2007-05-21
Die Demokratie braucht wache Demokraten. Bürgerschaftliches Engagement darf deshalb nicht als Untat diskreditiert werden – selbst wenn es in Formen auftritt, die dem Staat eine Menge Arbeit machen.
Ein Kommentar von Heribert Prantl
175 Jahre nach dem Hambacher Fest, nach dieser ersten Großdemonstration der deutschen Demokratie, ist der demokratische Wert der großen Demonstration im Bewusstsein der Sicherheitsbehörden noch immer nicht richtig verankert.
Dreißigtausend Menschen – Liberale, Demokraten, Nationalisten, Brauseköpfe und Revolutionäre – hatten sich damals, im Mai 1832, vor dem Hambacher Schloss versammelt, um die politischen Verhältnisse zu geißeln. 175 Jahre später wollen Globalisierungsgegner beim Gipfel der acht mächtigsten Industrieländer deren Machtpolitik geißeln. Die Reaktion des staatlichen Apparats von heute erinnert noch immer an die Reaktion der Obrigkeit von damals, die mit Sperren, Erlassen, Interdikten, mit Verbot und Verfolgung die Staatssicherheit sichern wollte.
Ruhe ist nicht mehr “erste Bürgerpflicht”
Sicherlich: Deutschland soll sich beim Gipfeltreffen der Welt als sicheres, freundliches, friedliches und friedfertiges Land präsentieren. Es ist sehr in Ordnung, wenn die Sicherheitsbehörden das Ihre dazu beitragen. Es ist aber nicht in Ordnung, wenn zu dem Preis, der für Sicherheit gezahlt werden soll, die Grundrechte gehören.
Ruhe ist nämlich nicht mehr “erste Bürgerpflicht”, wie in vordemokratischen Zeiten. Und der Gehorsam gegenüber den politischen Autoritäten ist nicht mehr deutsche Nationaltugend. Und ein Land ist nicht dann freundlich und friedfertig, wenn es Proteste und Demonstrationen rigoros unterbindet; dann ist es nur still, aber nicht friedlich.
Am morgigen Mittwoch ist der Verfassungstag: Das Grundgesetz wird 58 Jahre alt; es will eine lebendige, eine streitbare Demokratie, es ist eine Grundordnung für ein Land mit couragierten Demokraten. Ein G-8-Gipfel, der das Grundrecht nach Artikel 8 Grundgesetz (GG) abschaltet, wäre kein guter Gipfel – und der russische Präsident Putin hätte dann nicht ganz Unrecht: Er hat der Kanzlerin, die ihn wegen der Verhaftung von Demonstranten attackierte, ein “tu quoque” entgegengehalten – du auch!
Derzeit geschieht in Deutschland, was schon seit Jahrzehnten nicht mehr geschehen ist: Der Staat bringt seine Bürger, er bringt die bürgerliche Mitte gegen sich auf – zum einen mit der Schäubleschen Kaskade von Sicherheitsgesetzen, zum anderen mit der Unverhältnismäßigkeit polizeilicher Mittel im Einsatz gegen Kritiker der herrschenden Politik.
Am Wochenende konnte man in Karlsruhe einigermaßen fassungslos beobachten, wie fünfhundert friedliche Demonstranten vor dem Gebäude der Bundesanwaltschaft von zweihundert Polizisten eingeschüchtert wurden.
Das Bundesverfassungsgericht hat den Sicherheitsbehörden vor 22 Jahren, im Brokdorf-Urteil, das Deeskalationsprinzip in die Handbücher geschrieben. Es verlangt, Proteste in friedliche Bahnen zu lenken; es verbietet der Polizei provozierende Martialitäten; es besagt, dass man den Bürgern ihr Demonstrationsrecht vor Ort nicht nehmen darf, wenn und weil Ausschreitungen Einzelner drohen.
Das Erbe aufregender Zeiten
Und in seiner spektakulären Entscheidung zu den Sitzblockaden hat das höchste Gericht 1995 anerkannt, dass es zivilen Ungehorsam gibt, der nicht strafrechtsrelevant ist. Offensichtlich ist diese Judikatur schon in der räumlichen Nachbarschaft des Gerichts nicht mehr sehr viel wert.
Artikel 8 Grundgesetz, der die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit garantiert, bewahrt das Erbe der aufregenden Zeiten, in denen die deutsche Demokratie vorbereitet und erkämpft worden ist. Dieser Artikel ist das Vermächtnis von Hambach und der Pflichtteil der Revolution von 1849/49.
Damals, als er in der Frankfurter Paulskirche den Wert dieses Grundrechts für die erste demokratische deutsche Verfassung begründete, sagte der Historiker Theodor Mommsen: “Was das freie Versammlungs- und Vereinigungsrecht zu bedeuten hat und wie wichtig es für die Freiheit ist, das weiß ja jedes Kind.” Leider geht dieses Wissen immer wieder verloren.
Es gibt eine Tendenz der Sicherheitspolitik, den friedlichen und den gewalttätigen Protest in einen Topf zu werfen und Widerspruch und Widerstand per se als gefährlich einzustufen. Demokratie braucht aber Zivilcourage; ohne diese Zivilcourage rollte die Globalisierung über die Menschen weg und macht sie platt.
Ein braver Bürger hält das Maul; er schreit nicht, protestiert nicht, wird der Politik nicht lästig: Entgegen anderslautenden Festreden an den Verfassungstagen sieht das auch die Regierungspolitik von heute so. Indes: In den kurzen Zeiten der deutschen Geschichte, in denen Bürgerinnen und Bürger nicht brav waren, haben sie Werke geschaffen, die mehr wert sind, als alle Bravheiten: 1848 die erste demokratische Verfassung, 1988/89 die Wiedervereinigung.
Die deutsche Geschichte hat aber leider demokratische Unruhe nie lange ausgehalten – zum Schaden der Demokratie. Diese fordernde Unruhe, dieser Widerspruch, dieser zivile Widerstand ist die bewegende Kraft, deren der Rechtsstaat und die Demokratie gerade in Zeiten der Globalisierung zu ihrer fortwährenden Erneuerung und damit zur Verhinderung ihrer Entartung bedarf.
Bürgerschaftliches Engagement (auch in solchen Formen, die dem Staat viel Arbeit machen), darf daher nicht als Untat diskreditiert werden. Demokratie braucht wache Demokraten.
(SZ vom 22.5.2007)
[http://www.sueddeutsche.de/deutschland/artikel/207/115092/]