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2009-08-20

„Hört auf zu heulen, es hat gerade erst angefangen...“ - Irrungen und Wirrungen der Solidaritätsarbeit

Irrungen und Wirrungen der Solidaritätsarbeit mit Gefangenen und Angeklagten

Mit unserem Text wollen wir Fragen und Diskussionen provozieren, vor allem bei sich organisierenden Zusammenhängen und Gruppen, die zu sozialen Unruhen aufrufen und Gruppen, die Solidaritätsarbeit mit und für Gefangene und Angeklagte machen.

In den letzten Jahren gibt es eine verstärkte Diskussion um Repression. Scheinbar immer neue Stufen der Eskalation werden erkannt und beschrieben. Wir denken, dass wir es nicht mit einer neuen, höheren Stufe der Repression zu tun haben. Verändert und erweitert haben sich die Mittel der Repressionsorgane, auch auf Grund der verbesserten technischen Möglichkeiten (zum Beispiel: DNA-Analysen, Digitalisierung der Telefontechnik und damit leichtere Überwachung dieser). Paragrafen wurden den veränderten Bedingungen angepasst (auch international) und neue Feindbilder geschaffen. Insgesamt gab es aber unserer Meinung nach in Deutschland nach 1968 Zeiten, in denen die Repressionsorgane viel stärker agiert haben als heute.

Tchibo

Wir gehen von dem Grundsatz aus, dass wenn es Widerstand und Revolten gibt, der Staat mit all seinen Instrumenten darauf reagieren wird. Und es kann nicht sein, dass wir heulen, wenn der Staat unsere Statements ernst nimmt und sicherlich oft viel ernster als die meisten Akteur_innen, die sie formulieren. Widerstand und Revolution ist kein Spielplatz, auf dem wir unsere Energien ausleben können und uns dann wundern wenn es weh tut. Wenn mit Parolen und Praxen kokettiert wird, wenn wir uns nicht darüber im Klaren sind, dass der Staat auf militante Demonstrationen, auf klandestine Organisierung mit einem Gegenangriff reagiert, dann sollten wir diese Praxen sein lassen. Anders ausgedrückt: Wenn „wir“ angreifen, mit welchen Mitteln und Formen auch immer, wird der Staat zurückschlagen. Dies ist kein Zufall sondern, so banal es klingen mag, Normalität.

Wenn Menschen innerhalb unserer Kämpfe verhaftet werden und in den Knast kommen, wenn sie mit Verfahren überzogen werden, dann muss die Bewegung solidarisch reagieren. Eine Bewegung, die sich nicht um „ihre“ Gefangenen kümmert und nicht solidarisch handelt ist politisch „tot“.

Gruppen organisieren Demos, zum Beispiel das 1. Mai-Bündnis. Die Mobilisierung über Plakate und andere Medien „verspricht“ Riots und zielt auf soziale Unruhen. Für uns gehört in diesem Moment auch dazu, vorher über Repression aufzuklären, nicht um abzuschrecken, sondern um selbstbewusst handeln zu können. Kommt es dann zu Ansätzen der propagierten Unruhen, in deren Folge Leute einfahren oder mit Verfahren überzogen werden, halten sich dieselben Gruppen zurück oder verhalten sich im schlimmsten Fall überhaupt nicht.

Uns stört dieses unsolidarische Verhalten auch bei einigen Antifa-Gruppen, die mit radikalen Plakaten zu Gegenaktivitäten zum nächsten Nazi-Aufmarsch aufrufen, und dann die Schnauze halten, wenn es hart auf hart kommt; Genoss_innen dafür einfahren. Hier sehen wir einen Widerspruch, denn zu radikaler Selbstdarstellung und miltantem Agieren gehört auch ein offensives Verhalten, wenn es zu Repression kommt.

Solidarität ist eine Stärke, aber nicht jede Solidarität macht wirklich stark.

Politische Solidarität heißt kämpferische Solidarität

Ein Ziel von Repression ist es auch immer, abzuschrecken. Menschen zu zeigen: „Schau her, dein/e Genoss(e)/in sitzt für dies und jenes, du könntest der/die Nächste sein“. Wenn wir uns darauf einlassen, uns also ruhig verhalten, spielen wir dem Staat in die Hände. Was schadet und was nützt den Gefangenen? In der konkreten Arbeit ist das sicherlich oft nicht so einfach zu praktizieren. Aber im Grundsatz gehen wir davon aus, dass es nicht allein um die/den konkreten Gefangenen geht, sondern dass in jeder Inhaftierung von Seiten der Repressionsorgane immer auch der Faktor der Abschreckung und Prävention eine große Rolle spielt. In jedem Artikel in den bürgerlichen Medien können wir nach dem 1. Mai lesen, dass jetzt endlich richtig zurück geschlagen, dass abgeschreckt werden muss. Deshalb meint für uns kämpferische Solidarität, eine in der deutlich wird, welche emanzipatorischen Kämpfe wir führen und welche Ziele wir damit verfolgen.

In einer Solidaritätskampagne muss es primär um die Fragen unseres Kampfes gehen, warum intervenieren wir an diesen Punkten und worin besteht die Notwendigkeit dieser Kämpfe? Es muss doch immer darum gehen, die kriminalisierten Themen aufzugreifen. Diese Kämpfe fortzuführen. Der Staat greift diese an, weil sie stören. Was gibt es besseres, als diese zu stärken und zu verbreitern?

Solidarität besteht aus zwei Faktoren: Einmal die ganz konkrete zu den Gefangenen, nämlich in der Organisierung von Geld, Büchern, Klamotten und ähnlichem. Das ist sicherlich die undankbarste Aufgabe und, wie die Soligruppe zu Christian S. schreibt, der Part, bei dem am wenigsten Blumen zu gewinnen sind.

Der zweite Part ist die kämpferische Solidarität. Diese scheint schädlich zu sein, wenn mensch einigen Anwält_innen, Angehörigen und Genoss_innen Glauben schenkt. Diese Einschätzung geht von der Hoffnung aus, wenn mensch nach einer Verhaftung den Kopf in den Sand steckt (sich nicht politisch äußert, keine Knastkundgebung will), dann kann mensch nicht soviel passieren. Eine Haltung, die sich auch nach der konkreten Inhaftierung fortsetzt, in der Art wie die Prozesse geführt werden: Mit Einlassungen, Aussagen, Reue, dass es eben alles nicht so gemeint war. Leider werden Prozesse mittlerweile in den seltensten Fällen auf politische Weise geführt, d.h. auf offensive Art, sei es mit Erklärungen oder bewusstem Schweigen, unsere nachhaltige Ablehnung diesem System gegenüber auszudrücken. Also: Die Verteidigung unserer Ideen auf allen Ebenen und in jedem Terrain, in dem wir uns bewegen.

Unschuldskampagnen und Verteidigungsstrategien

Wir denken, dass die Frage nach Schuld oder Unschuld in unseren Kreisen nichts zu suchen hat. Bei allen Diskussionen zu Solidaritätsarbeit für Gefangene wird sie dennoch immer fix gestellt. Folgen wir damit nicht einer Rechtsstaatslogik, die wir eigentlich ablehnen? Der Schwerpunkt sollte doch darauf gelegt werden, in welchem Kontext Leute einfahren, was sie wollen und wofür sie sich einsetzen.

Als Matti in Berlin auf Grund der Aussagen von Faschos verhaftet worden ist, ging die Kampagne hauptsächlich um die Unschuld von Matti (http://www.freiheitfuermatti. com/). Was wäre aber, wenn Matti im Sinne des Gesetzes schuldig gewesen wäre? Was machen wir mit der Notwendigkeit des Angriffs auf faschistische Strukturen und jemand von uns wird dabei verhaftet, und wir haben keinen Spielraum für die Frage von Schuld oder Unschuld? Wer hat die Definitionshoheit über die Frage von Schuld? Wie soll eine Kampagne zu „Schuldigen“ funktionieren oder wenn die Gefangenen sich nicht in diese Kategorien pressen lassen wollen? Sind sie dann Märtyrer? Oder wie sieht es aus? Warum werden aus kämpfenden Subjekten Opfer gemacht? Warum gab es bei Matti nicht eine offensive Kampagne dafür faschistische Strukturen mit allen Mitteln zu zerschlagen? Warum wird die Notwendigkeit verschwiegen?

Ein anderes Beispiel der letzten Zeit ist die Unschuldskampagne für Andrej H. vs. „die drei Schuldigen“. In dem noch laufenden MG-Verfahren wurden zunächst sieben Aktivisten beschuldigt, für Andrej H. wurde mit Hilfe seiner Universitätslaufbahn und Anstellung an der Uni eine Unschulds-Kampagne de Luxe geführt. Prominente und Wissenschaftler_innen in der ganzen Welt forderten bemühten sich seine Unschuld medienwirksam zu beteuern. Ein positives Beispiel für eine offensive Solidaritäts-Kampagne ist hingegen die Kampagne für die drei anderen Beschuldigten im MG- Verfahren. Sie sollen beim Brandsätze legen unter Bundeswehrautos erwischt worden sein. Parallel zu ihren Prozess führten verschiedene Solidaritätsgruppen und Zusammenhängen eine offensive Kampagne für die weitere Sabotage und Zerstörung militärischer Infrastruktur durch (http://einstellung.so36.net).

2002 gab es einiges Entsetzen bzgl. der Verfahren gegen die Revolutionären Zellen. Auf eine offensive Verteidigung der Politik der RZ wurde im Prozess verzichtet. Von fünf Personen, die als Mitglieder der RZ beschuldigt wurden machten drei Einlassungen mit einem begrenzten Schuldeingeständnis, um mit einem blauen Auge wegzukommen. Einen Gegenpol bildeten einzig einige sehr gut besuchte Veranstaltungen zu Geschichte und Kämpfen der RZ. 2009 ein weiteres Trauerspiel: Thomas K. bekam zwei Jahre Freiheitsstrafe auf Bewährung wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Verteidigung, Gericht und Bundesanwaltschaft hatten in einem Deal zuvor ausgehandelt, dass wenn er in einer Einlassung zu gibt Mitglied der RZ gewesen zu sein und gewisse Aufgaben übernommen zu haben, der Vorwurf der Rädelsführerschaft fallengelassen wird, für die das Gesetz immer Knast vorschreibt. (http://www.freilassung.de/prozess/thomas.htm)

Wie kann es sein, dass Menschen militante Politik machen, Knast riskieren und dann 18 Jahre später so einknicken vorm Staat? Anna und Arthur gehen mal kurz einen anderen Weg – den individuell egoistischen?

Glücklicherweise können wir auch hier ein positives und offensives Gegenbeispiel nennen.

Seit Februar 2009 droht Sonja S. (76) und Christian G. (67) von den französischen Behörden an die Bundesrepublik ausgeliefert zu werden. Beide wurden seit 1978 als Mitglieder der RZ gesucht. Im Gegensatz zu den oben genannten RZ-Angeklagten lehnen beide einen Deal ab. Für sie wird es vermutlich nicht so glimpflich ablaufen. Fehlende Reue und mangelnde Kooperationsbereitschaft müssen vom Staat bestraft werden, weil es sonst keine Deals bzw. keine Abschreckung mehr gäbe.

Es könnte im Interesse und der Verantwortung der Antira- und Anti-AKW-Bewegung und so oder so der gesamten Bewegung liegen, sich angesichts der Anklagepunkte einzumischen (http://www.akweb.de/ak_s/ak538/26.htm.).

An diesem Punkt stellt uns die Zusammenarbeit mit Rechtsanwält_innen immer wieder vor Probleme: Deren Interesse für ihre Mandant_innen (geringere Haftzeit, geringere Bestrafung) steht oft im Widerspruch zur politischen Identität der Beschuldigten. Ein schlauer Deal mit dem Gericht erspart manche Strafe; aber welchen Preis muss mensch dafür zahlen? Das muss nicht „böse“ gemeint sein, es entspricht eben ihrer zugewiesenen Rolle im Justizapparat.

Das Argument, das sagt, wenn ich mich im Prozess oder im Knast offensiv verhalte, dann sitze ich länger und deswegen tue ich nichts auf dieser Ebene, weil ich draußen mehr machen kann und dies kein Feld der Auseinandersetzung sein kann – ist die zentrale vermeintliche Antwort auf dieses Problem. Die Parole lautet: Bälle flach und Füße still halten, eine nicht selten vertretene Haltung von Rechtsanwält_innen. Dies bedient die Hoffnung, durch „sauberes“ und „harmloses“ Auftreten mit dem berühmten blauen Auge davonzukommen. Sich für Freigang und eine Haftentlassung nach 2/3 der Freiheitsstrafe einzusetzen, wie es die Christian S. Soligruppe tut (http://prozess.blogsport.de/) ist menschlich verständlich, es ist aber keine kämpferische Haltung, die verdeutlicht, worum es in unseren Kämpfen geht.

Wir denken, dies ist zu kurz gedacht. Okay, ich komme raus auf drei, vier, fünf Jahre Bewährung und muss mich dann an bestimmte vom Staat vorgegebene Regeln halten, sonst gibt es den Bewährungswiderruf, und ich gehe zurück in den Knast. Ich stelle Anträge auf Freigang, weil es beschissen ist im Knast und so wenige andere gefangene Menschen kämpfen, ich bin allein und kann draußen viel mehr machen. Stimmt das? Machen wir mehr, wenn wir die ganze Zeit den Hammer eines Bewährungswiderrufs über uns haben? Kann es für das eigene Rückgrat gesünder sein, auf vorzeitige Haftentlassung zu verzichten? Ist wirklich alles besser als Knast? Knast ist ein Kampfgebiet, der Prozesssaal ist ein Kampfgebiet, wie die entfremdete Arbeit, wie der tote sinnentleerte Alltag, den uns dieses System bietet.

Wir wünschen uns an dieser Stelle eine Diskussion um die verschiedenen Handlungsmöglichkeiten und Solidarität, die es im Knast, außerhalb des Knastes und vor Gericht geben kann. Wir denken, dass es eine Auseinandersetzung geben muss um die Bedingungen, die uns im Knast gesetzt werden, dass wir alle dafür verantwortlich sind, dass diese Diskussion stattfindet, möglichst vor der Situation des Einfahrens.

Es geht uns um eine Debatte, wie unsere Solidarität tatsächlich kämpferisch wird. Es geht uns um eine Kritik an Solidaritätsarbeit, die verschweigt, wofür wir kämpfen.

Gruppe SDB Solidarischer Diskussionsbedarf

PS: Wir würden gerne die Diskussionen in der INTERIM in Berlin und der ZECK in Hamburg führen, falls ihr keine Möglichkeiten habt diese zu erreichen schickt eure Beiträge zu folgender Email: bedarf.solidarischerdiskussion@googlemail.com.

Source: http://einstellung.so36.net/de/soli/1524