2007-06-01 

Raul Zelik: Sie sollen alle verschwinden

DAMPFWALZE – Von dem optimistischen Motto “Make Capitalism History” sind die Globalisierungskritiker noch weit entfernt. Gerade deswegen sollte man kräftig am Zaun von Heiligendamm wackeln
Während unserer Schulzeit erklärten uns wohlmeinende Gemeinschaftskundelehrer, das westliche System sei zwar nicht perfekt, wahrscheinlich nicht einmal besonders gut, aber immerhin die beste aller möglichen Optionen. Man musste kein ausgemachter Freund des “freien Westens” sein, um – zerknirscht – auf Erwiderung zu verzichten. Der Realsozialismus mochte sich gegenüber den Staaten des Südens anständiger verhalten als die BRD, sein Innenleben schien uns denn doch wenig attraktiv: kontrollfanatisch, bei aller Überorganisation miserabel organisiert und irgendwie muffig.

Außerdem muss man ja auch sehen: Im real existierenden Kapitalismus der achtziger Jahre funktionierten die Versicherungssysteme noch auf dem Solidarprinzip, und in Form der Sozialhilfe gab es sogar eine Art Grundsicherung, die zwar nicht so hieß und mit bürokratischer Schikane verbunden war, aber letztlich auch denen ein Auskommen bot, die sich außerhalb der Lohnarbeit engagierten. Das gesellschaftliche Leben war nicht perfekt, nicht einmal besonders gut geregelt. Aber schlechter als die realsozialistische Alternative war es eben auch nicht.

Heute ist alles anders. Ein System hat gesiegt und rollt nun wie eine Dampfwalze über die Menschheit hinweg. Egal ob VR China, Nigeria oder die Vereinigten Staaten – wir haben es mit Kapitalismus zu tun. Insofern muss man sich über Systemvergleiche nicht länger den Kopf zerbrechen. Und damit sind wir denn auch schon in Heiligendamm. Der G 8-Gipfel, der dort durch Polizeiketten, Sicherheitszäune, Bundeswehrsonderkommandos, Hubschrauber, Düsenjäger, Boden-Luft-Raketen vom “demokratischen Souverän” abgeschirmt stattfindet, beansprucht genau das zu repräsentieren: ein Weltsystem, das nicht frei von Spannungen ist, aber letztlich eben doch aus einem großen Ganzen besteht.

In gewisser Hinsicht ist es gar nicht schlecht, dass dieses teure, nutzlose zweitägige Staatschef-Dinner-Fotoshooting so ausdrücklich den Weltsystem-Anspruch formuliert. Zum einen wäre der latente Kampfzustand kapitalistischer Konkurrenz wohl längst wieder in einen offenen Krieg gekippt, wenn die mächtigen Staaten wie Anfang des 20. Jahrhunderts offen um Märkte und Ressourcen ringen würden. Eine wenig erbauliche Perspektive, die man mitdenken sollte, wenn man (mit Compatriota Chávez) für eine multipolare Welt plädiert.

Zum zweiten ist die Tatsache, dass es heute kein Innen und Außen mehr gibt, sondern nur noch Bereiche, in denen der Kapitalismus nicht ganz so intensiv implantiert ist, vor allem deswegen erfreulich, weil dadurch allgemein deutlich wird: Es handelt sich bei diesem System keineswegs um die beste aller Optionen. Oder anders ausgedrückt Dieses System ist ein Dreckssystem!

Die real existierende Globalmarktwirtschaft, die sich in Heiligendamm dieser Tage inszeniert, entbehrt nicht nur jeder Moral, sondern kränkt in ihrer Idiotie auch allen Verstand. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass in ihr zwar alles im Überfluss vorhanden ist, ein Drittel der Weltbevölkerung aber trotzdem unter Bedingungen lebt wie Menschen im zwölften Jahrhundert nach Missernte und Pestepidemie. Es ist eine Welt, in der man die größten Reichtümer dadurch anhäufen kann, dass man mit bereits existierenden Riesenreichtümern irgendetwas Kursnotiertes kauft (ziemlich egal was), das sich auf diese Weise so verteuert, dass man es innerhalb kürzester Zeit mit Gewinn wieder abstoßen kann. Dass dieser völlig durchsichtigen Raubmaschinerie dann auch noch größtes mediales Interesse beigemessen wird, spricht für das Ausmaß kollektiver Debilität.

Die G 8-Welt ist ein System, in dem globale Ereignisse in Jetzt-Zeit und nur zu einem Zweck miteinander verschaltet werden: Kapital zu mehren. Steigt die Ölnachfrage in industrialisierten Regionen, forciert man die militärische Eroberung von Förderfeldern in anderen Teilen der Welt, was wiederum eine kräftige Nachfrage nach Massenvernichtungsgütern nach sich zieht – womit sich schön Geld verdienen lässt. Wenn das Öl trotz des Kriegs teurer wird, was auch gut für Profite ist, fördert man – von Nachhaltigkeitsdiskursen angetrieben – den Anbau so genannter regenerativer Kraftstoffe. Dieses Zuckerrohr- oder Ölpalmenbenzin sorgt an einem Ort, beispielsweise in Brasilien, für die Ausbreitung von Kinder – und Sklavenarbeit, an einem anderen, zum Beispiel in Kolumbien, für die Zerstörung von Regenwald und für systematische Massenvertreibungen. Ökologische Nachhaltigkeit im Zeichen des Kapitalismus: die Ausbreitung des industriell modernisierten, rechtsradikalen Großgrundbesitzes auf der Südhalbkugel.

Die Liste von Unsinn und Gewaltverbrechen ließe sich endlos fortsetzen. Da gibt es einerseits unbegrenzte, aus abgewanderten Kleinbauern gespeiste Armee fast kostenfreier Arbeitskraft und andererseits die “Freisetzung” von jenen “Mitarbeitern”, die bislang von ihren Löhnen noch ganz gut leben konnten. In den Industriestaaten dreht die eine Hälfte der Bevölkerung durch, weil sie weder Arbeit noch Einkommen hat und deshalb gesellschaftlich inexistent ist, die andere, weil sie zwar über Einkommen verfügt, aber völlig überarbeitet ist und den Alltag nur noch hyperventilierend zu bewältigen vermag. In Kliniken für psychosomatische Erkrankungen trifft man sich dann und lässt sich – auf Kosten einer Krankenversicherung, die mit Sicherheit bald auch eigenverantwortlich finanziert werden muss – die Seele notdürftig wieder zusammenflicken. Insofern liegt eigentlich auf der Hand: Ein System, das so absurd an den Grundbedürfnissen vorbei organisiert ist, hat keine Existenzberechtigung und gehört abgeschafft, bevor es noch mehr Menschen abschafft.

Die freundlichen Gemeinschaftskundelehrer werden an dieser Stelle bedächtig nicken. Um mit einem Lächeln knapp oberhalb der Rollkrägen, zu bekräftigen: “Sicher, die erwähnten Punkte sind – auch wenn kausal nicht ganz so simpel miteinander verknüpft, wie eben unterstellt – echte Probleme. Aber genau deshalb bedarf es doch einer regulierenden Politik, wie sie ganz besonders von den G 8-Regierungen beschlossen werden könnte.” Die in Heiligendamm auf der anderen Seite des Zauns versammelten Damen und Herren könnten, so die Gemeinschaftskundelehrererzählung, von guten Argumenten und ein bisschen Protest bewegt, für jene Veränderungen sorgen, die wir uns alle so sehnlich wünschen.

Das Problem daran ist allerdings, liebe Rollkragenpädagogen, Bonos und Politikberatungs-NGOs, dass unser real existierendes Weltsystem nicht auf der Grundlage von guten Argumenten funktioniert. Die Prozesse, mit denen wir zu tun haben, sind vielmehr das Ergebnis handfester Macht- und Kräftebeziehungen.

Zwei ganz simple Beispiele: Wenn Millionen von HIV-Infizierten die benötigten Medikamente nicht erhalten, obwohl diese längst in ausreichender Zahl und zu minimalen Kosten produziert werden, hat das nicht damit zu tun, dass das Problem nicht ausreichend erörtert worden wäre. Die Millionen von HIV-Infizierten sterben allein deshalb, weil Pharmaunternehmen im Kapitalismus Gewinn erwirtschaften müssen und deswegen über Lobby- und Machtmaschinerien dafür sorgen, dass ihre Produkte künstlich verknappt werden. Das ist der Kern der Patentrechte, die zur Zeit gerade in den internationalen Freihandelsabkommen festgeschrieben werden: Produktion, also gesellschaftliche Grundversorgung wird limitiert und ihre Ausweitung unter Strafe gestellt, damit weiterhin Kapital akkumuliert werden kann.

Oder die Frage der Auslandsschulden: Das Wesen dieser Schulden besteht, zumindest in zahlreichen Fällen, darin, dass Großunternehmen und Industriestaaten zunächst dafür gesorgt haben, dass bestimmte Regime an die Macht kamen, dann die Privatbereicherung von Eliten im Süden mit Krediten finanziert haben und schließlich die Bevölkerung dazu gezwungen wird, diese Kredite, die sie nie aufgenommen hat, zurückzuzahlen. Diesen Zusammenhang muss man den G 8-Staatschefs nicht erklären. Die politische Mission unserer Staatseliten – Horst Köhler beispielsweise war als IWF-Direktor für die argentinischen Sparpakete mitverantwortlich – bestand in den vergangenen Jahrzehnten genau darin, diese ökonomischen Beziehungen aufrecht zu erhalten.

Und aus diesem Grund geht es dieser Tage – gegenüber den Regierungen – auch nicht um Dialog und Argumente. Es wird sich nur dann etwas ändern, wenn Gegenbewegungen entstehen, wenn Entschlossenheit, Druck und eine Spur von Macht entfaltet werden.

Die Gewaltdebatte, die in diesem Zusammenhang sofort von taz bis Wolfgang Schäuble eröffnet wird, verdeckt die realen Zustände. Die einigen Zehntausend Menschen, die in den nächsten Tagen protestieren wollen, werden, selbst wenn sie das wollten, gegen die Polizeiketten, Sicherheitszäune, Bundeswehrsonderkommandos, Düsenjäger, Boden-Luft-Raketen nicht ankommen. Sie werden die anwesenden Staatschefs nicht vertreiben, nicht mal die Anlieferung ihrer Mahlzeiten verhindern können. Gewalt wird auch in den kommenden Tagen von jenen ausgeübt werden, die das Monopol dazu beanspruchen und auf diese Weise dafür sorgen, dass der globale Unsinn weiter seinen Lauf nehmen kann. Es werden – wie schon am Wochenende in Hamburg – in erster Linie die Sicherheitsorgane sein, die schlagen, einkesseln, festnehmen, verängstigen, mit Gewaltmitteln verunsichern. Und gleichzeitig die Protestierer zu Gewalttätern abstempeln.

Trotzdem bietet Heiligendamm eine Chance. Der G 8-Gipfel hat letztlich nur eine symbolische Funktion. Staatseliten wollen Bilder produzieren, die vermitteln, dass das globale System politisch reguliert wird und deshalb alles unter Kontrolle ist. Der Protest dagegen wird nicht weniger symbolisch bleiben. Die Demonstranten werden jene Bilder produzieren, die vermitteln, dass sich Regierende nur abgeschirmt von jener Bevölkerung treffen können, die sie zu repräsentieren behaupten.

Im 20. Jahrhundert ist immer dann etwas erreicht worden, wenn sich in Eliten die Furcht vor grundlegenden, radikaleren Prozessen breit machte. In diesem Sinne geht es zwar nicht um den Dialog mit der Macht, aber schon um konkrete Erfolge – zum Beispiel um kostenlose Medikamente für HIV-Infizierte weltweit. Und da steht fest: Um so wütender und kompromissloser am Zaun gewackelt werden wird, desto deutlicher werden die Forderungen verstanden werden.

In diesem Sinne: BLOCK G 8! Oder wie es in Argentinien hieß: ¡Que se vayan todos! Sie sollen alle verschwinden!

Raul Zelik, geboren 1968 in München, lebt als Schriftsteller in Berlin. In diesen Tagen erscheint beim Verlag blumenbar sein neuer Roman Der bewaffnete Freund.

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