2001-12-22 

Blütenlese aus den Anhörungen vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuß zu Genua

Genoa revisited

Vor dem parlamentarischen Ausschuß in Rom, der den Polizeieinsatz beim G 8-Gipfel in Genua untersucht, flogen letzte Woche die Fetzen. Bei der Anhörung, die auch dazu dienen soll, die Kommandokette zu klären, über die der Befehl zur blutigen Erstürmung der Diazschule gelaufen ist, beschuldigten die drei von Innenminister Scajola geschassten hohen Polizeifunktionäre ihren obersten Chef, die Geheimdienste, das Genoa Social Forum und die römische Sondereinheit der Bereitschaftspolizei. Wer aber jetzt tatsächlich für den Einsatz und dessen Ablauf die Verantwortung tragen soll, bleibt weiterhin unklar...

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Zur Entschädigung enthielten die Aussagen der Beamten dafür einige Überraschungen und Kuriosa. Der nunmehr ehemalige Polizeipräsident von Genua, Francesco Colucci, bestand nämlich darauf, den obersten Chef der italienischen Ordnungshüter, Gianni De Gennaro, persönlich von dem geplanten Einsatz an der Diazschule unterrichtet zu haben. Dieser hatte zuvor immer behauptet, erst im nachhinein davon erfahren zu haben.
Colucci bestätigte auch das anhaltende Gerücht, zwischen den Tute bianche und der Polizei hätte es Absprachen gegeben. In einer Spezialausgabe der Zeitschrift Analisi Difesa, die sich aus der Sicht der Ordnungskräfte monatlich mit Fragen zur militärischen und polizeilichen Sicherheit beschäftigt, konnte man, unabhängig davon, dergleichen auch schon lesen. Demnach habe die Sicherheitsbehörde ihrem Verhandlungspartner Luca Casarini, nach tagelangen Verhandlungen, zugesichert, es vor dem Bahnhof Brignole zu einer gefakten Strassenschlacht mit dem Demonstrationszug der "Ungehorsamen", mit einigen telegenen Festnahmen inklusive, kommen zu lassen. Die Polizei solle, habe Casarini verlangt, dafür Sorge tragen, daß sich die "bösen" Centri Sociali des Network nicht unter die "guten" mischten. Um dergleichen im Vorfeld zu verhindern, wollten die "Guten" ihrerseits bereits am Freitag morgen um 7 Uhr antreten. Sie würden auf 300 für den Kampf gerüstete Polizisten treffen. Beide Teile sollten sich bei ihrer Wrestlingveranstaltung gegenseitig nicht weh tun. Doch leider harrten die 300 Polizeikrieger, wie vormals Leutnant Drago in der Tartarenwüste, bis 14 Uhr vergebens beim vereinbarten Stelldichein aus. Die Tute bianche kamen nicht, und in der Zwischenzeit hatten die Tute nere bereits in halb Genua mit ihren Brandschatzungen begonnen. Soweit die Fachzeitschrift (Analisi Difesa - anno 2 nr 16 www.analisidifesa.com).
In einem Interview mit "il nuovo" beeilte sich Casarini natürlich derlei Vorwürfe zu entkräften. Allerdings in recht zweideutiger Weise. Ein Abkommen mit der Polizei habe es nie gegeben. Er habe nie mit Francesco Colucci oder einen der anderen in Rom angehörten Beamten gesprochen. Alle Vorhaben der Tute bianche - die symbolische Verletzung der roten Zone, die Demonstrationsroute, die Ausrüstung - seien öffentlich angekündigt und gezeigt worden. Es wären die Karabinieri gewesen, die den Zug der Tute bianche in der via Tolemaide, 500 Meter vor den Containern an der Stazione Brignole, bei denen erst die Polizei intervenieren sollte, angegriffen haben. Sie, die Karabinieri, hätten alles über den Haufen geworfen. An diesem Punkt des Gesprächs konnte die Interviewerin nur nachhaken, was denn die Karabinieri über den Haufen geworfen hätten. Etwa doch ein Abkommen? Casarinis Antworten waren durchwegs ausweichend (ilnuovo.it).
Es brauchte schon Ansoino Andreassi, den ebenfalls entlassenen stellvertretenden Polizeichef, der vor dem Parlamentsausschuß sagte, seines Wissens habe es keine Absprachen mit den Tute bianche gegeben. Alles, was die politische Polizei über diese wüssten, stamme von in deren Kreise "eingesickerten Agenten". Der 61jährige Andreassi, der vormals, als Mitglied der Kommunistischen Partei, ein Hardliner im Kampf gegen die Roten Brigaden und die Autonomia gewesen ist, offenbarte ein weiteres, für die Polizei peinliches Detail: Zur Bekämpfung der die Taktik der Tute nere anwendenden Gruppen habe man eine Spezialeinheit angefordert, das Karabinieribataillon "Tuscania", eine Eliteeinheit der Fallschirmjäger (s. jungle world 15/2000). Doch die hätten sich, ohne Stadtplan, in den Strassen Genuas verirrt. Der Anstoß zu dem nächtlichen Einsatz der römischen Spezialeinheit der Bereitschaftspolizei (Noa) in der Diazschule ging jedenfalls von Andreassi aus, mit der Durchführung der Aktion habe er jedoch nichts mehr zu schaffen gehabt.
Noa (Nucleo operativo antisommossa) ist eine mobile Truppe zur Aufstandsbekämpfung, die erst in den letzten Monaten zusammengestellt und in Ponte Galeria, vor den Toren Roms, ausgebildet wurde. Diese Ausbildung beinhaltete auch eine Unterweisung im Gebrauch der neu angeschafften Gummiknüppel, den sog. tonfa, die von zwei eigens aus Los Angeles eingeflogenen Polizeisheriffs erteilt wurde. Auf die Schulter des Chefs dieser Truppe, Vincenzo Canterini, scheint man nun alle Schuld am Polizeimassaker im Hauptquartier des Genoa Social Forum abladen zu wollen.
Arnaldo La Barbera, der Dritte im Bunde der gefeuerten Polizisten, Chef der Antiterrorpolizei Ucigos, erzählte dem Ausschuss, er habe vor Ort an der Diazschule empfunden, die Männer Canterinis wären unmittelbar vor ihrem Einsatz derart unter Strom gestanden, daß er, La Barbera, Canterini abgeraten hätte, sie einzusetzen. Canterini hat bislang stets seine Leute in Schutz genommen und die Exzesse anderen Polizisten, die innerhalb der Schule in Zivil agiert hätten, Kriminalpolizisten oder Leute von der politischen Polizei etwa, angelastet. Wie auch immer: Laut La Barbera tragen die Geheimdienste Sisde und Sismi Schuld an der verworrenen Lage in Genua. Sie hätten nur wenige und dazu völlig unbrauchbare Hinweise weitergegeben.
Alfredo Sabella, der, als Leiter der Gefängnisverwaltungen, auch Vorgesetzter der innerhalb der Bolzanetokaserne prügelnden Spezialeinheit der Gefängnispolizei (Gom) ist, wurde ebenfalls vor dem Ausschuss angehört. Unglaublich, aber wahr: Obwohl Sabella persönlich in Genua zugegen war, hat man ihn dennoch damit beauftragt, die Übergriffe seiner Mannschaft intern zu untersuchen. Er betrachtet die Anwürfe gegen seine Truppe als "Fledderei".
Während also vor dem Parlament schmutzige Wäsche gewaschen wird und dort kaum jemand noch von den Torturen und Blessuren der verhafteten G8-Gegner spricht, hat die Staatsanwaltschaft von Genua die ersten 16 Anzeigen, u.a. wegen Körperverletzung, gegen einige Polizisten vorbereitet, die in der Nacht des 21. August an der fatalen Razzia beteiligt waren. Es handelt sich um 9 Anführer der mobilen Einheiten der Bereitschaftspolizei und um sieben Polizeibeamte. Und am Montag wird im Ausbildungslager an der Ponte Galeria wieder die Aufstandsbekämpfung trainiert. Um sich auf den bevorstehenden Nato-Gipfel in Neapel (oder genauer in Pozzuoli) vorzubereiten, werden aus den 13 in Italien vorhandenen Kasernen der Bereitschaftspolizei jeweils 20 bis 30 Mann nach Rom geschickt. Ihre Ausbilder werden Leute sein, gegen die gerade wegen der Polizeiübergriffe in Genua ermittelt wird.

e.g.

[http://de.indymedia.org/2001/09/7111.shtml]

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