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2007-07-14

Adriane van Loh: "Ich habe mich in diesen Tagen verändert"

Das sagten mir junge Leute aus unserer Region, die zunächst auf den Camps waren, "um mal zu gucken", dann aber blieben... Ein Teil erzählte mir, dass sie an Aktionen teilnahmen, andere wollten einfach mehr über die Proteste und Motivation von Aktiven erfahren, Menschen kennen lernen, Internationalität erleben. Und sie wollten wissen, wie sich Globalisierungskritiker denn nun eine andere Welt vorstellen und ob und wie sie diese selbst leben. Der Blick für mehr und auch fürs "Anderssein", weg vom Mainstream, hat sich geöffnet. Und da ist jetzt die Erfahrung, dass Geld, Karriere und Angepasstheit nicht gottgegebene Grundwerte der Menschheit in der sog. Zivilgesellschaft sein müssen. Das da noch anderes ist...

Pressefoto

Viele Einwohner, nicht nur unmittelbare Anlieger, schauten mal in die Camps, es gab erstaunte Blicke, Solidarität, Neugier, aber wenig Ablehnung. Nein, die schlimmen Bilder von Rostock am 2. Juni sind nicht das, was blieb im Kreis Bad Doberan.
Am Morgen des 3. Juni sah ich im Zelt der Bundestagsfraktion der Linkspartei, das auf dem Doberaner Camp aufgebaut war, zahlreiche Einheimische, Unternehmer, Verwaltungsbeschäftigte, Künstler, Rentner, Gymnasiasten — eben quer durch. Es überraschte und freute mich gleichermaßen und das Thema bei den Unterhaltungen war durchaus auch die Gewalt, aber nicht ausschließlich und vor allem nicht unkritisch in Bezug auf die staatliche Gewalt.
Der Bürgermeister von Reddelich, der einiges im Vorfeld des Gipfels wagte, als er seine Zustimmung für die Einrichtung eines Camps gab, ist der Meinung, dass es großartig war, einmalig für die Region. Er war täglich im Camp, kannte jede Ecke und auch die Probleme. Und was sagt er nun: "Probleme? Ach, die paar Kleinigkeiten." Bei dem, was hier stattgefunden hat, zeitweise seien 10000 Menschen aus der halben Welt in seiner Gemeinde gewesen, da solle man die Schwierigkeiten mit Augenmaß sehen.
Der Hauptamtsleiter von Bad Doberan meint, er habe das Engagement der Organisatoren und die Disziplin der meisten Demonstranten nur bewundern können. Dass es möglich sei, Aktionen von Tausenden so zu koordinieren, wäre beeindruckend. Er war täglich beim Infopoint auf dem Camp gewesen, und ich hörte von beiden Seiten, dass die Zusammenarbeit klappte, sogar in der Frage der Dixis. Der Kröpeliner Bürgermeister kümmerte sich ebenfalls täglich um "seinen" Infopoint. "Bunte, einfallsreiche Proteste", sagt die Bad Doberaner Bürgervorsteherin.
Das Verbot des Sternmarschs sorgte dafür, dass die Proteste von der Straße auf die Felder gezwungen wurden. Schneisen in den Weizenfeldern — die bringen Verluste und da kann man nicht auf Sympathiekundgebungen hoffen. Bauern arbeiten hart und sind von der Globalisierung betroffen, aber wenn Einkommenseinbußen auf Globalisierungsgegner zurückgehen, na ja.
Das politische Verständnis ist aber da; denn sie fordern Schadensersatz von der Landesregierung. Da gehört‘s wohl auch hin! Denn wenn ich jetzt Kavala als Adressat vorschlage, bleibt‘s das gleiche: Mecklenburg-Vorpommerns Steuergelder werden es letztendlich sein, und wir sind eh ein armes Land.
Ob‘s dem Einzelhandel und dem Tourismus geholfen hat — keine Ahnung. Ich will es nicht grundsätzlich anzweifeln, denn irgendwer wird schon mal ‘ne Zahnbürste gekauft haben. Vollmundige Erklärungen dazu gibt es bereits von Politikern, aber ich denke, da möchte ich abwarten und Zahlen sehen. Aber wenn ihr alle wiederkommt — dann klappt‘s bestimmt mit dem Aufschwung Ost!
Ich denke, dass die Gipfelproteste viele Menschen in der Region zumindest zum Nachdenken gebracht haben.
Die Meisten sind einfach nur froh, dass alles vorbei ist. Gestern war ich in Heiligendamm und hab geguckt, was los ist, ich war auch in anderen "betroffenen" Gebieten. Die Leute erobern sich einfach ihre Strandkörbe, den Strand, die Eisdiele, ihre Spazierwege zurück — es herrscht wieder Frieden. Alles war ziemlich ruhig, kein Trubel, so als hätten alle zunächst Erholung nötig. Der Pavillon für die Gäste und andere staatstragenden Gerüste werden abgerüstet und mir fehlt fast etwas — nirgendwo ist Polizei, nach den Monaten der Belagerung ungewohnt, die sind halt auch erholungsbedürftig.
Die Schlagzeilen in der Ostsee-Zeitung lauten: "Eine Region atmet auf", "Doberan spürte Atem des Aufruhrs", "1200 Meter Stacheldraht weggeräumt". Wochen-, eher monatelang war die Situation hier angespannt, die Polizeipräsenz teils unerträglich, und es wurde von Tag zu Tag heftiger. Die Einschränkungen belasteten den Alltag der Menschen erheblich, dazu kamen die diffusen Ängste vor Gewalttätigkeiten und den "Chaoten".
Birgit Schwebs, Landtagsabgeordnete der Linkspartei, und viele Leute aus der Protestbewegung haben 16 Monate lang Aufklärungs- und Informationsarbeit im Kreis geleistet, unzählige Gespräche geführt, insbesondere mit Gipfelsoli-Aktivisten von Attac und der Camp AG. Das hat nicht unwesentlich zu einer guten Atmosphäre in der Protestwoche beigetragen; denn es gab Verständnis und Solidarität von Einheimischen bei den Blockaden in Börgerende, bei den Infopoints, den Camps in Wichmannsdorf und Reddelich.
In Bad Doberan und im Kreis gab es kaum "zugenagelte" Ecken. In Rostock sieht das anders aus, zumindest geht das aus Berichten und Leserbriefen hervor. Aber ich lebe nicht in Rostock und kann die Situation dort nicht wirklich beurteilen.
Ich danke allen, die die entschlossenen Proteste hierher getragen haben, die ein Stück "große Politik" mitbrachten und manch Entmutigtem im Osten auch zeigten, dass Widerstand möglich ist und wie.

(Bad Doberan, 13. Juni 2007)

[http://www.vsp-vernetzt.de/soz-0707/0707044.htm]