Anwälte: Polizei entmachtete bei G8-Gipfel Justiz

Berliner Zeitung 12. Juni 2007

Beamte sollen Besuch der Gefangenen verhindert haben und brutal vorgangen sein
Andreas Förster

BERLIN. Der Republikanische Anwaltsverein hat schwere Vorwürfe gegen die zum Schutz des G8-Gipfels in Heiligendamm eingesetzten Polizeieinheiten erhoben. Die erkennbar als Angehörige eines “anwaltlichen Notdienstes” bei Demonstrationen eingesetzte Rechtsanwäl- te seien in ihrer Arbeit massiv behindert worden, Beamte hätten sie beleidigt und aggressiv bedrängt, sagte der Berliner Anwalt Ulrich von Klinggräf auf einer Pressekonferenz gestern in Berlin. “Vor und während des G8-Gipfels hat es eine partielle Entmachtung der Justiz durch die Polizei gegeben”, stellte seine Mecklenburger Berufskollegin Verina Speckin fest.

Nach Angaben von Rechtsanwältin Speckin hat die Polizei ihr und ihren Kollegen fast über die gesamte Gipfelwoche hinweg den Zugang zu den in Gefangenensammelstellen inhaftierten Demonstranten versagt. Außerdem sei das Recht auf unverzügliche richterliche Vorstellung der in Gewahrsam genommenen Personen in der großen Mehrheit der Fälle systematisch missachtet worden. “Bei Ingewahrsamnahmen müssen die Betroffenen innerhalb von ein, zwei Stunden dem Richter vorgeführt werden”, sagte Verina Speckin. Eine solche kurzzeitige Inhaftierung in Metallkäfigen sei dann auch vertretbar. “Die meisten aber mussten zehn, zwölf, einige sogar bis zu 24 Stunden und länger in den Käfigen ausharren.”

Die Schilderungen von Betroffenen wiesen zudem auf eine “entmenschlichte Behandlung” der Gefangenen in diesen Sammelstellen hin. “Dies alles vor dem Hintergrund, dass 95 Prozent der Ingewahrsamnahmen sich als rechtswidrig herausstellten”, sagte Anwalt Klinggräf. Die meisten Inhaftierten seien entweder vom Richter freigelassen oder noch vor ihrer Vorführung von den Beamten entlassen worden. “Die wenigsten der Festgenommen hatten Straftaten begangen, sie waren lediglich als Störer der Polizei aufgefallen.”

So seien Personen festgenommen worden, weil sie ein Transparent mit der Aufschrift “Free all prisoners” trugen, als sie auf dem Weg zu einer Demonstration in der Nähe einer Haftanstalt vorbeikamen. Die Polizei wertete dies als Aufforderung zur Gefangenenbefreiung. Zwei andere junge Leute wurden bei einer Spaß-Demo am Strand von Kühlungsborn in Gewahrsam genommen, als sie anfingen, in der Nähe eines Sicherheitszaunes ein Loch in den Sand zu buddeln. Der Vorwurf der Polizei: Die Demonstranten hätten einen Tunnel unter dem Zaun anlegen wollen.

Faustschläge und Drohungen

Nach Angaben der Anwälte sei es bei Festnahmen häufig zu übertriebener Gewaltanwendung insbesondere durch Berliner Beamte gekommen. Auch Anwälte seien geschubst und beleidigt worden. Eine Kollegin, die kürzlich in einem Gerichtsverfahren einen Polizisten im Zeugenstand scharf befragt hatte, sei in der Demonstrationsmenge von Beamten bedroht worden. Man kenne ihren Namen und wisse, dass sie in Potsdam wohne, hätten die Einsatzkräfte zu ihr gesagt. Der Berliner Rechtsanwalt Dietmar Sasse schilderte auf der Pressekonferenz, wie er, obwohl er sich als Anwalt zu erkennen gab, auf einer Demonstration von Polizisten mit Faustschlägen traktiert wurde.

Nach Angaben von Klinggräf haben sich inzwischen mehrere Augenzeugen gemeldet, die das Agieren eines in einer Blockade vor Heiligendamm am Mittwoch enttarnten verdeckten Ermittlers beschreiben konnten. Nach ihren Angaben hat der als militanter Autonome verkleidete Beamte keine Steine geworfen, aber Umstehende zu Gewaltanwendung gegen die Polizei aufgefordert. “Diese Augenzeugen sind auch bereit, entsprechende Aussagen bei den Behörden zu machen”, sagte der Anwalt. Der Polizeichef des Heiligendamm-Einsatzes hatte vergangene Woche den Einsatz verdeckter Ermittler unter Autonomen bestätigt. Er bestritt aber, dass die Beamten bei Demonstrationen als “agent provocateur” Straftaten begangen oder dazu aufgefordert hätten. Sollte es gegenteilige Hinweise geben, sagte der Polizeichef Ermittlungen zu.

Berliner Zeitung, 12.06.2007

http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/print/politik/661190.html