurde das erste Vorverfahren gegen 29 Polizisten wegen des Überfalls auf die Diaz-Schule eröffnet, um festzustellen, ob gegen die Angeklagten genügend Beweise vorlägen. Am 13. Dezember 2004 wurde die Anklage in vollem Umfang zugelassen, die indes nur auf Körperverletzung lautet, obwohl mehrere der Schlafenden schwer verletzt worden und auch noch auf dem Boden liegend mit Stiefeln und Schlagstöcken am gesamten Körper traktiert worden waren. Vom 27. Januar bis zum 17. Mai 2005 folgte das Vorverfahren des so genannten Bolzaneto-Prozesses, in dem sich nun 47 Polizeibeamte und medizinische HelferInnen aus der Polizeikaserne unter anderem wegen Gewalt- und Fälschungsdelikten verantworten müssen.

Am 6. April 2005 schließlich begann die Hauptverhandlung gegen 28 Polizisten wegen des Überfalls auf die Diaz-Schule. Das Verfahren ging jedoch zunächst nur sehr schleppend voran und zog sich bis zur Sommerpause ohne große Fortschritte. Erst nach einer Änderung der Gerichtszusammensetzung und mit der Wiederaufnahme im Oktober 2005 nahm der Prozess Fahrt auf. Mit zwei Verhandlungstagen pro Woche wurde ein dichter Verhandlungszyklus festgelegt; bereits im November 2005 sagten die ersten Zeugen aus. Nach zwei Monaten Hauptverhandlung erließ der Vorsitzende Richter Barone eine Anordnung, mit der er sich die alleinige Anhörung solcher Zeugen erbat, die über neue Sachverhalte berichten können. Dies hätte zur Folge gehabt, dass dutzende Zeugen und Nebenkläger, die aussagen wollen, nicht gehört worden wären. Ende Februar 2006 wurde diese Anordnung zurückgezogen.

Sowohl im Diaz- als auch im Bolzaneto-Verfahren, wo die Hauptverhandlung im vergangenen Oktober begonnen hat, droht eine Verurteilung der Verantwortlichen aufgrund von Verjährung vereitelt zu werden, die in Italien nicht durch Verfahrenshandlungen unterbrochen wird. Zahlreiche Anklagepunkte im Bolzaneto-Verfahren verjähren aufgrund eines neuen Gesetzes nun bereits nach siebeneinhalb Jahren und die Verteidigung der angeklagten Polizisten ist bemüht, die Verfahren zu verschleppen. Darüber hinaus machen die Komplexität der Prozesse angesichts der großen Zahl der Geschädigten, Angeklagten und Zeugen sowie die aufwendigen Übersetzungen die Verfahren ohnehin bereits sehr langwierig. Insbesondere im Bolzaneto-Verfahren ist daher fraglich, ob überhaupt ein Urteil in erster Instanz ergehen wird.

Selektive Strafverfolgung

Auch wenn die Strafverfahren nunmehr in Gang gekommen sind, wird ein Großteil der begangenen Delikte nicht verfolgt. So gibt es bis heute kein Verfahren gegen die ausführenden Schläger während des Überfalls auf die Diaz-Schule, da die Namen der Polizisten aus den beteiligten Einheiten vor der Staatsanwaltschaft geheim gehalten werden. Lediglich die verantwortlichen Zugführer und einige niedrigrangige Polizisten stehen vor Gericht, weil sie Berichte unterzeichnet hatten und so zu ermitteln waren. Damit werden die ausführenden Schläger nicht verfolgt, ebenso wie diejenigen Straftaten, die nach dem Überfall während der Transporte, in den Polizeiwachen oder in den Krankenhäusern begangen wurden. Bezüglich letzterer wurde gänzlich auf Ermittlungen verzichtet, obwohl es hier zu schwerwiegenden Übergriffen gekommen ist und Ärzte massiv ihre Fürsorgepflicht verletzt haben. Auch im Bolzaneto-Verfahren ist nur ein geringer Teil der beteiligten Beamten einer Strafverfolgung ausgesetzt, weil sie anhand von Protokollen und Formularunterschriften identifizierbar waren.

Gesetze aus dem Faschismus gegen DemonstrantInnen

Parallel begann im März 2004 der Prozess gegen 25 italienische Demonstranten, die - wie zuvor bereits die Leute aus der Diaz-Schule - wegen "Verwüstung und Plünderung" angeklagt und so mit einem Strafmaß von acht bis 15 Jahren Haft bedroht sind. Die Anklage basiert auf Material, welches bei Hausdurchsuchungen beschlagnahmt wurde, und umfangreichen, rechtlich bedenklichen biometrischen Auswertungen von Bild- und Videomaterial.

Das dabei angewandte Gesetz lässt eine unter demokratischen und rechtstaatlichen Gesichtspunkten höchst fragwürdige Anklage zu. Es wurde während des italienischen Faschismus verabschiedet und in der Nachkriegszeit nur sehr selten angewendet. Erst in den letzten Jahren kam es zu einzelnen Verurteilungen gegen Fußball-Hooligans. Das Gesetz erlaubt bei dürftiger Beweislage und unter weitgehender Ausklammerung der Rahmenbedingungen ein hohes Strafmaß, auch wenn die konkreten Taten kaum über einfache Sachbeschädigung oder Diebstahl hinausgehen. Im Februar 2006 wurde der Prozess bis mindestens September ausgesetzt, da der Gerichtsvorsitzende bis Juli ein anderes Amt übernimmt. Im schlimmsten Falle muss der gesamte Prozess neu aufgerollt werden.

Das Unterstützernetzwerk

Drei große Unterstützergruppen befassen sich mit dem rechtlichen Nachspiel des G8-Gipfels: Das Genova Legal Forum (GLF) ist eine Vereinigung von RechtsanwältInnen, die sich angesichts des Gipfels formiert hatte. Nach den Protesten übernahmen zahlreiche AnwältInnen des GLF Mandate für die Betroffenen der Polizeirepression. Im Zuge dessen wurde ein Büro zur Koordination und Unterstützung eingerichtet, das Segretaria Legale. Dort arbeiten zahlreiche Helfer an der Koordination, Archivierung und Sichtung der Materialien sowie der Dokumentation der Prozesse. Das Comitato Verità e Giustizia (Komitee für Wahrheit und Gerechtigkeit) hat sich nach den Protesten gegen den Gipfel gegründet und will mit Öffentlichkeitsarbeit und Fundraising eine rechtliche und gesellschaftliche Aufarbeitung der Vorfälle vorantreiben. Es hat gute Beziehung zu oppositionellen Politikern und Prominenten aus Gesellschaft, Kunst und Kultur und verfügt über ein breites lokales Netzwerk in Genua selbst. Die Gruppe supportolegale ist vor Ort aktiv. Aus dem Spektrum des alternativen Nachrichtenportals Indymedia kommend, haben sich angesichts der Prozesse gegen die 25 Demonstranten zahlreiche Aktivisten Mitte 2004 zusammengetan, um eine kritische Gegenöffentlichkeit zum Fortgang der Prozesse in Genua aufzubauen und Solidaritätsarbeit für die Betroffenen zu organisieren.

Die deutsche Unterstützergruppe der Demonstranten sendet Prozessbeobachter nach Genua, um die Berichterstattung über die Prozesse in unabhängigen Medien zu unterstützen. Außerdem sammelt sie Spenden, um die wichtige und fruchtbare Arbeit des Segretaria Legale zu unterstützen.

Spendenkonto Italien:
Don Antonio Balletto
Swift Code CRGEITGG040
IBAN IT45 H061 7501 4000 0000 6135 980
Verwendungszweck: supporto legale

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Spendenkonto Deutschland:
Rote Hilfe Berlin
Konto Nr. 7189 590 600
BLZ 100 200 00
Stichwort: Genua

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