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2007-05-04

Rodrigo Nunes: Nichts, was Demokratie gleichkäme

Zugangsoffenheit, Horizontalität und die Bewegung der Bewegungen

(Übersetzung: Winnie Medina)

Im Zentrum vieler politischen Debatten um die Organisierung des Widerstands gegen den globalen Kapitalismus standen in den letzten zehn Jahren vernetzte, horizontale Organisationsformen, die oftmals entweder – von ihren GegnerInnen – als Beschränkung, oder – von ihren BefürworterInnen – als Lösung der Probleme gehandelt wurden.

Das hat unglücklicherweise dazu geführt, dass Kritik, die von „innen“ kam – also z.B. von denen, die Erfahrung mit dieser Organisationsform haben und ein generelles Vertrauen in sie teilen – viel seltener geäußert wurde als die Kritik von „Partisanen“ anderer Organisationsformen.

Daher gab es viel plumpe Zurückweisung und Triumphalismus, aber wenig Diskussionen von Ärgernissen und Frustrationen, die, wie es scheint, weit verbreitet sind. Dies ist ein Problem, das nur noch von der vielfach anzutreffenden Meinung übertroffen wird, Horizontalität müsse gegen Abweichler verteidigt werden.

Es geht bei diesem Papier um den Versuch, der internen Kritik weiter nachzugehen. Dabei fasst der Text eine Entmystifizierung von Zugangsoffenheit und horizontaler Organisationsform ins Auge und zeigt, wie bei dieser Kritik der Kontext oftmals vollkommen unberücksichtigt bleibt. Zudem befasst er sich mit selbstbezogenen (inhärenten) Widersprüchen und Sackgassen.

Es geht dabei nicht darum, sich in einer anderen Debatte zu engagieren, die entlang der Linien von ‚mehr’ oder ‚weniger’ Horizontalität oder dem Gegeneinander von Horizontalität und Vertikalität verläuft. Die Idee besteht eher darin, diese Problematisierung der Begriffe zu erweisen, und indem ihre problematische Natur anerkannt wird, für eine demokratische Praxis zu argumentieren, die diese Natur direkt angreift.

Shut them down

1. Vor der Zugangsoffenheit und Horizontalität war: Zugangsoffenheit und Horizontalität

Man kann mit der Frage beginnen, warum offener Zugang und horizontale Organisationsformen in jüngster Zeit so zentral geworden sind.

Darauf scheint es zwei mögliche Antworten zu geben. Die erste betrifft die wachsende Enttäuschung über den real existierenden Sozialismus, die mit den Ereignissen von 1968 aufkam und sehr präsent (und vermehrt) in progressiven Bewegungen in der ganzen Welt artikuliert wurde. Diese Enttäuschung kulminierte mit der Bestürzung und dem fahlen Nachgeschmack der Gleichgültigkeit, als diese Regime circa 1989 in sich zusammenfielen.

Dieser Sichtweise zufolge haben wir einen Lernprozess durchlaufen, in dem die osteuropäischen Lektionen – deren Fehler praktisch oder theoretisch fast überall durch die Arbeit der Kommunistischen und Sozialistischen Parteien aller Schattierungen allgemein zur Anwendung kamen – gelernt wurden. Sie haben Wellen von Menschen nach sich gezogen, die für soziale Veränderung gekämpft haben – und sich dessen, was es zu vermeiden gilt, bewusst sind, auch wenn es noch im Dunkeln liegt. Andere waren allerdings einfach enttäuscht, weil sie wussten, was möglich wäre.

Obwohl dieser Prozess unbestreitbar ist, kann er allein die Bewegung hin zu einer offenen und horizontalen Organisierung der Kämpfe in den letzten Jahren nicht erklären. Eine bessere Erklärung gibt das Aufkommen von identitärer Politik, monothematischen Kampagnen, NGOs ab und/oder der schiere Rückzug vieler Leute angesichts der Vorstellung, dass die Welt so wie sie ist/war, unveränderlich sei. Desweiteren kommt der neoliberale Standpunkt, den viele linke Parteien und Gewerkschaften einnehmen, hinzu.

Was hinsichtlich dieses ‚Aufkommens’ von Offenheit und Horizontalität bedeutsam ist, ist nicht, dass durch sie eine totale Organisationstheorie von einer anderen ersetzt würde – das hätte erklären können, warum bestimmte Leute sie hoch schätzten. Nein, bedeutsam ist die Tatsache, dass etwas wie ein „Netzwerk“ heute einen Platz im Vokabular und in der Praxis von Organisationen und Firmen hat, die dennoch hierarchisch bleiben. Anders ausgedrückt: Das Bedeutsame ist nicht, dass diese Ideen wichtig geworden sind, sondern dass sie praktiziert werden. Selbst wenn wir sagen, dass Zugangsoffenheit und horizontale Organisationsformen eine neue Ideologie sind – und zwar eine allgemeine – existiert diese Ideologie als solche nur, weil sie in großem Umfang materiell möglich wurde bzw. in der Wahrnehmung als materiell möglich angesehen wird.

Der Schwerpunkt der Antwort muss sich also darauf beziehen, dass es sich um einen materiellen Prozess handelt. Eine aktuelle Sichtweise auf diesen Prozess setzt ihn mit einer Restrukturierung der am weitesten entwickelten Sektoren des Kapitalismus gleich (welcher, wie argumentiert wird, aus einer Hegemonie entstanden ist, die alle anderen Sektoren restrukturiert), was gemeinhin als die Entwicklung vom Fordismus zum Post-Fordismus bezeichnet wird. Diese Entwicklung ist durch zwei Prozesse charakterisiert: Zunächst eine Veränderung in der Beziehung zwischen dem Produktionsprozess auf der einen Seite und dem, was auf der anderen Seite, wie angenommen wird, außerhalb des Produktionsprozesses liegt: Konsum, Marktanalyse, ‚marketmaking’, ‚customer-relations’ . Sodann die „Vereinzelung“ des Produkts:

„Wir sind heute Zeugen davon, dass es sich nicht um einen wirklichen Wachstum der Dienstleistungen handelt, sondern eher um die Entwicklung der ‚Dienstbeziehungen’. Die Bewegung über die Tayloristische Organisierung von Dienstleistungen wird durch Einbezug des Verhältnisses von Produktion und Konsum charakterisiert, wo de facto der Konsument auf aktive Weise in die Zusammenstellung des Produkts interveniert. Das Produkt ‚Dienstleistung’ wird eine soziale Konstruktion und ein sozialer Prozess von ‚Konzeption’ und Innovation. […] Die Veränderung in diesem Verhältnis von Produkt und Konsum hat direkte Konsequenzen für die Organisierung der Tayloristischen Produktionsarbeit von Dienstleistungen, weil es beides infrage stellt: den Inhalt der Arbeit und die Aufteilung der Arbeit (und daher verliert das Verhältnis zwischen Konzeptionierung und Ausführung ihren einseitigen Charakter).

Diese Transformation ist andererseits nur möglich durch die Sozialisierung der materiellen Mittel, durch welche dieses neue Verhältnis von Produkt und Konsum etabliert werden kann – z.B. der Kommunikationsmittel. Das Internet fügt also eine weitere Ebene zu diesem Prozess hinzu, indem es multipolare (‚viele-zu-vielen’) Produktionsmittel bietet, die die Zirkulation von Inhalt(en) ermöglichen. Ein ‚einer-zu-vielen’ -Medium wie Fernsehen (obgleich TV-Sender ihre eigene viele-zu-vielen-Medien über Untersuchungen, Umfragen und Beobachtungen des Zuschauerverhaltens schaffen) steht dazu im Gegensatz.

Die umfassende Vermassung dieser Medien und insbesondere des multipolaren Internets ist folglich der hauptsächliche materielle Grund für die ‚Renaissance’ von Zugangsoffenheit und horizontaler Organisationsform. Nur vor dem Horizont des sozialen Lebens, das vernetzt wurde, konnte die ‚Politik der Vernetzung’ also solche entstehen. Und nur in der Politik der Vernetzung können Zugangsoffenheit und Horizontalität als Ziel aufscheinen.

‚Netzwerke’ sowie ‚Open Spaces’ sind also von Natur aus doppeldeutig. Einerseits sind sie das, was wir als Voraussetzung für die Möglichkeit ansehen können, horizontale Organisierung herzustellen – das Mittel, mit dem sie erreicht werden kann. Andererseits sind sie nur schrittweise Aktualisierungen der Idee, die sie ermöglichen. Sie ermöglichen diese Idee nicht nur für einen Moment, sondern auch als Idee, weil die Verwirklichung von Horizontalität als Mittel und Zweck nur innerhalb eines Politikbereichs der Vernetzung und der „open spaces“ möglich ist.

Das Gesagte soll nicht in Abrede stellen, dass viele soziale und politische Gruppen in der Vergangenheit offene und horizontale Arten der Organisierung praktiziert haben. Obwohl das natürlich stimmt, sahen diese Gruppen sich immer mit der praktischen Unmöglichkeit konfrontiert, dieses interne Verhältnis auf die ganze Gesellschaft oder eine größere Anzahl von Leuten auszuweiten – weil die materiellen Mittel fehlten, dies zu tun. Solche Gruppen konnten Zugangsoffenheit und Horizontalität als wünschenswerte Zukunft, die gewissermaßen durch eschatologisch-argumentative Hilfsmittel erreicht werden könne, vorschlagen, so wie z.B. das „Ende der Geschichte“ in der klassenlosen Gesellschaft des Kommunismus.

Konfrontiert mit diesen materiellen Einschränkungen musste Horizontalität ‚klein bleiben’, und konnte nur in einem ‚Marsch der Geschichte’ ‚groß gedacht’ werden. Das bedeutsame an heutiger Horizontalität ist nun, dass die materiellen Voraussetzungen für seine Existenz, zumindest potenziell, in der Gegenwart als gegeben angenommen werden können.

Das erklärt die Betonung auf Horizontalität als Mittel und Zweck: durch das horizontale Arbeiten entwickeln wir horizontale Formen der Kooperation. Wir entwickeln also mit anderen Worten beides: die sehr soziale Fabrik, die wir produzieren wollen, und die Mittel, mit der sie geschaffen werden kann. Organisation und Politik fallen zusammen. In der Vergangenheit war die Nicht-Trennung von Mitteln und Zwecken ein prinzipieller Punkt bzw. Ideologie. Jetzt ist sie nur mehr eine Frage der Praxis.

Durch die Ausbreitung der Kommunikationsmedien sowie dem Internet – und den Tugenden seiner Multipolarität, und insbesondere weil die Voraussetzungen dafür gegeben scheinen, unter denen ein solcher Prozess möglich ist – ist es kein Wunder, dass die Modelle der Vernetzung, Offenheit und Horizontalität, mit denen wir arbeiten, längst von diesen hergeleitet wurden. Es ist bereits ein Gemeinplatz, auf die Praxis der Free- und Open-Source-Software-Gemeinden, die die „Avantgarde“ als werdende Demokratie bilden, hinzuweisen.

2. Offenheit und Horizontalität – und ihre Widersprüche

Dies, so muss es gesagt werden, ist die Ideologie von Offenheit und Horizontalität. Es ist eine Art, die Gegenwart auszuwerten und Verbindungslinien wahrzunehmen, anhand derer die Zukunft konstruiert werden kann. Die Ideologie ist demnach zweitrangig gegenüber der Existenz der Gegenwart selbst, z.B. den existierenden Praktiken von Zugangsoffenheit und horizontaler Organisationsform und ihren aktuellen Voraussetzungen gegenüber. Diese Unterscheidung ist wichtig: sie beleuchtet die Tatsache, dass es die konkreten Praktiken sind, die die Voraussetzungen für die Möglichkeiten schaffen, in denen Ideologie produziert wird. Daher kann die Ideologie nur eine theoretische Produktion sein, die die gleiche Situation und die gleichen Grenzen teilt wie die Praktiken.

„Darum ist die Theorie nicht der Ausdruck, die Übersetzung, die Anwendung einer Praxis; sie ist selbst eine Praxis. Aber eine lokale und regionale Praxis, die […] nicht totalisiert. […] Ja, eine Theorie ist ein Instrumentarium: sie hat nicht zu bedeuten, sie hat zu funktionieren. Und zwar nicht nur für sich selbst“ (Gespräch zwischen Michel Foucault und Gilles Deleuze: Die Intellektuellen und die Macht. In Subversion des Wissens, S. 108).

2.1 Eine oder viele Horizontalitäten? Abhängigkeiten vom materiellen Kontext?

Um es noch mal zu sagen: es geht hier nicht darum, zu behaupten: ‚Horizontalität ist etwas, dass Leuten mit Internet-Anschluss passiert’ . Sondern darum, den Unterschied von einem Modell, das aus bestimmten Praktiken entspringt, zu dem, das aus unterschiedlichen entspringt, zu betonen. Mit anderen Worten: Es kann viele Horizontalitäten geben.

Aus diesem Grund leidet die Verallgemeinerung bestimmter Ideen von Zugangsoffenheit und Horizontalität genau an dem Problem der Abstrahierung dieser Ideen von ihrem materiellen Hintergrund. Von welcher Art Horizontalität können wir sprechen, wenn wir uns auf eine soziale Bewegung wie die brasilianische Landlosenbewegung (Movimento Sim Terra, MST) beziehen? Sie hat über eine Million Mitglieder, von denen viele Analphabeten (trotz Anstrengungen der „Volksbildung“) sind, haben kaum Zugang zu irgendwelchen Kommunikationsmitteln, besitzen (anders als die Zapatisten) keinerlei territoriale Autonomie und sind von einer andauernden Kampagne der Kriminalisierung durch die Medien betroffen und den Attacken der Handlanger der Land- bzw. Großgrundbesitzer ausgesetzt.

Es ist wahr, dass die Bewegung stark vom Marxismus-Leninismus beeinflusst ist; aber das hält uns nicht davon ab, danach zu fragen, welche Form der Horizontalität sie hat bzw. haben könnte.

Die Probleme, ein Modell anzuwenden, werden klar, indem wir die fünf „Arten, mit denen anerkannte Zugangsoffenheit“, die in den Communities der freien und offenen Software-Quellen gelten, praktisch mit spezifischen Momenten in der Organisation der sozialen Bewegung’ korrespondieren, die von Jamie King aufgelistet wurden: die Organisation von Treffen und Diskussionen; ihre Dokumentation; Entscheidungsfindung; die Organisation von Demonstrationen; und die Organisation von Aktionen.

Die MST nimmt als Bewegung (d.h. mittels ihrer Führung) an der globalen Vernetzung durch Via Campesina und das Weltsozialforum teil. Viele der materiellen Voraussetzungen, die vernetzte Politik zumindest in Europa ermöglichen, stehen der überwältigen Mehrheit ihrer Mitglieder nicht zur Verfügung: zeitliche Flexibilität, hohe Mobilität, Beherrschen von Fremdsprachen, technisches Verständnis, Zugang zu Kommunikationsmitteln und insbesondere das Internet. Im umgekehrten Verhältnis dazu steht die Frustration, die viele Leute spüren, die an so etwas wie einem Sozialforum (oder einem der Folgetreffen) teilnehmen: Die Zurkenntnisnahme der Existenz einer beschränkten Anzahl von ‚Hyperaktivisten’, die in all diesen Vernetzungsräumen anwesend sein können. (Natürlich ist jemand, der dies aus erster Hand zur Kenntnis nimmt, bereits Teil dieser Gruppe!). Das ist der Moment, wo die real existierende Vernetzung gegen die real existierenden Unterschiede der materiellen Voraussetzungen der ‚erweiterten Umwelt’ stößt. Und bei der Fetischisierung eines Modells von Horizontalität wird man auf die gleiche Verpflichtung eingehen müssen, die auch in liberalen Demokratien gemacht wird: die Unterscheidung zwischen ‚formaler’ und ‚materieller’ Demokratie bzw. dem Zugang zu ihr.

2.2. Zweiter Widerspruch: SupernetzwerkerIn

Ein Geist geht in der Netzwerk-Politik um: der Geist der SupernetzwerkerIn. Da Netzwerkpolitik auf Kommunikationsfluss beruht, kann der/die SupernetzwerkerIn als eine Person betrachtet werden, die „nicht mehr nur die faire Verteilung des Informationsflusses regelt, sondern auch aktiv den ‚Inhalt’ bestimmt, der darüber vermittelt wird“. Die Definition verweist bereits auf eine der Eigenschaften eine/r SupernetzwerkerIn: der der Hyperkonnektivität. Anders ausgedrückt: einige Personen sind ‚stärker vernetzt’ als andere, eine Qualität, die von materiellen Bedingungen und den bereits oben beschriebenen (hohe Mobilität, zeitliche Flexibilität etc.) hergeleitet werden kann. Andere Bedingungen sind zufälliger: diejenigen Leute kennen, die in bestimmten Situationen wichtig sind, „schon länger dabei zu sein“, mit anderen befreundet zu sein oder ähnliches. Dazu kämen noch persönliche Attribute wie etwa, einE gute RednerIn zu sein, charismatisch zu sein, etc…

In allen Netzwerken werden diese Charakteristika – die sozusagen außerhalb des Netzwerks selbst stehen – von unterschiedlichen Personen auf unterschiedliche Weise eingesetzt, und der Zufall wird andere Eigenschaften in ähnlich zufälliger Weise verteilen. Daher kann hier sicher gesagt werden, dass es keinen Weg gibt, das Vorkommen von SupernetzwerkerInnen zu verhindern. Es ist auch klar, dass es hierbei nicht um ‚den bösen Willen zur Macht’ geht, sondern um eine Funktion der Art, wie Netzwerke (und Gruppen generell) arbeiten. Man kann beispielsweise eine SupernetzwerkerIn werden als Ergebnis einer kurzzeitigen gruppen- oder aufgabenbezogenen Notwendigkeit oder weil man in der Phase von Hyperkonnektivität eines Netzwerks aktiv ist. Und die Wahrscheinlichkeit, dass diese informellen Hierarchien einen Bodensatz bilden, ist selbstverständlich hoch, weil keine formalen Strukturen in Sicht sind.

Das ist natürlich nur die zeitlich ans Netzwerk angepasste Variante des Prozesses, der in Jo Freemans klassischem Text The Tyranny of Structurelessness über informelle Strukturen innerhalb der amerikanischen feministischen Bewegung beschrieben wurde. Aber ihr resultierender Lösungsansatz ist nicht die Rückkehr zu demokratischem Zentralismus oder der Leninistischen Partei. Sie schlägt stattdessen ein paar Prinzipien, die wir im Kopf behalten sollten, vor, weil sie essentiell für eine demokratische Strukturierung sind und außerdem politisch effektiv. Sie lauten: „Verteilung von Information an jeden so häufig wie möglich“, „gleichen Zugang zu Ressourcen, die von der Gruppe benötigt werden“ und „Rotation der Aufgaben unter den Individuen“. All das sind gängige Praktiken von Gruppen, die sich zu Zugangsoffenheit und Horizontalität bekennen. Wir könnten also sagen, dass sie denen, die diese Prinzipien anwenden und weiterhin über diese Probleme stolpern, nichts zu sagen hat. Aber vielleicht stellen wir die falsche Frage.

2.3. Open Space: Bestimmtheit und Unbestimmtheit

Wenn Netzwerke die ‚permanenten’ Strukturen unseres Modells von Horizontalität sind, dann sind ‚Open Spaces’ („Offene Räume“) dasselbe für kurzzeitige Zusammenkünfte. Aber wie offen ist ein ‚Open Space’ ? Viele von ihnen basieren auf den Hallmarks (Peoples Global Action, Dissent!) oder Prinzipienchartas (Weltsozialforum), die ein Innen und ein Außen definieren. Sie arbeiten also durch Ausschluss. Andere (wie das Caracol Intergalactica – einer der ‚Kieze’ im Internationalen Jugendcamp auf dem Weltsozialforum) funktionieren, erlaubten es den Gruppenidentitäten innerhalb des Organisierungsprozesses ohne so etwas wie Hallmarks oder Chartas zu haben, eine ‚sanfte Ausschluss-Macht’ zu schaffen. Vor dem Caracol Intergalactica 2005 fand z.B. eine Chat-Diskussion statt, in der ein Teilnehmer die Frage aufwarf, ob es die Möglichkeit für die Jugendgruppe der Kommunistischen Partei gäbe, mit zu machen. Es gab einen Konsens darüber, dass eine Unterscheidung unnötig sei, weil die Identität dieser „Räume“ selbst bereits eine Unterscheidung mache. Die eigentliche Idee eines ‚Open Space’ ist widersprüchlich – damit er geöffnet werden kann, muss jemand ihn eröffnen, der/die ihm einen bestimmten Zweck und bestimmte Leute zudenkt. Egal wie offen diese erste Bestimmung ist, erschafft sie immer bereits einen Ausschluss.

Dies führt zu einem größeren Problem: der Tatsache, dass jede Bestimmung einen Ausschluss bedeutet – jedes Mal, wenn „dies ist das Problem“ „hierum geht es“, „das ist es, was wir jetzt tun müssen“ gesagt wird, verengt das die Begriffe der Debatte und schließt deshalb (zumindest als These) Leute aus, die anders denken – so wie es etwa die Hallmarks tun. Als Konsequenz daraus folgt, dass jede Bestimmung eines Ziels, eines Standpunkts, einer Analyse etc. jenseits der ursprünglichen (konstitutiven) Begriffe des Open Space als negativ wahrgenommen werden, weil sie die Vielfalt reduzieren. Diskussionen dieser Art werden nur innerhalb kleiner Bezugsgruppen als machbar betrachtet. Das bedeutet, dass stärker definierte Standpunkte und Strategien zu kleinen Gruppen oder Einzelpersonen gehören, und nicht zur Debatte großer Netzwerke oder Räume. Auf diese Art setzt Horizontalität immer seine eigene Grenze: während damit Entscheidungen in kleinen Gruppen getroffen werden können, ist die Möglichkeit, dasselbe in größeren Gruppen zu tun, sehr gering – und sollte sogar, da das Überstrapazieren von Zielen, Standpunkten etc. eine potenzielle Gefahr für die Vielfalt darstellt – vermieden werden.

2.4. Abhängigkeit vom praktischen Kontext sowie: Die Vielfalt der Taktiken versus Konsensentscheidungsfindung

Die Bewegung, die auf weltweiter Ebene zum ersten Mal in Seattle sichtbar wurde hat, von dort nach hier, verschiedene Lösungen für das Problem gefunden, wie es sich intern dazu verhält, wenn verschiedene Netzwerke aufeinander treffen. Seattle war nicht nur deswegen eine Überraschung, weil Viele zusammenkamen, sondern auch, weil die Natur dieser Zusammenkunft eine breite Koalition von sehr lose zusammenhängenden Gruppen war, deren Interessen als teilweise unterschiedlich angesehen wurden: Sie kamen in einem Prozess der offenen und horizontalen Vernetzung zusammen, ohne vorhergehende Konferenz, einer Debatte um ein Zehn-Punkte-Programm oder irgendetwas ähnlichem. Das war nicht nur der erste Beweis der eigenen Kraft dieser Bewegung, sondern auch die laute und deutliche Bestätigung von Netzwerkpolitik in einer solchen Dimension.

Diese Fähigkeit, mit sehr wenigen anderen Voraussetzungen außer einem gemeinsamen Ziel ad hoc zusammen zu kommen, ist als „(umher-)schwärmen bzw. strömen“ (swarming) beschrieben worden. Diese Schwarmtaktik geschieht, wenn zerstreute Einheiten eines Netzwerks, das aus kleinen (und vielleicht einigen großen) Kräften besteht, sich aus verschiedenen Richtungen einem Ziel nähern. Das übergeordnete Ziel ist dabei, nachhaltig zu pulsieren (sustainable pulsing). Schwarmnetzwerke müssen in der Lage sein, sich schnell und heimlich zu vereinigen und sich dem Ziel zu nähern, sich dann wieder zu verteilen und zu zerstreuen, um sich plötzlich wiederzuvereinigen um einen neuen Impuls zu setzen.

Obwohl AktivistInnen diese Definition geradezu feierlich umsetzten – und die Ironie darin besteht, dass ein Thinktank, der auf militärische Studien spezialisiert ist, sie schriftlich festhält – wird ein wichtiger Bestandteil dieses Modells ständig übersehen: „ein Ziel“. Bei Gipfelprotesten ist dieses Ziel natürlich gegeben – der ganze Protest findet genau so etwas vor, was für ein paar Tage, für die Welt physisch den Kapitalismus darstellt. Wenn der Gipfel vorbei ist, wird die Frage, was es bedeutet, „antikapitalistisch zu sein“, wieder aufgeworfen.

Der Dreh- und Angelpunkt der Schwarmtaktik ist das Prinzip der taktischen Vielfalt. Vorausgesetzt das Ziel (oder der Sinn) ist vorab gegeben, besteht der effektivste Weg, um es zu erreichen und der einzige Weg, die Vielfalt der Ansätze der beteiligten Gruppen zu respektieren, in der Berechtigung jeder Gruppe, ihren eigenen Ansatz zu verfolgen. Das Problem besteht darin, dass dieses Prinzip erreicht wurde als Antwort auf die Frage nach der Schwarmtaktik – wo das Ziel, z.B. bei Gipfelprotesten, bereits gegeben war. Wenn dort, wo es so etwas wie ein Ziel gibt, Einigungen erst hergestellt werden müssen, hilft taktische Vielfalt nicht weiter. Dass die meisten der swarming-Momente dieser Bewegung Gipfelproteste waren, kann dies nicht verbergen. Eigentlich könnte es der Automatismus der bereits gefundenen Lösung sein, der das Weiterbestehen der Gipfelproteste zu der Taktik erklärt, über die die Bewegung zu erkennen ist.

Wir könnten soweit gehen, zu sagen, dass eine Anwendung des Prinzips der taktischen Vielfalt, die zu sehr automatisch funktioniert, im Widerspruch mit dem Prinzip der „Entscheidungsfindung im Konsens“ steht. Es kann immer sein, dass keine Lösung gefunden wird, in dem die Konsens-Form zur Anwendung kommen kann, und man sich dann einfach dazu entscheiden wird, „mit dem Dissens einverstanden zu sein“.

Wenn Unterschiede also nicht absoluter Art sind, ist es der Konsens, der genau die Methode bietet, mit der sie überbrückt werden können, um mit einer neuen Synthese aufzuwarten. Vielleicht ist dieser letzte Widerspruch einfach die praktische Verlängerung des vierten, dem zwischen Bestimmt- und Unbestimmtheit.

3. Die Anti-Globalisierung und ihre Unzulänglichkeiten

Die ersten drei Widersprüche zeigen, wie Horizontalität praktisch und logisch scheitert: a) das Öffnen von Räumen funktioniert über Ausschluss, b) alle Formen externer Faktoren inklusive (wenn auch nicht ausschließlich) materieller Voraussetzungen verzerren horizontale Netzwerke von außerhalb und schaffen Unterschiede zwischen den Knotenpunkten; und c) diese Unterschiede werden wieder durch die Hintertür Hierarchien und informelle Strukturen eingeführt, von denen wir gerne frei sein würden. Die drei letzten Widersprüche weisen auf die Tatsache hin, dass, wenn swarming und das Prinzip der taktischen Vielfalt als ein großer Sieg der Netzwerkpolitiken angesehen wird, es sich möglicherweise um einen handelt, der genau das Gegenteil bewirkt hat – weil die Vielfalt der Taktiken einen größeren Widerspruch zwischen Entscheidungsfindung und Vielfalt aufzeigt: Jedes Mal, wenn etwas entschieden wird, wird die Vielfalt reduziert.

Diese Punkte listen möglicherweise die Frustrationen, die Leute mit Offenheit und Horizontalität praktisch erfahren haben, auf. Auf der einen Seite lebt praktizierte Horizontalität nicht für sich selbst als Ideal, und läuft darauf hinaus, Ausschlüsse und/oder informelle Strukturen und Hierarchien zu bilden. In den E-mail-Diskussionen über die Zukunft von Dissent! und den G8-Gipfelfolgen drückten einige Positionen dieses Gefühl aus: Dissent! sollte nicht weitermachen, weil es den Anforderungen (die politischen und materiellen Bedingungen für das swarming in Schottland) gedient hatte, und jeder Versuch, sich jenseits dessen zu bewegen damit verknüpft wäre, zu einer Art von Proto-Leninistischer Gruppe zu degenerieren, in der sich eine kleine Clique von Leuten hinter den Kulissen bewegt und die Agenda der Bewegung definiert. Oder es hat dazu gedient, die Gipfelmobilisierung zu erleichtern, aber ist bereits an der Anforderung gescheitert, horizontal zu sein, und sollte aus diesem Grund nicht fortgeführt werden.

Auf der anderen Seite (was sowohl als Gegensatz als auch Ergänzung zum ersten Punkt gesehen werden kann), scheint Horizontalität nicht effektiv zu sein: es ist unmöglich, Entscheidungen zu treffen, es ist unmöglich, das ganze Bild zu sehen, und die einzige Sache, zu der es nützlich ist, ist, die swarming-Momente zu erleichtern, bei der viele Gruppen, die sich mit einem Thema befassen (oder viele einzelne Köpfe) ohne Probleme zusammen kommen können, genau weil es nur sehr wenig gibt, was entschieden werden kann. Das konnte in anderen Momenten derselben Email-Debatte gesehen werden: einige Leute hießen die Idee, Dissent! fortzuführen, gut, und machten Vorschläge, auf was man sich als nächstes konzentrieren könne; andere antworteten, dass dies ein Problem dabei sei, Dissent! weiter zu benutzen, weil jedeR versuchen würde, den anderen das eigene Lieblingsthema über zu stülpen, sobald kein G8-Gipfel mehr da sei, um die Aufmerksamkeit der Leute zu einen.

Zwei große Quellen der Frustration und des Unmuts sind zwei der ältesten praktischen Debatten – weil es sich wahrscheinlich um zwei große Nicht-Debatten handelt, die immer Raum einnehmen aber nie wirklich stattfinden – namentlich unser Verhältnis mit den Medien und die Anwendung von körperlicher Gewalt. Diese zwei Ansätze werden, obwohl immer diskutiert, fast durchgängig durch eine Art der Anwendung des Prinzips der taktischen Vielfalt oder durch eine Art Interpretation der konsensualen Entscheidungsfindung geklärt.

In der Praxis bedeutet das, dass ‚Pazifisten’ sich in der ‚Gewalt’ -Debatte geschlagen geben müssen, weil sie das Ziel verfolgen, dass ‚Gewalt’ nicht passiert. Und in der ‚Medien’ -Debatte gibt es den Ausspruch, dass ‚wir nicht mit den Medien sprechen können, weil wir keinen Konsens darüber haben’. Dies erleichterte andererseits das Entstehen von Gruppen und Individuen, die, als sie alleine diejenigen waren, die mit den Medien sprachen, de facto zu Repräsentanten wurden. Aber weil der ganze Punkt von Beginn an in die Vielfalt der Standpunkte gedrückt ist, führt das letztlich zu einer Fetischisierung dessen, was Standpunkte sind – z.B. allgemeine Maximen des Verhaltens die die eine Art Überspannen der Theorie dessen zusammenstellen, was Politik, sozialer Wandel, „Revolution“ usw. ist. Und kaum dazu, was Standpunkt in dieser Situation sein können, also wie allgemeine Maximen die Einzelpersonen und Gruppen in einem besonderen praktischen Kontext angewendet haben. Das ist es, wo das Gefühl zu den Debatten, die genau genommen nicht geführt werden, herrührt: Standpunkte werden von Beginn an als absolut eingenommen, als welche, die keinerlei Beugung durch praktische und situationenabhängige Kontexte erleiden – und tatsächlich vollkommen unzugänglich irgendeiner Debatte gegenüber sind sowie niemals verändert werden können. Daher entwickelt sich dies zu einer Frage einer Position, die gewinnt, und einer anderen, die verliert, aber dieses Gewinnen/Verlieren kann nicht bestätigt werden, da es schlecht ist, derartige Entscheidungen zu treffen, weil das die Vielfalt reduziert und so weiter und so fort…

„In Seattle nahmen die Debatten über die Taktik oft einen abstrakten Ton an. Die Frage danach, was ‚Gewalt’ ausmache, wurde gestellt, und währen dogmatische Pazifisten die Zerstörung von Eigentum verdammten, versahen andere dies mit einem hohen Bedeutungsgrad für die Sache der Befreiung. Als das ACME-Kollektiv in ihrem Kommunique zum Black Bloc Seattle argumentierte: ‚Wenn wir ein Fenster einschmeißen, zielen wir damit auf die dünne Fassade der Legitimität, die das Recht auf Privatbesitz umgibt. Gleichzeitig treiben wir die Zusammensetzung der gewalttätigen und zerstörerischen sozialen Verhältnisse, mit dem eigentlich alles, was uns umgibt, erfüllt ist, aus.

Insofern diese Debatten auf dem Terrain von Absolutheiten stattfanden, umgingen sie die Frage nach dem Kontext. Diejenigen, die für die Verstärkung von gewaltfreien Richtlinien argumentierten, waren mit einem Kontext konfrontiert, in dem gewaltlose Disziplin nicht länger aufrechterhalten werden konnte und die darauf mit Verdammung und Ausgrenzung reagierten. „Die Revolution, die wir versuchen brauchte und braucht diese Parasiten nicht“ argumentierte ein Aktivist in einem Artikel der Seattle Weekly. Andererseits war die Zerstörung von Privatbesitz oft mit revolutionärem Anti-Kapitalismus verschmolzen. Sie bot einen Weg, „reformistische“ von „revolutionären“ Taktiken scheinbar zu unterscheiden. Die strategische Frage, wann und wo die Zerstörung von Privateigentum effektiv genutzt werden könnte, wurde oft unbeantwortet gelassen“.

Meinungen und große Theorien werden zum Privateigentum von Individuen und kleinen Bezugsgruppen gerechnet, aber dies ist im größeren Maßstab nicht wünschenswert. Da ein substantielles Übereinkommen im größeren Maßstab nicht gewünscht wird, bedeutet dies, das Gruppen und Individuen kaum jemals die Möglichkeit bekommen, in einer praktischen Debatte darüber, was es bedeutet, hin und wieder „aktiv“, herauszufordern und herausgefordert zu werden. Bestenfalls findet eine Debatte spontan statt (oftmals weil etwas dringend entschieden werden muss), und einige werden dabei vielleicht denken: „warum kriegen wir das nicht öfter hin?“ Schlechtestenfalls kann es sich anfühlen, also ob man an einem Treffen von winzigen kommunistischen Grüppchen teilnimmt (jedes mit ihrer Theorie von Revolution, Manifesten, Literatur), die unterschiedlich sind, bloß weil sie dazu in der Lage sind, einmal im Jahr unter der minimalen Bedingung zusammenzukommen, dass sie ‚alle zusammen unterschiedlich’ sein wollen.

Zu diesen beiden internen Problemen – dem Gefühl, das Horizontalität in der Praxis immer fehlschlägt und dem Gefühl, dass sie die Unbeweglichkeit von Ideen und Entscheidungen befördert – kann ein weiteres externes Problem hinzugefügt werden: wie beziehen sich horizontal organisierte Gruppen auf das, was als nicht-horizontal organisiert angesehen wird? Dies ist das horizontale Dilemma: wenn ich horizontale Organisierungsform und Zugangsoffenheit als politische Maßnahmen und Ziele setze, wie kann ich mich auf die beziehen, die dies nicht tun? Wenn ich sie zurückweise, bin ich verschlossen und sektiererisch; wenn ich mit ihnen arbeite, unterstütze ich indirekt hierarchische, vertikale Praktiken.

Wie jedes falsche Problem, existiert auch dieses nur in absoluten Begrifflichkeiten. Wenn Du ‚politische Parteien’ oder ‚Universitäten’ oder irgendetwas anderes in ein Konzept wandelst, das durch bestimmte Eigenschaften, etwa wie hierarchische Strukturen aufzuweisen, definiert ist – und diese Eigenschaft dieses Konzept vom Konzept der horizontalen Organisierung ausschließt, welches im Gegensatz zu Vertikalität und Hierarchie definiert ist – dann erschaffst Du ein konzeptionelles Problem, das schwer zu lösen ist. Aber wenn diese Dinge nicht fetischisiert und in Konzepte gewandelt werden, sondern eher im jeweiligen Kontext, in dem die Beziehung stattfinden oder nicht stattfinden, welche Art von Beziehungen können dann in dieser Situation etabliert werden? Welcher Natur ist die Arbeit, die sie leisten? Wer sind die Leute, mit denen sie arbeiten? Welche Ziele können erreicht werden? Welche Bedingungen sind damit verknüpft?

Die Frage hört dann auf, sich um eine Idee zu drehen, und wird stattdessen ein praktisches Problem, das mehr Information (zumindest als eine Theorie der Organisation und Revolution) und möglicherweise eine praktische Lösung erfordert.

Fetischisierung funktioniert natürlich in beide Richtungen: es ist auch möglich, horizontale Organisierung zu fetischisieren. Das Problem ist, das es zu einem Wort wird – wie ‚Anarchismus’, ‚Sozialismus’ etc. – mit einem normativen Wert, der von allen aktuellen Praktiken und sozialen Kontexten abstrahiert wird. Das Problem der ‚Identifikation mit sich selbst’ – ein Selbstbild zu einer Norm zu wandeln – ist, dass dies die eigenen Fähigkeit, sich zu verändern, einschränkt und zu einem Ideal erstarren lässt, das (für einige soziale Bewegungen) nicht nur die eigene Fähigkeit, zu handeln und Beziehungen mit dem, was anders ist, einzugehen, reduziert, sondern auch blind den eigenen kulturellen, Klassen-, Gender- (u.a.) -kontexten gegenüber wird. Die umgekehrte Seite dieser ‚Selbstidentifikation’ kommt zustande, wenn man sich einmal als eine Minderheit erkannt hat, die gegen eine Mehrheit steht, welche entweder nicht-mobilisiert oder sich selbst mit Kontrolle identifiziert (oder auf gegen Minderheiten, die Alternativen der Kontrolle vorschlagen, wie beispielsweise die Kommunistischen Parteien). Also, wenn man einmal sieht, dass es sehr wenig in der unmittelbaren Umgebung gibt, auf das man sich beziehen kann – und daher das konkrete, unmittelbare Andere durch ein abstraktes Anderes ersetzt wird, das entweder per Definition (‚dies ist eine Mittelklassenbewegung; wenn wir nur die Arbeiterklasse dabei hätten…’ ) oder durch Distanz (der ‚schöne Widerstand’ der Bewegungen im globalen Süden, von denen viele selbst hierarchisch sind) abwesend ist. Was unmittelbar und nah ist, wird, als Ideal, entwertet.

4. Unter dem Netzwerk befindet sich ein Netzwerk

„Der Ursprung dieser Idee lag in einer natürlichen Reaktion gegen die überstrukturierte Gesellschaft in der sich die meisten von uns wiedergefunden haben, die unvermeidliche Kontrolle, die dies anderen über unsere Leben gab, und der kontinuierliche Elitismus der Linken… Die Idee der Strukturlosigkeit hat sich von einer gesunden Gegenstrategie auf diese Tendenzen dazu hinbewegt, eine Göttin mit eigener Daseinsberechtigung zu sein“.

Es ist zu hoffen, dass der vorangegangene Punkt, das entmutigende Bild horizontaler Organisationsform zu zeichnen, nun deutlich wird. Wenn das Konzept darin besteht, wie zuvor gezeigt wurde, widersprüchlich und nicht zu verwirklichen zu sein, gibt es nur einen Weg, der einzuschlagen ist: zu entscheiden, dass es ein falsches Problem ist und es zu begraben. Nichts ist wie Demokratie – horizontale Organisierung ist kein Modell (oder eine Eigenheit, die Dingen vorausgesagt werden kann), sondern eine Praxis. Und als solch eine Praxis bleibt es permanent offen für die Zukunft und für Differenz. Sobald jemand sagt ‚das sieht so aus wie’, schließt derjenige die Tür für alle zukünftigen und unterschiedlichen Dinge, die unter demselben Namen zustande kommen könnten. Hier geht es nicht darum, dass Horizontalität problematisch ist, sondern, dass Demokratie als solche problematisch ist. Und problematisch bedeutet lediglich: dauerhaft offen.

Dadurch, dass wir darüber entscheiden, wie ein ideales Modell sein sollte, erschaffen wir ein überweltliches Bild, das über den aktuellen Praktiken schwebt. Weil von ‚Unreinheiten’ dieser Welt gesäubert, wird es allen möglichen Arten von Zwecken dienen – ideologischer Propaganda, eschatologischen Werkzeugen (‚wenn alle horizontal organisiert sind, wird Horizontalität regieren’ ); rhetorischen Werkzeugen (wenn eine Gruppe einen andere anklagt, nicht horizontal zu sein); absolute Unbestimmtheit (‚je mehr entschieden ist, desto weniger ist es’ ); und im Vergleich dazu alles andere unwichtig wird. In der Zwischenzeit werden wir, zurück in der Immanenz der einzigen Welt, die derzeit existiert, weiter an ihrer Begrenztheit leiden. Indem sie zu diesem transzendenten Ideal werden, können Horizontalität und Offenheit – die selbst Geschäfts- und Managementdiskursen geläufig sind – Liberalismus sehr ähnlich werden. Der Traum von der ‚absoluten Offenheit’ bedeutet, dass Offenheit nur möglich ist, wenn wir von allen konkreten Differenzen abstrahieren.

Nichts, was Offenheit auf grundsätzliche Art widerspricht, kann bejaht werden. Jo Freeman hat Strukturlosigkeit in diesen beiden Aspekten kritisiert: wie sie informell die formell ausgeschlossenen Differenzen erlaubte; und wie durch sie feministische Gruppen eher Effizienz einbüßten. Wir haben gesehen, dass das, was sie daraufhin vorschlug, uns wenig für die heutigen Sackgassen zu sagen hat, weil ihre Vorschläge alle mehr oder weniger zum derzeitigen Repertoire horizontaler Praktiken gehört. Wenn die anderen aktuell zugänglichen Modelle – liberale, repräsentative Demokratie und verschiedene Schattierungen des Leninismus – keines dieser Probleme zu lösen scheinen (und selbst andere Probleme auslösen) und prinzipiell zurückgewiesen werden, was bleibt uns dann noch übrig?

Freeman kann nicht antworten, denn sie hält nach Prinzipien und Mechanismen Ausschau. Da wir über diese mehr oder weniger verfügen und immer noch nicht glücklich damit sind, sollten wir uns nach etwas anderem umsehen. Wenn Horizontalität und Demokratie aufgrund ihrer Natur problematisch sind weil sie sich auf Praktiken und nicht auf Mechanismen beziehen, suchen wir nach einem Ethos – einem ‚Offen-werden’.

Dies ist nicht gleich zu setzen mit der absoluten Unbestimmtheit, niemals irgendein Prinzip oder einen Mechanismus zu produzieren. Im Gegenteil, diese müssen je nach Bedarf hergestellt, reproduziert und dekonstruiert werden. Dissent! zum Beispiel erreichte eine sehr gute Lösung der ewigen Nicht-Debatte über den Umgang mit Medien. Das CounterSpin Collective war möglicherweise eine weitere widersprüchliche Anwendungen des Prinzips der Vielfalt der Taktiken (‚wenn es keinen Konsens darüber gibt, nicht mit den Medien zu sprechen, ist es möglich, mit ihnen zu sprechen’ ), aber es war eine ausführbare und praktische Lösung für das alte Problem, das keinen Verantwortlichen ‚Repräsentanten’ für das Netzwerk benannte, während gleichzeitig ein Kanal für die Leute eingerichtet wurde, die Interviews geben wollten oder einfach Pressemitteilungen verbreiteten. Noch bedeutet es die Fetischisierung von Vielfalt und Differenzen.

Tatsächlich hat sich die Herangehensweise, die Debatten behindert weil ‚Vielfalt in Ruhe gelassen werden muss’ und die so oft gute Möglichkeiten für ein besseres Verständnis von Positionen vergeudet, die kollektive Entwicklung von Synthesen und ein Überhandnehmen von Widersprüchen einen unüberwindlichen Beigeschmack von Liberalismus eingehandelt.

Nicht nur weil sie die Unterschiede als gegeben ansieht, sondern auch, weil sie sie auf individuellen Eigenheiten reduziert, sei es von einer Person oder einer Gruppe.

Dies akzeptiert zwei wesentliche Grundsätze von Liberalismus: erstens, eine unauflösliche Unterscheidung von individuellen und kollektiven Gütern; und zweitens das liberale Konzept der Individualität. Es ignoriert, dass unter und vor jedem politischen Netzwerk oder jeder Gruppe Individuen immer bereits Teil eines größeren Kommunikationsnetzwerks, einer Bedeutung, Erzählungen und Machtverhältnissen des Lebens sind. Es kann daher keine private Meinung geben, ebenso wenig wie es kein privates Individuum geben kann. Michelangelos David ist nur eine besondere Aktualisierung eines Netzes von Themen, Modellen, Techniken, Materialien, Werkzeugen usw., die viel weiter reichen, als der Mann, der ihn geformt hat. Dies zeigt auch die Lüge aller Ideen einer ‚individuellen Revolution’ auf: Die ‚Revolution einer Person’ ist eine Unmöglichkeit weil es keine Aktion gibt, die nicht immer bereits sozial ist. ‚Lokalismus’ muss mehr bedeuten als mit Freunden in einem Haus die Ideale auszuleben, während die Welt draußen, zusammen mit den Nachbarn, in Flammen aufgeht. Dabei geht es hier nicht darum, nach einer Ethik des Opfers oder der Normalisierung zu rufen. Im Gegenteil, ein Ethos der Offenheit würde einer sein, der Plastizität aufweist: damit aufzuhören, ein Individuum zu sein, bedeutet nicht, so zu werden wie alle anderen, sondern die eigenen Fähigkeiten wahrzunehmen, wie man der/die geworden ist, der/die man jetzt ist, und das kontingente daran zu maximieren und damit die Fähigkeit, sich zu anzupassen und zu verändern, zu steigern. Die Idee der Autorenschaft und des Besitzes an kollektiven Prozessen aufzugeben, den eigenen Namen aufzugeben (in einem tieferen Sinn als sich eine Internet-Persönlichkeit zu haben und niemals Angst zu haben, Ja zu Dingen zu sagen, und sie dann noch mal zu revidieren; zu fühlen, wann der richtige Zeitpunkt für eine Intervention da ist, und wann es Zeit ist, die Dinge laufen zu lassen auch wenn man nicht einverstanden ist; Umgangsformen dem Phänomen von SupernetzwerkerInnen zu finden, die es ermöglichen, einen Burn-out einzelner zu vermeiden. Nichts kann weder absolute Unbestimmtheit noch totale Bestimmtheit sein – die Kunst liegt darin, sich zwischen diesen beiden Polen zu bewegen. Es geht darum, dass politische Praxis einer „problematisierenden Offenheit“ zwischen absoluter Offenheit (als Unbestimmtheit) und totaler Geschlossenheit verwirklicht werden sollte.

„[…]Derartige Zielsetzungen benötigen eine fortwährende Entwicklung neuer Organisierungsmodelle, die sich den fortwährend verändernden Situationen anpassen können. Es geht weder darum, einen gemeinsamen Weg des Kampfes oder ein einheitliches Bild oder eine eindimensionale Solidarität, noch darum, eine ostentative Einheit oder eine geheime Subkultur auszudrücken, sondern um das tiefgehende Verständnis und den absoluten Willen, die internen Unterschiede anzuerkennen und flexible Gruppen zu schaffen, bei denen unterschiedliche Ansätze miteinander zum gegenseitigen Nutzen vernünftig verbunden werden. Es geht um politische Kommunikation im besten Sinne: Vernetzung verstanden als situative Verhandlungen, die auf der Möglichkeit basieren, den eigenen Standpunkt als auch den Standpunkt des anderen zu verändern. Dieser Ansatz sucht, eher als der auf einigen fälschlichen Kategorisierungen von Gut und Böse basierenden, die Grundlagen eines vernünftigen und praktischen temporären Zusammengehörigkeit“.

Die Arbeit, soziale Bewegungen und Gruppen zu vernetzen, wird schon eine Weile betrieben – wenn wir dabei bleiben, auf die gleichen Diskussionen zurück zu kommen und sie klingen, als ob sie nie stattgefunden hätten, liegt das daran, gibt das zu Denken. Der erste Schritt dabei, eine Bewegung zu bilden besteht darin, dass man daran glaubt, eine Bewegung zu sein, also etwas was sich aus eigener Bewegung bewegt. Das bedeutet, dass die beiden einzelnen Bedeutungen von Zeit zu Gunsten von einer längeren Dauer relativiert werden müssen, die sich undefiniert zwischen Vergangenheit und Zukunft erstreckt, und die individuelle Bedeutung von Raum zu Gunsten all der unterschiedlichen Positionen, die von eine größere Räumlichkeit besetzt werden oder besetzt werden können, relativiert werden muss. Es ist ein Ethos des vernetzten Individuums, der nötig ist. Dieser muss gleichzeitig darauf achten und davon verändert werden, dass alles auf der Ebene des Netzwerks geschieht und bereit dazu sein, zu erfühlen, welche Räume im Netzwerk besetzt werden könnten und sollten. Das Problem mit traditionellen marxistischen Gruppen ist die Transformation einer Analyse in eine Philosophie der Historie, die eine Praxis begründet. Das bedeutet, dass alles immer in der größeren Totalität dieser Theorie absorbiert werden muss. Es gibt objektive Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung von Geschichte, und die Aufgabe besteht darin, sie richtig zu interpretieren, und dadurch zu identifizieren, worin die richtige Praxis in diesem Moment besteht. Es ist kein Wunder, dass mit einem derartigen Wahrheitsregime alle politischen Anwendungen des Marxismus durch Eigennamen bekannt wurden – Leninismus, Stalinismus, Trotzkismus etc. – die orakelhafte Aufgabe der richtigen Interpretation ist nicht eine, die aufgeteilt werden könnte. Mit Sicherheit geht Vernetzung darüber hinaus, aber es kann nicht einfach die Macht der ‚richtigen Interpretation’ auf Einzelne übergehen, indem alle großangelegten Übereinkünfte verbannt werden während die fetischisierte ‚Vielfalt’ gehegt wird. Eine vernetzte Sensibilität verlangt beides: die Zugangsoffenheit, die das nicht-totalisierbare Ganze eines Netzwerks erspürt und sich dadurch verändern lässt, und die Bestimmtheit, mit der auf Grundlage dieses Ganzen so gehandelt wird, dass es am effektivsten für das Netzwerk ist. Das ist wie ein Lenin und ein Proletarier gleichzeitig zu sein.

5. Diese Revolution, und die nächste

„Ein schwarzer Ballon driftet über den staubigen Zementfußboden, durch eine unsichtbare Zugkraft bewegt. Auf ihm stehen in kleinen, weißen Buchstaben die Worte: „Alles ist mit allem verbunden”.

Aber unter dem Netzwerk befindet sich immer ein Netzwerk. Und auch bereits vor dem Internet, Mobiltelefonen, Radio und digitalem Fernsehen gab es eines. Dies zu sagen, heißt dem transzendentalen Ideal der absoluten Zugangsoffenheit, wo alle Machtverhältnisse aufgelöst sind, ebenso zu bezweifeln wie den Bezug auf die vielleicht größte Sackgasse aller offenen und horizontalen politischen heutigen Netzwerke – die Effektivität.

Der Ansatz dieser Netzwerke kann nicht einfach ihre Ausweitung sein; obwohl es eine Menge Arbeit zu tun gibt, mehr Gruppen über den Globus miteinander zu verbinden. Dieses, was selbst ein utopisches Ziel ist, zu erreichen, würde lediglich versichern, dass alle mobilisierten Gruppen der Welt mehr voneinander wüssten und besser zusammenarbeiten und sich hin und wieder gegenseitig unterstützen und zusammen ausschwärmen würden. Das Netzwerk, dass ‚unterhalb’ dieser politischen Netzwerke besteht, ist das Netz der sozialen Beziehungen, die sich plötzlich reproduzieren und sich selbst jeden Tag ein wenig verändern. Dies ist ein Netz der Machtbeziehungen, im Sinn von ‚Handlung, die auf eine Handlung folgt’, vom Bereiche möglicher Handlungen erschaffen dadurch, dass die Möglichkeit anderer zu handeln ausgeschlossen wird; ‚Herrschaft’ ist nur eine Spezies der größeren Gattung der ‚Machtverhältnisse’. Nachbarn, Eltern, Arbeitskollegen, Angestellte, Busfahrer, Polizeibeamte; jedeR ist dabei, auch die politischen Netzwerke. Alle arbeiten an seiner Reproduktion in diesem oder jenen Sinn, und niemand ist aus diesem Grund notwendigerweise gut oder böse.

Dies macht den oben ausgeführten Ansatz über Individualität wiederum stark. Wenn jede Beziehung eine ‚Handlung, die auf eine Handlung folgt’, ist, gibt es keine Individualität im klassischen Sinn. Der Unterschied zwischen vernetzter Politik und vorangegangenen Formen der politischen Organisation ist, dass sie nicht-lineare Verbindungen über lineare Kulmination stellt – und zwei Dinge verbinden sich niemals, treten niemals in Beziehung, ohne ein drittes Ding zu werden.

Eine Politik der linearen Anhäufung hat viel einfacherer Ziele: der Ansatz besteht darin, sich zu verbreiten, mehr Menschen zu der Sache zu holen, bis es genug sind, um den Winterpalast zu stürmen. Das Schwärmen hat in der Vergangenheit eine wichtige Rolle gespielt und dies wird auch in der Zukunft so sein, aber es scheint sehr unwahrscheinlich, dass es jemals sein ‚anti-kapitalistisches’ Ziel, des, sagen wir, Beenden des Kapitalismus erreichen wird. Selbst wenn es das täte, würden die unmittelbaren Resultate wahrscheinlich nicht sehr von dem abweichen, was nach dem Winterpalast kam. Es ist brutal, fest zu stellen, dass, als die Autoren von Networks and Netwars den ‚Krieg der Zukunft’ beschrieben, die erfolgversprechendsten politischen Organisationen, die sie beschrieben die waren, die als monothematische Kampagnen große Erfolge durch Vernetzung und Schwarm-Taktik erreichten.

Antikapitalistische Gegengipfel sind offenkundig nicht eine Kampagne in diesem Sinn, da sie für sich genommen kein Ziel haben, das übertragbar wäre – weder darauf, ein Gesetz durchzubringen, noch einen Palast zu stürmen oder Wahlen zu gewinnen. Die Lösung besteht darin, dass es nur das gibt, was die Schwarm-Taktik tun kann, und vieles noch zu erfinden bleibt.

Mit der Aufgabe der linearen Anhäufung wurde die Idee, dass es ein Ziel gäbe, aufgegeben. Wenn man einmal ein Ziel hat, dass damit identifiziert werden, durch eine Handlung erreicht zu werden – den Staatsapparat zu übernehmen und ihn benutzen, um den ‚Übergang zu Kommunismus’ zu verkünden – und dieses Ziel damit identifiziert wird als die Vollendung des ganzen Prozesses, betritt man den Bereich des Linearen. Die Geschichte wandert zu einem Ende hin, und die Rolle des ‚Revolutionärs’ besteht darin, dies zu beschleunigen. Eines der zentralen Probleme westlichen Denkens von der Aufklärung bis heute ist das der ‚nächsten Revolution’. Die erste war eine, die die Bedingungen dessen geschaffen hat was wir heute haben: den Staat als Nation, Eigentumsverhältnisse und liberale Demokratie. Den Ansatz der nächsten zu identifizieren, die diese besondere Konfiguration verändert, ist seit jeher das Problem. In dieser Phase ist die lineare Lösung – die einen Punkt als das Ende und dieses Ende mit sich selbst identifiziert – weitestgehend diskreditiert, weil alle ‚Enden der Geschichte’ immer erzwungenermaßen zu Stande kamen und die Geschichte halsstarrig weiterging.

Aus diesem Grund ist die problematische Natur der horizontalen Organisationsform seine Offenheit in Richtung der Zukunft, und seine nicht-Linearität immer hinter jeder Geschlossenheit der Art ‚sieht aus als ob’. Wenn horizontale Bewegungen heute versuchen, eine Geschlossenheit herzustellen, werden sie einfach zurückgelassen werden. Und trotzdem wir den Moment in dem die Konfigurationen der Macht zu dem wurden, was sie jetzt sind, die ‚erste Revolution’ nennen, kann das nicht mit einem singulären Ereignis in der Geschichte gleichgesetzt werden. Es war das Ergebnis einer offenen Entwicklung, die durch die Aufklärung und die bürgerlichen Revolutionen führte und seitdem nicht aufgehört hat, sich selbst zu verändern. Dies ist das Problem mit ‚Kapitalismus’: es ist ein Name, der a posteriori einer historischen Entwicklung gegeben wurde, die immer noch in Bewegung ist, und nicht – wie ‚Kommunismus’ oder ‚Anarchismus’ – die Beschreibung eines erwünschten Ortes ist, an dem die Geschichte zu einem Ende kommt. Wir wissen nicht einmal, was Kapitalismus ist, wie könnten wir also wissen, wie er überwunden werden kann? Dies ist der Grund dafür, dass es jedem besonderen Verständnis davon, was Offenheit und horizontale Organisation bedeuten, nicht erlaubt werden kann, ein neues Dogma zu werden. Es ist klar dass die Ausweitung von politischen Netzwerken, die bereits existieren kein Ziel an sich ist. Diese können nur dadurch effektiv sein – über die Effektivität von Schwärm-Taktik hinaus – indem sie sich selbst in eine eingehende Politisierung sozialer Beziehungen begeben. Das könnte beinhalten, andere, alte Formen der politischen Aktion wieder anzuwenden: Hausbesuche, Nachbarschaftsorganisierung, Community-Projekte. Diese werden wiederum Praktiken beinhalten, auf die von ‚horizontalen’ AktivistInnen herabgeblickt werden könnte – wie Kampagnen, um Gesetze durchzubringen, Lobbyräte, Zusammenarbeit mit religiösen Gruppen, Gewerkschaften etc. Beispiele hierfür können in der Vorbereitung für den G8 in Schottland beim Trapese-Kollektiv gefunden werden, das in und mit akademischen Institutionen, Verhandlungen mit lokalen Gemeinderäten in Stirling und Edinburgh tätig war – was den ländlichen Ort der Zusammenkunft und außerdem die städtischen Campingbereiche ermöglichte. Es ist das Netzwerk, das von Eltern, Nachbarn, Busfahrern, MigrantInnen, geistig Kranke und sogar Polizeibeamten (die Angestellte, Eltern, Nachbarn sind) und natürlich ‚AktivistInnen’ mit allen subjektiven Positionen die sie hier einnehmen konnten – dass horizontale Bewegungen alle Transversalitäten durchfluteten und dazu fähig sind, Veränderung zu bewirken.

Während die Frage, was das bedeuten kann, eine praktische, problematisierende (und daher offene) bleiben muss, ist es möglich zu sagen, was es nicht bedeutet.

Es ist kein mystischer Aufruf an eine ‚Politik der Arbeiterklasse’. Wie oben argumentiert wurde, ist diese Art der Reflektion der ‚Arbeiter’ nicht nur einfach die andere Seite eines Fehlens von Klarheit in der Politik horizontaler Bewegungen (‘ die Wut des Caliban, der sein Gesicht im Glass sieht’), sondern auch empirisch ungenau, wenn man zugrunde legt, dass diese Bewegungen sich einer sozialen Basis entziehen (hauptsächlich der neuer produktiver Subjekte die in dem Prozess der Restrukturierung, der am Anfang beschrieben wurde, entstanden sind). Was das bedeutet ist dass Ansatze die sehr beiden, der produktiven und der politischen Praxis dieser Individuen auf dem Spiel stehen – so wie der Kampf gegen intellektuelles Eigentum – sind relevant für unzählige viele andere Bereicht (genetisch veränderte Organismen, Pharmazeutika, Bildung), und Gemeinsamkeiten müssen zwischen diesen Kämpfen gebaut werden, die über das automatische ‚rent a swarm` (‚Miete-einen-Schwarm’)-Modell der Solidaritätsaktion hinausgehen. Im erschaffen konkreter Beziehungen, werden Subjektivitäten hergestellt die viel mehr sind als die vergegenständlichte Idee des ‚Arbeiters’ oder ‚Aktivisten’.

Es bedeutet keinen ‚Lokalismus’, wenn dies darunter verstanden wird, lokale Räume von und für AktivistInnen herzustellen, egal ob sie soziale Zentren, Zeitungen, etc sind. Obwohl diese Initiativen einen unwiderlegbaren Wert haben, sind sie Werkzeuge, nicht Ziele, und müssen nach ihrer Fähigkeit, Interfaces zwischen Kämpfen und Subjektivitäten zu bilden, betrachtet werden – und nicht nach ihrer quantifizierbaren Fähigkeit, Leute dazu zu bringen, „dem Club beizutreten”.

Schlussendlich bedeutet es nicht, irgendeine der horizontalen Praktiken, die heute existieren, sein zu lassen, sondern sie voran zu treiben und sie neuen Situationen aus zu setzen, neue zu erschaffen und wieder zu erschaffen, auch wenn dabei Fehler gemacht werden. Es ist im Wort ‚Transversalität’ begriffen, dass die Neusortierung von Praktiken die ‚älter’ sind nicht unbedingt bedeutet, in der Geschichte zurück zu gehen und zur alten, marxistisch anmutenden Linearität zurück zu kehren. Der Ansatzpunkt besteht darin, die Kontexte zu finden, in denen horizontale Praktiken Räume erschließen oder neue eröffnen können, neue Situationen antreffen, unterschiedliche Beziehungen dadurch etablieren können, das sie in aktuellen Konfliktlinien identifizieren [identifizierbar sind?], Punkte der Einflusses und konjunkturelle Möglichkeiten die unterschiedliche Kämpfe und Gemeinsamkeiten zwischen dem, was unterschiedlich ist, zu verbinden. Wenn horizontale Organisierungsform bedeutet, Verbindungsfähigkeit über Anhäufung zu stellen, gibt es eine Antwort auf die jahrzehntealte Frage, was zu tun ist: Verbindungen suchen.

http://www.shutthemdown.org/translations_nun.html


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